27

 

Die Morgendämmerung sickerte durch die kleinen Fenster. Der Sturm war vorüber. Julia ließ Walter schlafen und zündete ein neues Feuer an. Sie durchstöberte Walters Rucksack, fand einige Papiertaschentücher und ging ins Freie um sich zu erleichtern. Der Himmel war klar und Julias Atem verwandelte sich in weißen Dunst vor ihrem Gesicht.

Eine atemberaubende Aussicht begrüßte sie. Die Hütte stand auf einer Lichtung zwischen zwei Hartholzwäldern und hinter den Bäumen erhob sich ein glatter Fels. Der Bergkamm war der höchste Punkt in der Umgebung. In der Ferne rollten die blauen Berggipfel dahin wie die Wellen eines sanften Meeres. Die saubere, frische Luft weckte Julia vollends und sie genoss den Duft des Waldes.

Walter hatte Recht. Die Widerlinge konnten sie hier nicht erwischen. Das hier war der letzte Außenposten, eine Burg, ein Ort, an dem Probleme und Gefahren nichts zu suchen hatten. Die Wälder waren nicht bedrohlich, sondern bildeten Walle, die den Feinden den Zugang verwehrten. Hier draußen unter dem Himmel fühlte sie sich wie auf Bewährung entlassen aus dem engen Gefängnis ihres Kopfs.

Sie ging zwischen den Bäumen hindurch in die Stille des Waldes. Ein graues Eichhörnchen jagte in den Baumwipfeln umher und sammelte seinen Wintervorrat. Als sie hinter einer Eiche niederkauerte, dachte sie an die vorhergehende Nacht. Walter war ihr erneut zu Hilfe gekommen; er war ihr eigener Ritter ohne Furcht und Tadel. Genau wie in den Gutenachtgeschichten, die ihr Vater erzählt hatte –

„Und was hat Vati sonst noch in deinem Bett getan?“, erklang die Stimme von Dr. Forrest wie aus dem Nichts.

Julia stand auf, zog die schlotterige Jeans hoch, die sie von Walter ausgeliehen hatte, und eilte zur Hütte zurück. Sie befürchtete, dass noch weitere Stimmen aus den Schatten unter der Eiche und dem Hickorybaum schlüpfen könnten. Über dem östlichen Horizont zeigte sich die Sonne wie ein blutbeflecktes Eigelb. Einige blasse Wolkenfetzen waren alles, was vom Sturm übriggeblieben war. Julia schaute die alte Holzabfuhrstraße entlang um sicherzugehen, dass niemand dort war, und ging dann zurück in die Hütte.

Walter war aufgestanden. Er trug seine zerknitterten Kleider und seine Wangen waren von einem Hauch Bartstoppeln bedeckt. „Guten Morgen“, sagte er fröhlich, obwohl seine Stimme vom Schlaf noch heiser war.

„Hallo. Der Sturm ist vorüber.“

„Weiß nicht, ob das gut ist.“ Walter rumpelte im Küchenschrank umher und zog eine zerbeulte Blechkaffeekanne hervor. „Erleichtert ihnen die Suche, falls sie es noch nicht aufgegeben haben.“

„Was meinst du damit?“

„Ich sag’s dir, wenn ich zurückkomme.“

Julia legte einige Scheite auf das Feuer und ging ins Freie, um mehr Holz zu holen. Walter kam mit der Kaffeekanne aus dem Wald zurück. Er hob sie in die Höhe und ein wenig Wasser spritzte über den Rand. „Da hinten befindet sich eine Quelle. Das klarste Wasser, dass du je getrunken hast.“

„Und wir verderben es, indem wir es in Kaffee verwandeln?“

Walter lächelte. Die Sonne auf dem Gesicht und sein zerzaustes Haar ließen ihn jung erscheinen. „Ich würde es Verbessern nennen.“

Ein weicher, rhythmischer Klang füllte die Luft, der jedoch zwischen den Bergen zunehmend lauter wurde. Walter ließ die Kaffeekanne fallen und rannte zum Jeep. Der Motor startete und er fuhr das Fahrzeug rückwärts unter eine Gruppe von Fichten, die ein Dach bildeten. Julia erkannte schließlich das Geräusch und ging in die Hütte hinein, als das Schwirren lauter wurde.

Durch das Fenster beobachtete sie den Helikopter, der Richtung Westen flog. Die Ungeheuer konnten doch keinen so großen Einfluss haben, oder etwa doch? Was wollten sie nur von ihr, das sie dazu brachte, all diese Ressourcen zu mobilisieren? Und wenn sie ihre Angst als Paranoia abtun wollte, war da Walter, der sich unter den Bäumen versteckte und zum Himmel hoch starrte.

Als das Surren leiser wurde, schauten sie einander an.

„Glaubst du, dass es die Gauner waren?“

Er zeigte auf den Schornstein. „Sie hätten den Rauch entdeckt und wären bereits zurück.“

Er hob die Kaffeekanne auf und ging zur Quelle zurück. Julia trat ins Haus und sammelte ihre trockenen Kleider auf dem Ofen ein. Sie zog sich schnell um, bevor Walter zurückkam. Er machte keine Bemerkung darüber, dass sie anders gekleidet war oder dass er bei ihr geschlafen hatte. Es wurde Julia bewusst, dass sie zum ersten Mal neben einem Mann im Bett gelegen hatte, ohne Sex zu haben. Andererseits war Mitchell bislang der einzige Mann gewesen, mit dem sie das Bett geteilt hatte.

Hör auf, ihn mit Mitchell zu vergleichen. Sie sind Welten voneinander entfernt.

Er goss Kaffeepulver in ein Sieb und setzte es auf die Kaffeekanne. Dann hing er die Kanne an einen Metallhaken über das Feuer. „Was ist so komisch?“

„Ich überlege mir nur, auf welche Art ich dieses Mal verrückt werde.“

„Ich habe dir bereits gesagt, dass du nicht verrückt bist. Du bist Meilen von jeder Zivilisation entfernt, hast jede Menge Freizeit, bist mit einem netten Kerl zusammen, der dir eine verdammt gute Tasse Kaffee macht. Was ist daran nicht gut?“

„Du vergisst den Teil, wo Teufelsanbeter meine unsterbliche Seele stehlen wollen.“

„Nun, wäre auch zu schön gewesen, um wahr zu sein.“

Walter holte einige angeschlagene Tassen aus dem Küchenkasten, während sich der Geruch von Kaffee in der Hütte verbreitete. Julia saß beim Feuer und schaute Walter zu.

„Was machen wir jetzt?“, fragte sie.

„Ich nehme an, wir warten.“

„Bis sie uns finden?“

„Wir sollten warten, bis sich die Dinge etwas beruhigt haben.“

„Ich frage mich, was wohl bei meinem Haus geschieht?“

„Kommt darauf an, nach was sie suchen. Vielleicht wollen sie nur dich.“

„Ich verstehe noch immer nicht weshalb.“

„Vielleicht können sie einfach nicht verlieren. Womöglich glauben sie, dass sie die Arbeit zu Ende führen müssen, weil sonst der große, böse Buhmann wütend wird.“ Walter setzte sich neben sie und stellte die Tassen auf den Ofen. Er zog einige Müsliriegel aus dem Rucksack und reichte Julia einen.

„Das passt eigentlich nicht zum Bild des Frühstücks eines ungehobelten Bergbewohners“, sagte Julia.

„Nun, ich sage es zwar nicht gern, aber ich bin nicht gerade ein Mann der Berge. Ich bin nicht einmal ein begeisterter Jäger. Mein Vater hat mich zwar immer hierher mitgenommen und ich musste mit einem Gewehr hinter ihm her stolpern. Aber ich hab es nie übers Herz gebracht, auf etwas zu schießen.“

„Wie lange bleiben wir hier?“, frage Julia.

Walter zuckte mit der Schulter. „Ein bis zwei Tage. Ich weiß nicht.“

Sie neigte sich nach vorne und berührte sein Knie. „Glaubst du, dass Hartley etwas mit dem Verschwinden deiner Frau zu tun hat?“

Er starrte mit einem schmerzlichen Ausdruck in das Feuer. „Manchmal befürchte ich, dass sie dazu gehört hat. Dann halte ich mich wieder für verrückt, sowas zu denken. Andererseits, wenn man hört, was die Leute über Teufelsanbeter sagen, was sie Föten und Babies und Kindern antun ... und sie änderte sich, als sie schwanger wurde. Sie wurde verträumt, ängstlich und misstrauisch anderen Menschen gegenüber.“

Julia rutschte zu ihm hin und umarmte ihn. Sie spürte die harten Muskeln unter seinem Hemd und drückte ihn so fest sie konnte an sich. Er lehnte seinen Kopf an ihre Schulter.

„Psst, lass es“, flüsterte sie. „Du darfst sie nicht gewinnen lassen. Lass dich von ihm nicht überwältigen.“

„Ihm?“

„Satan.“ Sie spürte, wie sich Walter verkrampfte, aber sie fuhr fort. „Viele Christen glauben nicht, dass er Wirklichkeit ist; sie denken, dass er ein Relikt des Aberglaubens sei. Nenne es das Böse, schlechtes Karma, was auch immer. Der Name tut nichts zur Sache. Das Wichtigste ist, dass wir nicht zulassen, dass die Dunkelheit uns verschluckt, von innen heraus.“

Sie schaute an ihm vorbei und überließ sich der Wärme seines Körpers. Nun spielte sie Therapeutin, obwohl ihr eigener Kopf ein Wirrwarr war. Es war ein Wunder, dass sie nicht bereits vor Monaten wahnsinnig geworden war. Sie stellte sich Dr. Forrests eigenartig ernstes Gesicht vor, als die Frau ihre Bluse öffnete und ihr das Pentagramm zeigte, das auf ihrem Bauch eingeritzt war.

„Du bist nicht allein, Julia“, hatte Dr. Forrest gesagt.

Sie zitterte bei der Erinnerung. Wie viele Frauen gab es, die glaubten, Bräute des Teufels zu sein? Waren die meisten willig wie Dr. Forrest oder waren sie einsam und verängstigt wie Julia? Schrien sie, wenn Panik und Zweifel sie von innen heraus auffraßen? Wurden die Opfer Satans geboren oder gemacht?

„Du bist nicht allein, Judas“, sagte Walter.

Julia riss sich von ihm los, stand auf und eilte zur Tür. „Was hast du gesagt?

Walter schaute sie verwirrt an. „Ich habe nichts gesagt.“

„Doch, du hast etwas gesagt. Du hast gesagt ‚Du bist nicht allein, Judas.‘“

„Was zur Hölle?“ Seine Verwirrung verwandelte sich in Ärger.

Sie trat noch einen Schritt zurück und streckte die Hand nach der Türklinke aus. „Du bist es gewesen, nicht wahr? Du hast die Zeichnung des Pentagramms mit den Worten ‚Hallo Juuulia‘ hinterlassen. Du hast am Wecker herumgebastelt. Du hattest einen Schlüssel. Das war dein Werk.“

Walter erhob sich und streckte die Hände nach ihr aus. „Ich weiß nicht, wovon du sprichst. Werde jetzt nicht wahnsinnig, Julia. Bitte.“

Sein verletzter Ausdruck überzeugte sie beinahe. Beinahe.

Julia stieß die Tür auf und rannte blindlings in den kalten Morgen, an den Bäumen vorbei, nur weg von der Hütte. Zweige schlugen ihr ins Gesicht. Sie warf einen Blick zurück und sah, wie Walter über die Schwelle trat und ihr nacheilte.

„Juuulia“, rief er, aber sie rannte weiter. Das Herz schlug ihr in den Ohren und ihre Gedanken überstürzten sich.

Walter. Er war das Ungeheuer. Einer von Satans kleinen kranken Sklaven. Er hat womöglich seine Frau selbst getötet und ihr den ungeborenen Sohn aus dem Leib gerissen als Geschenk für seinen Meister.

Und die dumme, leichtgläubige Julia war ihm in die Falle gegangen, hatte sich ihm geöffnet und ihm vertraut und dies aus den fadenscheinigsten Gründen. Sie war das perfekte Opfer, schon immer gewesen und würde es auch immer sein. Sie könnte sich ebenso gut auf den Boden werfen und warten, bis Satan käme, um seine dunklen Bedürfnisse zu befriedigen und ihr das anzutun, das er all seinen Bräuten antat.

Ihre Lunge brannte in der kalten Luft. Sie rannte den Abhang hinunter, rutschte auf den Blättern aus und fiel hin, stand wieder auf und rannte weiter. Sie kam zu einer Felszunge und schlitterte zwischen zwei Granitblöcken hindurch. Sie ruhte sich etwas aus und spitzte die Ohren. Sie hörte jedoch nichts von Walter, sondern nur ihren eigenen unregelmäßigen, rasenden Atem.

Gigantische Eichen und Ahornbäume umringten sie und streckten ihre knorrigen Äste gegen den Himmel. Die Berge waren verborgen und die Zeichen der Zivilisation verloren sich in den Blättern und Rinden und dem Lorbeer. Dies hier war die Natur, die Welt, die Satan regierte. Er beherrschte auch die Welt der menschlichen Natur. Er beherrschte Julia. Er beherrschte sie alle.

Gib auf, leg dich hin. Übergib dich ihm.

„Er besitzt Sie, Julia“, ertönte Dr. Forrests Stimme.

Dann Snead: „Es ist Zeit, dass du die Hure Judas Stone wirst.“

Walter: „Du bist nicht allein, Judas.“

Sie presste die Hände auf die Ohren, konnte jedoch die Stimmen in ihrem Kopf nicht unterdrücken. Sie stolperte von den Felsen weg; die Sonne schien wie irrsinnig durch die Baumwipfel und der Dunst ihres Atems kreierte finstere Formen vor ihrem Gesicht. Satan beherrschte alles.

Sie schloss die Augen, machte einige weitere unkoordinierte Schritte und fiel wieder hin. Die Panik stieg wie Finger aus schwarzen Gräbern auf, die sich drehten und ungeduldig nach ihr griffen. Als die Finger – seine Finger – sie berührten, hatte sie nicht einmal mehr die Kraft, auf sie einzuschlagen. Sie umklammerten und packten sie besitzergreifend.

„Julia“, erklang es.

Etwas bewegte sich in den dunklen Winkeln ihres Irrenhauses. Diese Stimme. Nicht Walter, nicht Snead, nicht Dr. Forrest. Nicht Satan.

Mitchell?

„Ist alles in Ordnung?“

Ihre Augen schnappten auf und es war tatsächlich Mitchell. Seine Krawatte hing schief, seine Haare waren zerzaust, aber es war Mitchell Austin, Anwalt, früherer Verlobter und gescheiterter Vergewaltiger. Der Teufel in Person.

„Mitchell“, keuchte sie.

„Ich hab gesehen, wie er dich verfolgte“, sagte er. „Komm, steh auf. Sonst sieht er uns.“

Er zog sie hoch. Julia taumelte und lehnte sich gegen einen Baum. „Wie ... hast du mich gefunden?“

„Grundbucheintrag.“ Mitchell schritt auf sie zu und sie konnte die Beine nicht bewegen. Er nahm sie am Arm und führte sie zu einem dichten Lorbeergebüsch. „Die Polizei hat mir gesagt, dass ein Mann namens Triplett dich entführt hätte. Sie hatten keine Anhaltspunkte, aber wir beide wissen ja, dass Polizisten nicht allzu hell sind. Die Hütte war auf der Grundstücksteuerliste aufgeführt.“

Julia ließ sich von Mitchell in das Rhododendrongestrüpp ziehen. Sie wurden von dicken, wachsartigen Blättern verdeckt. „Nun müssen wir nur warten, bis die Polizei hier ist“, sagte er.

„Hast du ihnen gesagt, wo wir sind?“

„Ich wollte dich zuerst sehen. Irgendein dummer Teil von mir wollte Held spielen und hoffte, dass du mir für das ... vergibst.“ Seine Stimme hatte alle Gerichtsautorität verloren. „Für das, was ich beinahe getan hätte.“

Hast du es ihnen gesagt?

Er nickte. „Ich hab sie noch in Stadt mit meinem Handy angerufen. Dann habe ich meinen Wagen unten auf der Straße gelassen und bin hochgeklettert.“

„Nein“, flüsterte sie.

„Hör mal, ich bin nach Elkwood gekommen, um die Dinge wieder in Ordnung zu bringen. Ich war dumm; ich habe die Beherrschung verloren. Ich hatte einfach Angst, dich zu verlieren.“

„Und deshalb hast du versucht, mich zu vergewaltigen?“

Mitchells Augen bewegten sich hin und her, als ob er krampfhaft nach einem Rechtsfall suchte, den er ihr darlegen konnte. Er wirkte fehl am Platz in seinem eleganten Anzug mitten im Wald, weit weg von Golfklubs und Finanzexperten. Die Wolle seines Jacketts war zum Teil ausgefranst, dort, wo sich Zweige darin verfangen hatten. „Ich mache dir keine Vorwürfe, dass du mich hasst. Aber es ist deine Schuld.“

„Geh zum Teufel, Mitchell.“ Sie fühlte, wie die Wut ihr wieder Kraft gab. „Verschwinde. Du kannst mich nicht retten.“

Sie löste sich aus dem Gestrüpp, aber Mitchell hielt sie fest. „Nein“, sagte er. „Ich brauche dich.“

Sie riss den Arm weg.

„Du gehörst mir“, sagte er.

„Den Teufel tue ich.“

Du läufst mir nicht weg, du Hure.“ Er warf sich auf sie, und sie fiel zu Boden. Sie kämpften auf den kalten Blättern miteinander.

„Sie geht dorthin, wo sie will“, sagte Walter. Er trat hinter einer Gruppe Weißtannen hervor. „Sie trifft ihre eigenen Entscheidungen. Und weder du noch sonst jemand wird sie daran hindern.“

Julias und Walters Blicke trafen sich und sie war nicht sicher, ob sie Feuer oder Wahnsinn in seinen Augen sah. Mitchell ließ sie los, stand auf und wischte die Blätter von seinem Anzug.

„Du bist also das Monster“, sagte Mitchell. Er war etwas größer als Walter, aber Walter schritt entschlossen und mit geballten Fäusten auf ihn zu.

„He, ich bin nicht der, der eine Frau verprügelt.“

„Und ich bin nicht der übergeschnappte Ehefrauenmörder.“

„Glaub nicht alles, was du hörst. Sie kam mit mir, weil sie es wollte. Stimmt doch, Julia?“

Julia schaute von einem zum anderen und suchte in beiden nach dem Teufel.

„Du kannst ruhig aufgeben“, sagte Mitchell. „Die Polizei wird bald hier sein.“

Walter schaute Julia an. Sie konnte seinem intensiven Blick nicht standhalten. Er machte einen Schritt auf Mitchell zu.

„Komm nicht näher“, sagte Mitchell und fummelte in seiner Jacke herum. Er zog eine Pistole hervor. Der Lauf glänzte bedrohlich in der Sonne.

Walter starrte die Pistole mit offenem Mund an. Er stand still, hob jedoch die Hände nicht hoch. Julia kannte Feuerwaffen nur aus Filmen. Die Waffe sah nach einer automatischen Pistole aus, da sie keine Trommel besaß. Sie wusste jedoch, dass so eine Waffe Kugeln schoss und dass Mitchell verrückt oder besessen war, und das war eine schlechte Kombination.

„Komm hierher, Julia“, sagte Mitchell. „Wenn du mir erlaubt hättest, dir eine Waffe zu kaufen, dann hätte dieser Versager dich erst gar nicht entführen können.“

Julia warf Walter einen Blick zu und trat einen Schritt in Mitchells Richtung.

„Ich war es nicht, Julia“, sagte Walter. „Du musst mir glauben.“

„Wovon spricht er?“, fragte Mitchell. Er hielt die Waffe ruhig, als ob er mit ihr vertraut wäre.

Julia schüttelte den Kopf. Sie konnte nicht mehr kämpfen. Sie würde zurück zu Mitchell gehen, er würde sie beschützen, bis die Polizei käme. Walter würde verhaftet werden und alles wäre wie im Märchen.

„Er hat mich nicht entführt“, sagte sie.

Mitchells Hand, die die Pistole hielt, zitterte. „Julia, du bist verwirrt“, sagte Mitchell. „Deine ... Probleme sind durch das Trauma wahrscheinlich schlimmer geworden. Du kannst deinen Gedanken im Moment nicht vertrauen.“

„Ich weiß nicht, was ich denken soll“, sagte sie.

„Ich habe dich gern.“

„Nein“, sagte sie. „Du willst mich nur nicht verlieren. Mitchell Austin kann es sich einfach nicht erlauben zu verlieren.“

Mitchells Kinnmuskeln versteiften sich und er drückte den Pistolenknauf so fest zusammen, dass seine Hand zitterte. Walter schaute Mitchell starr in die Augen.

„Sei nicht dumm, Julia“, sagte Mitchell, als ob sie ein ungehorsamer Hund oder ein eigensinniges Kind wäre. „Denke daran, was ich für dich tun kann. Du weißt es doch. Geld regiert die Welt und wenn wir zurück in Memphis sind und weg von Snead und seinen kranken Typen, werden wir uns totlachen. Du weißt noch vieles nicht. Wenn du in Schwierigkeiten bist, können wir dich loskaufen.“

„Ich habe Angst“, sagte das vierjährige Kind in ihr. Sie konnte jedoch das verlorene kleine Mädchen nicht retten. Sie war eine erwachsene Frau, neu und geheilt und bereit, für ihre Seele zu kämpfen.

Mitchells Augen verdunkelten sich. Er hob die Waffe auf Brusthöhe, noch immer auf Walter gerichtet. „Du willst hier draußen bleiben bei diesem Hinterwäldler?“

Das war der Zeitpunkt, sich zu entscheiden. Die sichere und wahnsinnige Welt der Vergangenheit, Mitchells Welt, wo sie sich immer in ihrer dunklen Schale verkriechen konnte? Oder die unbekannte und möglicherweise ebenso verrückte Freiheit mit Walter und seiner blutigen Vergangenheit? Der Teufel, den du kennst, oder der Teufel, den du nicht kennst?

Walter wich nicht von der Stelle und hielt seine Augen auf die Waffe gerichtet.

Mitchell sprach nun zu Walter. „So, du versuchst sie mir wegzustehlen, nicht wahr? Und das Geld. Ich sollte dir einige Kugeln in dein hässliches Gesicht verpassen. Sie würden mir nicht einmal den Prozess machen. Ich kenne einen guten Anwalt.“

Er lachte. Der grausame, wahnsinnige Ton passte nicht in den stillen Wald. Panik kroch Julias Rückgrat empor. Walter würde sterben und sie könnte als nächstes an der Reihe sein. Wer wusste, zu was Mitchell fähig war. Sein Gesicht verzog sich zu einer finsteren Maske und in den Augen leuchtete ein unheimlicher Irrsinn.

„Ich gehöre nicht zu ihnen“, sagte Walter zu Julia.

„Ich glaube dir nicht“, sagte Julia. Sie verbarg die Lüge und hoffte, dass ihre Augen sie nicht verraten würden. Nach Walters schmerzlichem und schockiertem Ausdruck zu schließen, musste es ihr gelungen sein.

Sie trat näher zu Mitchell heran und legte ihre Hand auf seinen Arm. „Du kannst mich beschützen“, sagte sie. „Du kannst mich retten.“

Mitchells Lippen verzogen sich zu einem triumphierenden, höhnischen Lächeln. Sie spürte, wie er sich entspannte. Angefeuert von der Erinnerung an seinen Angriff in Memphis schlug sie mit aller Kraft auf sein Handgelenk. Es knallte drei Mal laut und sie hörte Walters Ruf über den Lärm hinweg, während der Geruch von Schießpulver ihr in der Nase brannte. Ihre Wut brach hervor wie das Wasser eines vom Sturm angeschwollenen Stroms. Sie schlug erneut zu und die Pistole fiel auf den mit Blättern bedeckten Boden.

„Schlampe“, stöhnte Mitchell und schlug ihr mit dem Handrücken ins Gesicht. Er bückte sich nach der Pistole, aber Julia krallte die Finger in seinen Arm. Walter warf sich auf den Boden, wühlte mit den Händen in den Blättern und hob die Pistole hoch. Mitchell stieß Julia weg und starrte Walter an.

„Willst du mich erschießen, du Hinterwäldler?“ Mitchell lächelte und seine weißen Zähne glänzten boshaft. „Dazu hast du doch den Mut nicht.“

Julia rieb ihre schmerzende Wange. „Du hast mich nach Elkwood geschickt, nicht wahr?“

Mitchell schaute sie finster an. Ein Zögern huschte über sein Gesicht. „Du bist verrückt.“

„Nicht so verrückt, wie du es gerne gehabt hättest“, sagte sie. „Du und Dr. Lanze, ihr habt mich mit Dr. Forrest zusammengebracht. Ihr wolltet, dass ich hierher ziehe. Ihr wolltet mich so hilflos machen, dass ich dir für immer in die Arme falle.“

Mitchell schaute Walter an. „Siehst du nicht, wie übergeschnappt sie ist?“

„Leider hast du etwas nicht in Betracht gezogen“, fuhr Julia fort. Sie war froh, dass nicht sie die Pistole in der Hand hielt. Sie hätte ihn womöglich erschossen. „Dr. Lanze hatte nämlich seinen eigenen Plan. Er wollte beweisen, dass er ein braves Mitglied der Bruderschaft war.“

„Bruderschaft?“ Mitchell sah verwirrt aus. Aber alle Anwälte waren mehr oder weniger gute Schauspieler.

„Teufelsanbeter“, sagte Julia und sah mit Genugtuung, dass Mitchell blass wurde.

Er schaute Walter an und schüttelte den Kopf. „Sie ist wahnsinnig. Nun quatscht sie auch noch vom Teufel. Sie ist tatsächlich auf die Gehirnwäsche ihrer Ärztin hereingefallen.“

Walter hielt die Pistole, sagte jedoch nichts.

„Du kennst Snead, nicht wahr?“, sagte Julia. „Du kanntest ihn in Memphis. Es würde mich nicht wundern, wenn du ihm geholfen hättest, hier eine Stelle zu erhalten, damit er mich überwachen konnte.“

Mitchell trat einen Schritt auf die Pistole zu, aber Walter sagte, „Ich würde es nicht tun, wenn ich du wäre. Halbautomatische 45er, drei Kugeln weg, da sind immer noch vier im Magazin.“

„Wusstest du, dass Snead Mitglied in Satans kleinem Kreis war, Mitch?“ Julia lächelte, als Mitchell sich beim sarkastischen Klang seines Spitznamens umdrehte. „Vielleicht spielst du einfach den Satanisten. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass du dich vor jemandem oder vor etwas beugst. Außer dir selbst würdest du niemanden anbeten.“

„Ich bin wegen des Geldes dabei, genau wie die anderen“, sagte Mitchell. „Warum würde dich sonst jemand heiraten wollen?“

„Geld? Ich habe keines.“

„Was machen wir mit ihm?“, fragte Walter Julia.

„Ich will nur, dass er verschwindet“, sagte sie müde. „Dass er aus meinem Leben verschwindet.“

Walter zeigte mit der Pistole den Abhang hinunter. „Du hast gehört, was sie sagt. Und ich würde nicht zurückkommen, wenn ich du wäre, oder dieser Hinterwäldler hier macht den Film ‚Beim Sterben ist jeder der Erste‘ Wirklichkeit.“ Er warf ihm einen anzüglichen Blick zu, der Julia unter anderen Umständen zum Lachen gebracht hätte.

Mitchells Augen weiteten sich und er wusste nicht, ob Walter Witze machte oder nicht. Er trat einige Schritte zurück, drehte sich um und ging den Abhang hinunter. Er kickte mit seinen Lederschuhen die Blätter umher und ließ die Schultern sinken. Als er schon beinahe verschwunden war, drehte er sich bei einem Doldenbusch um und schaute zurück.

„Der Kerl, der neben dir wohnt“, rief er. „Ich habe ihn dafür bezahlt, dass er dich verrückt macht.“ Mitchell ging einige Schritte weiter und rief noch einmal. „Er hat mir eines deiner Höschen geschickt. Denk daran, wenn du das nächste Mal auf der Couch eines Psychiaters liegst. Oder auf dem Altar des Teufels.“

Er duckte sich hinter dem Doldenbusch und das Geräusch seiner Schritte verstummte langsam.

„Dein Höschen?“, sagte Walter.

„Er ist ein fieser Kerl“, sagte sie und verschränkte die Arme vor der Brust. „Kaum zu glauben, dass ich ihm je erlaubt habe, mich zu berühren.“

„Es tut mir leid.“

„Nicht nötig. Ich bin froh, dass ich ihn los bin.“

„Was hat er gemeint, als er sagte, er sei nur des Geldes wegen dabei? Ich dachte, er sei reich.“

Julia runzelte die Stirne. „Keine Ahnung. Bei Mitchell weiß man nie.“

„Glaubst du, dass er mit Snead unter einer Decke steckt?“

Sie schüttelte den Kopf. „Mitchell wollte mich einfach als sein kleines Spielzeug benutzen. Snead will mich für Satan und ich glaube kaum, dass Satan gerne mit jemandem teilt.“

„Sie haben wahrscheinlich die Schüsse gehört. Sie werden bald hier sein.“ Walter sicherte die Pistole und schaute den Hügel empor in Richtung der Hütte.

Julia wollte einfach auf den Waldboden sinken und sich zum vermoderten Boden unter den Blättern gesellen. Sie war es müde, beherrscht und besessen zu werden. Sie war von den Therapeuten beherrscht worden, von Mitchell, von Erinnerungen an etwas, das sich ereignet oder nicht ereignet hatte, als sie vier Jahre alt war. 

Und nun wollte sie auch Satan besitzen oder wenigstens seine irregeführten Günstlinge. Aber jetzt würde sie unter keinen Umständen aufgeben, nun, da sie der Freiheit so nahe war. Sie war nicht länger allein. Sie war nicht länger eine Gefangene ihres eigenen Kopfs. Sie konnte vertrauen.

Sie schaute zum Himmel hoch, aber die Wolken waren noch immer still. Aber vielleicht war das die Definition des Glaubens – an etwas zu glauben, auch wenn es keine Beweise gab.

„Lass es geschehen, Gott“, sagte sie. „Ich habe keine Angst mehr.“

Als sie den Abhang hochstiegen, wünschte sich Julia, dass sie Kraft aus Walters Glauben schöpfen könnte. Mit Walters Hilfe könnte sie Snead, Hartley und Dr. Forrest bekämpfen. Aber sie besaß keine Waffen gegen ein Wesen, das aus Misstrauen entstanden war, oder gegen die Dunkelheit, die aus den Tiefen ihrer Seele empor kroch und alles überschattete, das sie kannte und an das sie glaubte.

Dunkle Zeiten: Die ultimative Thriller-Collection
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