2. KAPITEL

 

Diesmal träumte er von der Dunkelheit. Der Ort war kühl und zeitlos, so wie auf dem Grund einer Unterwasserhöhle.

Jacob merkte, dass er diesmal nicht atmen musste. Das Atmen fiel ihm die ganze Zeit schon schwer, ein endloses, nutzloses Unterfangen, einatmen, ausatmen, ohne Sinn und Zweck. Ersticken war viel einfacher. Die Atemlosigkeit erschien ihm fast wie ein natürlicher Zustand.

Weit oben, wie ein ferner Mond am nebligen Himmel, schwebte ein sanfter Lichtkreis. Dessen Anziehungskraft störte seinen Frieden, sie glich einem leichten, doch beharrlichen Sog, so wie der Mond die Gezeiten beeinflusst. Er versuchte dagegen anzukämpfen, doch seine Muskeln zwangen ihn nachzugeben und nach oben zu gleiten. Seine Arme und Beine trieben schwerelos im kalten Wasser der Grotte, seine Lungen füllten sich, seine Augen starrten auf den verschwommenen Lichtkreis, der größer und größer wurde.

Während er aufstieg, trennten sich die verschiedenen Ebenen des Traums wie beim Häuten voneinander, lösten sich von ihm, bis er rosa und nackt und bloß war. Der Mond wurde heller, das Wasser wärmer, der Druck auf der Haut stärker. Seine Lungen schmerzten, die beruhigende Flüssigkeit entwich und wurde durch spitze Steine ersetzt. Der Sog der Schwerkraft wurde stärker und zog ihn immer schneller an die verwirrende Oberfläche.

Jacob wollte schreien, doch die Grotte fraß seine Worte. Die anschwellende Helligkeit des Mondes deckte sich mit dem gleißenden Gefühl in seinen Fingern, eisige Funken, arktische Ruhe.

Der Mond wurde weißer, erfüllte die Welt, und er erkannte die Kraft, die nun durch seinen Körper schoss.

Schmerz.

Er erwachte mit Klingen und Nadeln und Scherben und einem dumpfen, tonnenschweren Krachen. Einen panischen Augenblick lang glaubte er, er würde lebendig verbrannt und zur letzten Folter zurück ins Bewusstsein geholt, bevor ihn der ewige Schlaf erlöste.

Dann verlor der Schmerz seine tausend spitzen Kanten und wurde zu einer turmhohen Welle der Qual, deren Gipfelpunkt immer höher schwoll. Die Welle zerschlug sich zum Schrei, der mit dem Echo des Namens seiner Tochter zerbarst.

Matilda Suzanne Aldridge Wells.

Matilda hieß Renees Mutter, sie hatte ihren Namen gehasst. Suzanne war Jacobs Wunschname gewesen, und dann hatten sie sich gestritten, ob sie Matties Nachnamen mit Bindestrich schreiben sollten oder nicht. Aldridge-Wells. Aber Renee hatte gemeint, dass sie schon den Namen Wells angenommen hätte und dass der Bindestrich nur dann Sinn machte, wenn sie wieder ihren Mädchennamen tragen würde. Oder wenn Jake Renees Nachnamen annehmen würde. In beiden Fällen war zu viel Bürokratie damit verbunden: Formulare für Sozialleistungen, Kreditkarten, Versicherungen, Jakes Unternehmensdaten, all die Beschränkungen der modernen amerikanischen Gesellschaft, in der jeder Mensch eine Nummer hatte und zu viele Eltern ihren Kindern zweideutige Namen gaben.

Aus Matilda wurde Mattie, auch wenn Jacob sie im sanften Dämmerlicht ihres Zimmers immer »Matilda« nannte, in der Zeit zwischen Gutenachtgeschichte und Gutenachtkuss, oder in den seltenen Fällen, in denen Mattie so unartig war, dass ihr Verhalten die Verwendung ihres vollen Namens rechtfertigte. Matilda war sie in beiden Extremen der Gefühle, bei grollendem Ärger und in sanfter, fast schon schmerzhafter Liebe. Und so kam auch jetzt dieser Name über seine Lippen, als er an der Oberfläche auftauchte und der Mond um ihn herum explodierte.

»Wie bitte?«, fragte eine fremde Stimme, wahrscheinlich die Stimme des seltsamen Mondes, getragen von einem trockenen Wind.

»Matilda.« Seine eigenen Ohren konnten den Klang nicht erkennen, der über seine Lippen kroch.

»Nicht sprechen, Mr. Wells.«

Jacob versuchte es trotzdem, doch dann spürte er den Schlauch, der auf seiner Zunge lag und sich seine Kehle hinunter wand. Er zwinkerte in das helle Mondlicht, doch alles blieb unscharf. Verbandmull lag über seinen Augen. Er zitterte im weißen Licht, voller Angst vor allem, und wünschte, die Grotte würde ihn wieder zurück in ihre friedlichen Gewässer ziehen.

Eine zarte Hand legte sich auf seinen Arm. Er schrie bei der Berührung. Eine Maschine zischte in einem Rhythmus, der das Leben nachahmte und gleichzeitig verhöhnte. Sie atmete für ihn, schickte Sauerstoff durch den Schlauch, durch seine Lungen, sein Herz, seine Adern. Jacob versuchte seine Hand zu heben, doch sie fühlte sich fürchterlich schwer an, wie ein Stück verkohlter Granit.

»Ganz ruhig, Mr. Wells.«

Die Stimme klang beruhigend, wie aus weiter Ferne. Jacob leckte seine Lippen um den Schlauch. Durch den Verband erkannte er ein braunes Gesicht, einen weißen Kittel und einen Strahler, den er für den Mond gehalten hatte.

»Durst«, sagte Jacob, und brachte das »s« kaum heraus, so trocken war sein Mund.

»Sie hängen am Tropf«, sagte die ferne Stimme. Sie sprach mit starkem Akzent, Westafrika oder so was Ähnliches. »Es wird noch einen oder zwei Tage dauern, bis Sie wieder trinken können.«

Jacob zwinkerte unter dem Verband, seine Augen stachen. Nachdem er kurz die verschwommenen Umrisse der Geräte und Schläuche um sich herum betrachtet hatte, schloss er seine Augen. »Wo bin ich?«

»Im Littlejohn Memorial.«

Im Krankenhaus.

In Kingsboro, North Carolina.

Dort, wo er mal gelebt hatte. Und wo er wahrscheinlich immer noch lebte.

Er war also nicht im Himmel, nicht mal im Vorzimmer zum Reich der Toten. Oder vielleicht doch. Vielleicht war das seine Strafe, das Fegefeuer der Qual in Form von Geräten, ein lebenslanges Urteil für sein Versagen.

»Wie lange …?« Jacob wusste nicht mehr, was er fragen wollte. Wie lange er schon tot war? Wie lange es noch dauern würde, bis er nicht mehr tot war?

»Sie sind seit sechsunddreißig Stunden hier. Sie hatten viel Glück. Ödem der oberen Atemwege, Verbrennungen zweiten Grades an mehr als fünfzig Prozent Ihres Körpers, eine verschobene Lippe.« Wieder legte sich eine Hand auf Jacobs Arm. »Ich bin Dr. Masutu.«

Jacob zitterte, sein Fleisch war kalt, doch seine Haut spannte wie eine Ofenkartoffel, rau und trocken und heiß. Er knickte seine Finger, sie fühlten sich an wie Wasserballons. Der Arzt hatte die Bewegung offenbar bemerkt.

»Sie sind im Moment überall etwas angeschwollen. Das ist typisch für Brandopfer. Durch den Flüssigkeitszuwachs nehmen sie zehn bis fünfzehn Kilo zu. Ihr Stoffwechsel ist gerade überaktiv, er versucht Ihre Brandverletzungen zu heilen.«

Eine Erinnerung flackerte in Jacobs Kopf auf, doch sie wurde von einer gelben Welle des Schmerzes hinweggespült. Die Welle brach an den Stränden seiner Seele, der Schaum kitzelte ihn, und dann kehrten die Schmerzen zurück. Der Schmerz erinnerte ihn an etwas, als wäre er ein Teil von ihm, von dem er nicht verschont bleiben sollte. Seine Zunge drückte dick gegen den Schlauch, er konnte seine Zähne nicht fühlen.

»Ich habe Ihre Morphiumdosis angepasst«, sagte Dr. Masutu. »Jetzt, wo Sie wach sind, spüren Sie wahrscheinlich ein leichtes Unwohlsein. Leider müssen wir mit den Beruhigungsmitteln etwas vorsichtig sein, weil Ihr Atmungssystem überfordert ist.«

Warum sagten Ärzte eigentlich immer »Unwohlsein« anstelle von »Schmerz«?

»Zusätzlich geben wir Antibiotika«, fuhr der Arzt fort. »Die Verbrennungen werden heilen, aber es ist eine gefährliche Zeit für Ihren Körper. Weil Ihr Körper sich so anstrengt, neue Haut zu bilden und Ihren Flüssigkeitshaushalt wieder aufzubauen, sind Sie anfällig für Infektionen. Aber es wird schon wieder werden.«

Jacob fühlte, wie er in den schützenden Schoß der Grotte zurückglitt. Etwas in den Worten des Arztes, ein Wort im Fluss der Silben, zwang ihn, seine Augen noch einmal zu öffnen, bevor er sich der Dunkelheit hingab.

Verbrennungen.

Verbrennungen bedeuteten Hitze.

Hitze stand für Feuer.

Feuer bedeutete, dass der andere Traum kein Traum gewesen war, und da kehrte die Erinnerung an Wände fressende Flammen zurück. Die Vergangenheit baute sich auf vor geschwärzten Balken, wie Holzscheite gestapelt, nagelte sich zusammen und ergab ein wackeliges Haus.

Feuer. Haus.

Und ein Name.

Dann wurden die Worte wieder bedeutungslos, denn er war zurück in der Grotte, das Wasser plätscherte sanft gegen seine Haut. Die kühle Dunkelheit umgab ihn wieder, und er fand das gut.

Auf seiner nächsten Reise an die Oberfläche begleitete ihn eine vertraute Stimme.

»Schatz? Kannst du mich hören?«

Jacob hörte Renee, aber er konnte nicht antworten. Seine Zunge fühlte sich an wie eine Socke, sein Mund wie ein lederner Schuh. Er zwang sich, die Augen zu öffnen, und der Strahler stach. Der Verband war entfernt worden. Die Ecken des Raums verschwammen an den Rändern seines Sichtfelds.

»Doktor, er hat die Augen geöffnet.«

Er spürte die Bewegung, Schatten fielen auf sein Gesicht. Seine Hände und Füße waren taub. Seine Brust war kalt, und einen Moment lang dachte er, dass er nackt sei. Jacob rollte seine Augen so weit nach unten, bis er sah, dass ein lockeres Laken seinen Körper bedeckte. Vielleicht war es auch ein Leichentuch.

»Schön, dass Sie wieder bei uns sind, Mr. Wells«, sagte eine Stimme, an die er sich unscharf erinnerte. »Ich bin Doktor Masutu.«

Jacobs Lippen öffneten sich, und er streckte seine Zunge so weit heraus, dass er die spröde Haut um seinen Mund herum fühlte. Seine Wangen waren mit einem kühlen Gel eingeschmiert. Er versuchte seinen Arm zu heben und es wegzuwischen, doch der Arzt hielt seine Hand fest.

»Langsam, langsam. Sie hängen noch immer am Tropf.«

Jacob schaute in das dunkle, ausdruckslose Gesicht des Mannes über ihm. Dann sah er, wer neben dem Arzt stand. Die Form der Haare war ihm vertraut, wie sie sich auf Schulterlänge nach außen wellten. Er versuchte, sich auf die Frau zu konzentrieren, doch ein Klopfen in seinem Kopf zerschlug das Bild in winzige, bedeutungslose Scherben. Er schloss die Augen.

»Entspann dich, Schatz. Ganz ruhig«, sagte Renee.

Ganz ruhig. Das hatte sie auch bei ihrem ersten Mal geflüstert, als Jacob und Renee beide im zweiten Studienjahr an der North Carolina State University waren. Vor Mattie und dem anderen Kind. Und bevor Joshua zurückgekommen war.

Jacob war es oft ruhig angegangen, doch noch nie war er so langsam gewesen wie jetzt. Denn die Schwerkraft lastete noch immer auf ihm, jeder Atemzug der Maschine quälte ihn wie glühende Kohlen, seine Glieder fühlten sich an wie außerirdische Parasiten, die an seinem Körper klebten. Er versuchte, die Teile seiner selbst zusammenzuklauben, sein Fleisch wieder mit seinen Knochen zusammenzuführen, seine Organe in ein funktionierendes Ganzes einzufügen. Er gab auf. Die einzige Verbindung zwischen seinen vielen Einzelteilen war ein Netz aus Schmerz.

»Renee«, sagte er wimmernd.

»Nicht sprechen.«

Er sprach nicht. Er rang nach Luft, kurz vorm Ersticken, füllte die Luft mit Nonsens. Er öffnete wieder die Augen.

Renee beugte sich über ihn, und ihr Gesicht füllte den verschwommenen Kreis, in dem vorher der Strahler gewesen war. Sie bestand nur aus Augen und blitzenden Zähnen. Die Augen schienen wie ein verlorenes Zweigestirn in der endlosen Weite des Alls.

Die Augen kamen ihm bekannt vor.

An wen erinnerten sie ihn? So grün …

Und dann kam alles zurück mit einem Schrei, das Feuer, das einstürzende Dach, Mattie umgeben von versengten Stofftieren. Er wollte sich hinsetzen, doch er war viel zu schwach. Die Bewegung entfachte eine Flamme beißender Pein in seiner linken Hüfte.

»Wo ist Mattie?«, fragte er. Diesmal hatte er genügend Luft gesammelt, um den Raum mit seinen Worten zu füllen. Ihr Echo schallte von den sterilen Flächen des Zimmers aus Fliesen, Chrom und Glas.

Er sah Renees Gesicht nicht gut genug, um wirklich sicher zu sein, doch ihr Antlitz schien in sich zusammenzufallen, wie eine Blume, die im Dunste verwest.

»Pssst, Schatz«, flüsterte sie. »Darüber können wir später sprechen.«

Später? Wie konnte sie nur denken, dass er es bis später aushalten würde, wenn er es nicht wüsste?

Riesige Klauen kratzten an seinen Eingeweiden, ein Monster in ihm drin wollte sich freikämpfen. Er zwang es nieder, wie in einem Anflug von Übelkeit. »Wo ist sie

Renee drehte ihren Kopf zum Arzt, sie tauschten einen Blick. Dr. Masutu nickte steif. Renee nahm seine Hand, ihre kleinen Finger waren glitschig unter der Salbe auf seiner Haut. Er drückte schwach ihre Hand und flehte mit all der kläglichen Kraft, die er aufbringen konnte.

»Wo?«, fragte er, und er wusste es bereits, obwohl er es niemals wissen wollte.

»Das Feuer … Als das erste Stockwerk einbrach und dich aus dem Feuer spuckte, war sie noch drin und … sie hatte schwere Verbrennungen …«

Ihre Stimme brach im selben Moment wie Jacobs Herz.

Nicht Mattie.

Nein. Nein. Nein!

Sie war ein fröhlicher Sonnenschein, spielte Puppendoktor, um ihre Püppchen wieder gesund zu machen, und feierte Teepartys mit ihren Stofftieren. Sie war die Lieblingsschülerin aller Lehrer an der Middlewood-Grundschule. Sie spielte gern Fußball und Seilspringen, liebte die Trickfilme am Sonntagmorgen, die vor den fürchterlichen Gottesdienst-Shows kamen. Sie war hübsch, sie war seine spirituelle Verbindung zu Renee, ein Wesen, das ihn mit der Zukunft verband anstatt mit der gehassten Vergangenheit.

Ein seltsamer Ton kroch aus seinen Lungen, das Monster in ihm drin verwandelte sich in eine kotzende Stimme. Wäre der stechende Schmerz nicht gewesen, als der Luftstrom durch seine Kehle kratzte, hätte er das Krächzen nicht als seine eigene Stimme erkannt.

Renee drückte seine Hand fester, jetzt mit beiden Händen, während er sich in den Laken wälzte. Dr. Masutu ging um sein Bett herum und versuchte ihn mit unverständlichem Medizinerlatein zu beruhigen. Jacob schleuderte seinen Kopf von einer Seite zur anderen, die Zimmerdecke verschwamm zu einem silbernen Schleier mit weißen Schlieren.

»Es wird alles wieder werden«, sagte Renee mit erstickter Stimme, ihr Gesicht ganz nah an seinem, ihr Atem kühlte seine Wange.

Das Monster zerriss ihn von innen, Klauen und Zähne und kantige Knochen. Das Monster lachte, schleuderte die Wahrheit gegen seinen Brustkorb, wie wenn eine Sense über ein Xylophon streicht. Es nagte an seinen Herzkammern und spuckte Stücke seines Fleisches im Triumph. Die innere Qual verschmolz mit dem äußeren Schmerz zu einem unerträglichen Crescendo.

Jacob wimmerte, ein Stoßgebet zu Gott, eine Verdammnis Gottes.

Er schluchzte und hustete, stieß mit der Zunge an den Schlauch in seinem Mund.

Er hatte sich geschworen, dass er diesmal stärker sein würde, dass er sie vor Joshua beschützen würde. Sie alle wollte er beschützen. Doch wieder hatte er versagt. Und dieses Wissen war es, das ihn mit scharfen Klauen zerriss.

Renee tupfte seine Augen mit einem Taschentuch ab. Sie flüsterte genauso leise wie das unablässige Schnaufen des Beatmungsgerätes. »Jake.«

»Wo ist sie?«, fragte er wieder, seine Zähne umklammerten den Schlauch. Er schaute in den Spiegel über dem Wachbecken, ob Mattie vielleicht doch mit im Zimmer wäre.

Dr. Masutu trat näher, ein Musterbild kerniger Tüchtigkeit. »Es wäre besser, wenn Sie jetzt gehen, Mrs. Wells. Wir können nicht riskieren, ihm noch mehr Beruhigungsmittel zu geben. Seine Atmung ist bereits überfordert.«

Jacob griff nach ihrer Hand, seine Muskeln steif vor Verzweiflung. Schweißperlen tanzten auf seinem Gesicht. »Wo ist sie?«

Renee trat zurück, die glitschige Salbe zwang Jacob seinen Griff zu lockern. Er starrte auf seinen Handrücken, auf die weißen Blasen und die rosa Haut, die sich löste. Sein Ehering war weg. Alles war weg. Joshua hatte alles genommen.

»Sie ist hier«, sagte Renee.

Er setzte sich auf und alles verschwamm. Der Raum kippte um, Dr. Masutus Gesicht wurde abwechselnd größer und kleiner, Renee schwankte wie ein Schiff, das auf den Horizont zuschlingert.

Jacob versuchte seine Beine zu bewegen, doch sie gehorchten ihm nicht. Er stürzte gegen die Bettkante und brach am Geländer zusammen. Sein Infusionsbeutel fiel herunter und ergoss sich auf die kalten Fliesen. Dr. Masutu packte ihn bei den Schultern und versuchte ihn wieder aufs Bett zu hieven.

»Langsam, Mr. Wells«, sagte der Arzt. Sein Atem roch nach Desinfektionsmittel, der erste Geruch, den Jacob seit seinem Erwachen wahrnahm.

»Ich will sie sehen! Wo ist sie?«, brüllte er Renee an. Ihm war egal, ob sie log. Er brauchte eine Antwort, egal welche, ansonsten würde der steinharte Brocken in seiner Brust keinen Atemzug mehr hindurch lassen.

An der Tür blieb Renee zusammengesunken stehen. Sie zitterte. Sie hielt die Hände vor den Mund und lehnte sich an die Wand. Langsam sank sie daran nieder, wie das Opfer eines Erschießungskommandos.

»Mr. Wells«, sagte der Arzt und drückte ihn in die Kissen. »Zwingen Sie mich nicht, nach Unterstützung zu rufen.«

»Scheiß drauf«, schrie Jacob, kämpfte sich frei und zog sich an der Stange hoch. Im Spiegel erhaschte er einen Blick auf sich selbst, ein Versuchskaninchen mit wilden Augen und rot gesprenkelter Haut, das sich aus einem grausamen Experiment befreite. Dann hatte er die Geländerstange überwunden. Der Beatmungsschlauch musste sich gelöst haben, der Sauerstoff entwich mit schlangenhaftem Zischen. Der lose Schlauch baumelte aus Jacobs Mund. Sein Körper krachte auf den Boden, ein Bein hatte sich an der Bettstange verfangen, das andere war in den Laken verheddert. Er kämpfte sich frei, ungeachtet der Schmerzen, die mit hundert stumpfen Äxten auf ihn einschlugen.

Er kroch über den Boden wie eine gelähmte Krabbe, Dr. Masutu eilte irgendwo durch den Raum, Renee zitterte. Die Fliesen waren kalt an der Haut, das dünne Krankenhaushemd hatte sich geöffnet. Die Bändchen baumelten hinten an seinen Beinen wie die Zündschnüre eines Silvesterknallers. Sein ganzer Körper war brennend heiß, geschwollenes Dynamit, ein brodelnder Vulkan, der kurz vor dem Ausbruch stand.

Er erreichte Renee und zog ihr die Hände vom Gesicht. Ihre grünen Augen waren rot geschwollen, ihr Gesicht sah zwanzig Jahre älter aus. Sie war eine Fremde, er war ein Fremder, keiner von ihnen gehörte in diese Welt. Nicht, wenn solche Dinge hier passierten.

Jacob griff mit einer Hand nach dem Beatmungsschlauch und riss ihn aus seinem Hals. Ein Stück Haut löste sich von seiner Lippe und blieb am durchsichtigen Kunststoff kleben. Wenn er sich nur selbst in Stücke reißen könnte, immer in kleinen Häppchen, so wie wenn man ein Puzzle auseinandernimmt. So könnte er seine Existenz einfach auflösen. Doch selbst wenn er verschwände, Joshua wäre immer noch da, und dann hätte Joshua alles.

»Sag's mir…«, bettelte er. »Wo?«

Sie drehte sich weg und schluchzte ein paar Worte gegen die weiße Wand.

Er berührte ihr Haar und verspürte den Drang, seine Finger um diese Strähnen zu krallen und die Wahrheit aus ihr herauszuprügeln.

Ihre Worte waren wie unsichtbare Kugeln: »Du hast gesagt, es würde nicht wieder passieren.«

Dr. Masutu war irgendwo über ihnen, noch jemand hatte den Raum betreten. Sie hätten genauso gut Schatten an der Wand sein können, Jacob war alles egal. Dr. Masutu schrie etwas Befehlsähnliches, doch Jacob gehorchte im Moment nur einem: dem unbändigen Wunsch, die nackte Wahrheit zu erfahren.

»Wo ist sie?« Er packte Renees Kinn, zwang sie, ihn anzusehen. Hände griffen nach ihm und pflügten neue Furchen der Pein in seine Schultern.

»Was denkst du, wo sie ist?« Renees Lippen zitterten, sie waren stellenweise durchgebissen, ihre Wangen schimmerten im Glanz der Tränen. Es schien, als sei sie dem Feuer ohne Spuren entkommen. Zumindest ohne sichtbare körperliche Schäden.

»Sie ist im Krankenhaus, oder?«

»Du hast gesagt, ihr würde niemals etwas passieren.«

»Bitte, Mr. Wells«, klang Dr. Masutus Stimme wie aus einem fernen Land, aus einem Land der Vernunft, in dem Patienten allein durch die Kraft ihres Willens wieder gesund werden.

Jacob stieß den Arzt mit dem Ellbogen zur Seite und kletterte auf Renee, sein linkes Bein baumelte schlaff und nutzlos herunter. Eine Hälfte von ihm wollte am liebsten in sie hineinkriechen und sich in ihr verstecken, auf der Suche nach jenen sanften Orten, die ihm immer Zuflucht geboten hatten. Die andere Hälfte wollte sie bluten sehen, qualvoll leiden, an ihren Worten ersticken. Und diese Hälfte gewann jetzt die Oberhand.

Er holte aus, um sie zu schlagen. Dr. Masutu versuchte ihn am Handgelenk zu packen, doch er wand sich frei und büßte dabei wieder ein Stück Haut ein. Seine Hand schwebte vor ihrem Gesicht, ihre Augen waren fest auf die seinen gerichtet. Sie zwinkerte nicht vor dem Schlag. Sie lud ihn förmlich ein, forderte ihn heraus.

Er schlug nicht zu.

Sie würde nicht gewinnen. Nicht auf diese Art.

Er krümmte sich zusammen wie ein Baby, die Salbe klebte an den Fliesen. Der Boden roch nach Bohnerwachs und Bleiche. Dr. Masutu sagte etwas zur Schwester, jemand wischte etwas Flüssiges auf. Dr. Masutu kniete sich hin und packte Jacobs Arm. Diesmal wehrte sich Jacob nicht, als die Nadel in seine Armbeuge stach.

»Mattie ist im Krankenhaus«, sagte Renee.

Ein taubes Gefühl kroch durch seinen Arm, rauschte in seinen Kopf, die Droge massierte sein Hirn mit eisigen Fingern.

»Ganz unten«, fuhr Renee fort, während Jacob langsam in die Grotte zurückglitt und wieder in die beruhigende Dunkelheit der Bewusstlosigkeit eintauchte.

Renees letzte Worte brachten ihn zum Ertrinken: »Im Leichenkeller.«

Dunkle Zeiten: Die ultimative Thriller-Collection
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