Kapitel 19

 

Nacht.

Sie legte sich auf die ganze Welt, dehnte sich und erstickte die Bäume, zerdrückte die Berge, verschluckte das schwache Licht der Sterne. Die Nacht drängte gegen das verbleibende Fenster des Kinderzimmers und Ronnie wusste, dass sie außerhalb der Wände genauso dickflüssig war. Das Furchteinflößendste an der Nacht war, dass sie immer wieder zurückkehrte. Man konnte mit dem hellsten Licht des Universums in sie leuchten, sie dazu bringen zu verschwinden, aber in dem Moment, in dem man das Licht ausschaltete, kam – zisch – die Nacht schwärzer als jemals zuvor wieder herbeigeschossen.

»Es wird uns nichts passieren, oder?«, fragte Tim. Er lag im unteren Bett, in Bettdecken eingemummelt.

Ronnie nickte im Bett über ihm, weil er seiner Stimme nicht traute. Dann wurde ihm klar, dass Tim ihn nicht sehen konnte, obwohl Dad das Licht angelassen hatte. Er atmete schnell ein und sprach: »Wie oft muss ich dir noch sagen, dass alles gut wird?«

Hinter seiner Verärgerung lag keine Kraft, er war wie einer dieser schlechten Schauspieler in den dämlichen Seifenopern, die Mom immer tagsüber geguckt hatte, damals, bevor sie der roten Kirche beitrat.

»Was ist mit Mom?«

Ronnie drehte sich zur Seite und streckte seinen Kopf über den Rand des Betts. »Sie ist okay. Alles wird gut. Du wirst schon sehen.«

»Ich mag nicht, wenn sie streiten.« Tim blinzelte, seine Brille hatte er für die Nacht abgelegt.

»Sie mögen es auch nicht.«

»Warum machen sie es dann?«

Warum? Das war die große Frage. Warum wollte das Glockenmonster Ronnies Herz essen? Warum musste Mom der roten Kirche beitreten? Warum musste sich Melanie als die Königin der gemeinen Mädchen entpuppen?

Und es gab immer die ganz große Frage: Warum ließ Gott zu, dass böse Dinge passierten? Gott hatte zugelassen, dass Boonie Houck und Mr. Potter und die Frau am Straßenrand getötet wurden. Er hatte sogar zugelassen, dass Menschen seinen eingeborenen Sohn töteten. Was für eine Art von barmherzigem Gott war das? Vielleicht würde Ronnie Prediger Staymore diese Frage stellen, wenn Ronnie das Glück hatte, beim nächsten Treffen der Sonntagsschule noch am Leben zu sein.

»Ronnie?«

Ronnie wurde klar, dass Tim für mindestens eine halbe Minute gesprochen hatte, aber Ronnie hatte ihn einfach ausgeblendet. Es war besser, den Knirps zu beschäftigen, damit er nicht völlig austickte. »Ich höre.«

»Wir müssen ihm geben, was es will.«

»Wem was geben?«, fragte Ronnie, obwohl er genau wusste, wovon Tim sprach.

»Dem ... du weißt schon.«

»Ja, ja. Dem Ding mit Flügeln und Klauen und Lebern statt Augen.«

Tim zog seine Bettdecke bis zu seinem Kinn hoch. Seine Augen waren jetzt aufgerissen, seine Lippen zitterten vor Furcht. Ronnie schwang sich von seinem Bett herab und kroch in das von Tim.

»Ich werde nicht zulassen, dass es dich tötet«, sagte er. »Auf keinen Fall. Dad wird es irgendwie besiegen.«

Tim sah nicht so aus, als ob er Ronnie glaubte, aber er sagte nichts. Er schloss die Augen und Ronnie erzählte ihm das Märchen von Dornröschen. Er war halb durch Hänsel und Gretel, als Tim eingeschlafen war. Ronnie lag neben ihm in dem beengten Bett und suchte nach einem Ausweg aus dem Schlamassel.

Dann wurde es ihm plötzlich klar, die Erkenntnis traf ihn wie ein Eiszapfen in die Brust. Gott unterzog Ronnie all dieser Schwierigkeiten als eine Art von Prüfung. Wenn eines aus der Bibel klar wurde, dann, dass Gott Gefallen daran fand, den Glauben seines Volkes zu prüfen. Hiob, Daniel, Abraham, ach, sogar Jesus wurde durch den Teufel in Versuchung geführt und wenn Gott allmächtig war, dann tanzte bestimmt auch der Teufel nach seiner Pfeife.

Wenn man sich das vorstellte. Jesus war Gottes eigener Sohn, sein Fleisch und Blut, seine irdische Menschwerdung, und sogar Jesus musste sich beweisen. Und bei all den Sünden des Herzens, die Ronnie begangen hatte, war es kein Wunder, dass ihn Gott einiger harter Prüfungen unterzog. Und das war das Furchteinflößendste von allem.

Denn Dad hatte gesagt, wenn es dunkel war in der Nacht und der Schmerz groß war und man ganz allein war, dann richtete man seine Augen auf Gott und man öffnete sein Herz und ließ Jesus einziehen. Man ließ Gott die Angst beseitigen. Man ließ ihn die Probleme lösen und die Feinde besiegen. Aber was, wenn Gott der Feind war? Was, wenn Gott die Quelle der Angst war?

Bereits während er das dachte, wusste er, dass er falsch lag. Die Vorstellung von Gott als Bösewicht war einfach zu furchtbar. Man musste Glauben haben. Wenn man keinen hatte, konnte man sich genauso gut zusammenrollen und die Glockenmonster dieser Welt seine Eingeweide essen lassen. Man konnte genauso gut den Stein davonrollen und sich auf den direkten Weg in die Hölle begeben. Deshalb versuchte Ronnie, sich das Gesicht von Jesus vorzustellen, so wie es auf den farbigen Illustrationen in der Bibel abgebildet war, ein Mann mit Bart, langem braunem Haar und traurigen, liebevollen blauen Augen.

Etwas klickte am Fenster.

Ein Pochen gegen das Glas des intakten Fensters, gegen das, das nicht zugenagelt war.

Kannst du ihn anklopfen hören?

Oh ja, Ronnie konnte das Klopfen hören. Nur, dass das nicht Jesus war. Es war das Glockenmonster, zurück, um seine Arbeit zu beenden.

Das war es, was Gott wollte – dass Ronnie aus dem Bett stieg, das Fenster öffnete und sich darbot. Dann würden die Toten tot bleiben, die Geister würden im Boden bleiben und Tim würde gerettet sein. Und Ronnie würde die Prüfung bestanden haben.

Ronnie wollte nach Dad rufen, damit er mit dem Gewehr kam und das Ding noch einmal tötete. Aber welchen Nutzen hätte das? Man konnte es eine Million Mal töten, aber es würde doch wieder zurückkommen, Nacht für Nacht, immer wieder. Bis es hatte, was es wollte.

Bis es Ronnie hatte.

Er kroch unter der Bettdecke hervor, blickte auf Tims Gesicht, das im Schlaf entspannt war, und durchquerte das Zimmer. Obwohl er einen Schlafanzug anhatte, zitterte er. Das Ding pochte noch einmal an das Fenster und Ronnie hörte ein schlüpfriges Flüstern. Er hoffte, dass die Klauen ihre Arbeit schnell erledigten, damit er ohne große Schmerzen sterben konnte.

Er ertrug ohnehin schon genug Schmerzen. Seine gebrochene Nase, die Beule in seinem Gesicht, wo ihn Whizzer geschlagen hatte, der Steinklumpen in seiner Brust. Zumindest würden diese Schmerzen verschwinden. Bald würde Jesus kommen und ihn an der Hand nehmen und mit ihm in den Himmel schweben, wo es ein Heilmittel für jede Art von Schmerz gab. Weil Ronnie glaubte.

Oder etwa nicht, Ronnie?

Er ging einen weiteren unsicheren Schritt Richtung Fenster. Er konnte in der Dunkelheit hinter der Scheibe nichts erkennen. Alles, was er sah, war sein eigenes Spiegelbild und das erleuchtete Kinderzimmer. Es war besser so. Wenn er das Glockenmonster sah, würde er schreien, Tim würde aufwachen, Dad würde hereinkommen und das Glockenmonster würde sie alle kriegen. Oder Dad würde das Glockenmonster töten und dann müssten sie alles noch einmal machen, Nacht für Nacht, immer wieder, bis die Prüfung bestanden war.

Deshalb öffnete er die Sperre am Rahmen, hielt den Atem an und schob das Fenster langsam nach oben. Es quietschte in seinem Rahmen und die kalte Nachtluft floss durch den Spalt nach Innen und kühlte Ronnies Bauch. Er verkrampfte und wartete mit geschlossenen Augen darauf, dass die Klauen seinen Bauch aufreißen würden. Nichts passierte, also öffnete er das Fenster noch ein paar Zentimeter.

»Ronnie«, kam das Flüstern.

Mom.

Erleichterung durchflutete seinen Körper, eine Wärme, die derjenigen glich, wenn Jesus in sein Herz einzog. Aber was machte Mom da draußen mit dem Glockenmonster?

Verwirrt öffnete Ronnie die Augen. Das Licht aus dem Zimmer strömte auf Moms Gesicht. Sie sah überhaupt nicht verängstigt aus. Sie lächelte und legte einen Finger auf ihre Lippen. »Schhh. Wo ist dein Dad?«

Ronnie senkte den Kopf, bis er nah bei ihrem war. »Im Wohnzimmer. Er denkt, dass das Glockenmonster diesmal durch die Haustür kommen wird.«

»Komm«, sagte sie und winkte ihm zu, dass er rauskommen sollte.

»Wohin gehen wir?«

»Zur Kirche.«

Zur roten Kirche. Mitten in der Nacht. Vielleicht hatte Dad Recht. Vielleicht war Mom wirklich durchgedreht.

»Hol Tim«, sagte sie.

»Tim?« Er blickte zurück zu seinem Bruder. Tim stöhnte in seinem Schlaf, weil er etwas Schlechtes träumte. »Warum muss Tim mitkommen?«

»Er gehört dazu.« Ihre Augen waren seltsam hell. »Wir alle gehören dazu.«

»Was ist mit Dad?«

Moms Augen wurden schmaler. »Er ist kein Mitglied der Gemeinde.«

Ronnie wollte anmerken, dass er und Tim ebenso wenig Mitglieder waren. Mom lächelte erneut und es war das alte Lächeln von Mom, dasjenige, das verkündete Alles wird gut werden und Mom wird es küssen und es wird vergehen und Ich liebe dich mehr als alles auf der Welt.

»Ich fürchte mich vor der roten Kirche«, sagte Ronnie.

Sie nahm das Fliegengitter ab, langte durch das offene Fenster und drückte sanft Ronnies Schulter. »Liebling, es ist so wunderbar. Du weißt, wie gut es sich anfühlt, in der Ersten Baptistengemeinde zu sein?«

Ronnie nickte.

»Nun, das hier ist hundert Mal besser. Es ist, als ob Gott im gleichen Raum mit dir ist. Keine Schmerzen mehr, kein Ärger, keine irdischen Sorgen. Nichts als ewiger Friede.«

In der roten Kirche zu sein hörte sich mehr und mehr an, wie tot zu sein. Aber Ronnie dachte sich, wenn er nur dieses eine Mal mit Mom ginge, konnte er herausfinden, warum sie den Ort so sehr mochte. Außerdem würde sie nicht zulassen, dass ihren Söhnen etwas passierte. Sie würde Tim vor dem Glockenmonster und anderen schlechten Dingen schützen,und sie würde Ronnie helfen, die Prüfung zu bestehen.

Er weckte Tim, eine Hand über dessen Mund legend, bevor er schreien konnte. »Mom ist hier«, flüsterte er. »Wir müssen zur Kirche gehen.«

Tims Lippen bewegten sich unter Ronnies Hand, also nahm er sie weg. »Warum müssen wir zur Kirche gehen?«, fragte er verschlafen.

»Warum müssen wir jemals zur Kirche gehen? Weil wir müssen, deshalb. Mom ist hier, um uns abzuholen.«

Bei der Erwähnung von Mom wurde Tim hellwach und setzte sich auf. »Sie ist hier?«

»Am Fenster.«

»Hi, Süßer«, sagte sie. »Jetzt beeilt euch, bevor euer Dad etwas hört. Ihr müsst euch nicht umziehen. Wir werden nicht lange bleiben. Zieht nur eure Schuhe an.«

»Sollten wir es nicht Dad sagen?«, fragte Tim.

»Er würde nur ausflippen, Liebling. Er würde mich anschreien. Du willst doch nicht, dass er mich anschreit, oder?«

Tim eilte zum Fenster und umarmte sie. Ronnie schloss die Tür ab und die Jungs zogen ihre Turnschuhe an. Dann half Ronnie Tim dabei, durch das Fenster zu klettern. Ronnie folgte ihm, ein letztes Mal in das erleuchtete Zimmer blickend, bevor er in der Nacht verschwand.

 

Die Sirene war nun lauter, näher. Frank schloss die Augen und lehnte sich gegen das Bett. Seine Schulter pulsierte, aber er konnte immer noch die Finger seiner linken Hand bewegen. Kein wichtiger Nerv beschädigt, zumindest nicht durch die Schusswunde. Aber Archer McFall hatte seine Nerven genügend in Mitleidenschaft gezogen.

Sheilas Finger tasteten den Bereich um die Wunde ab. »Tut es weh?«, fragte sie. Ihre Stimme war so entrückt, wie sie gewesen war, als er zuerst das Motelzimmer betreten hatte. Er wollte eine witzige Bemerkung à la Bruce Willis in Die Hard machen, aber er gab auf. Bruce Willis hatte Autoren, die ihn mit Sprüchen versorgten. Alles, was Frank hatte, war ein schrilles Gewirr aus Gedanken und rot glühenden Schmerzdrähten in seinem Gehirn.

Er ächzte und öffnete die Augen. Sheilas Gesicht war leichenblass, so weiß, wie das von Samuel gewesen war.

Samuel.

Wut und Hass verdrängten Franks Schmerzen. Diese Ratte Archer hatte Samuel getötet. Wer oder was auch immer Archer war, Geist oder Dämon oder der beste verdammte Magier seit Houdini, der »Prediger« war schuld an Samuels Tod. Und an Franks langen Jahren der Schuldgefühle.

»Wissen Sie, was lustig ist?«, fragte Frank.

»Gar nichts«, sagte Sheila. »Ich habe gerade auf Sie geschossen.«

»Nein, wirklich, es ist lustig«, sagte er. »Wenn man erst einmal die alten Regeln wegschmeißt, all die Dinge, von denen man glaubte, dass man sie wüsste und dass man auf sie zählen könnte, dann kann man so ziemlich alles glauben.«

»Wovon zum Teufel reden Sie?«

»Geister. Archer McFall. Was auch immer er ist, er ist real. Keine Vorspiegelung des Gehirns, keine Vision im Einklang mit Ihren Theorien der Kriminalpsychologie.«

»Er ist real, okay«, sagte sie, obwohl sie unsicher klang. Sie faltete die Bettdecke zurück und zog das Betttuch heraus. Dann riss sie einen langen Streifen vom Betttuch ab und band ihn um Franks Schulter und Oberarm. Er zuckte unter dem neuerlichen Schmerz zusammen.

»Verdammt, es ist nur eine Fleischwunde«, sagte sie.

»Das ist gut.«

»Nein, ist es nicht. Ich habe auf Ihr Herz gezielt.«

»Ich werde darüber nachdenken, fürs nächste Mal, wenn Sie drohen, mich zu erschießen.«

Sie knotete den Verband fest, als der heulende Streifenwagen vor die Tür fuhr. Er kam mit quietschenden Reifen zu einem Halt und Wade Wellborn schrie vom Parkplatz.

»Sheriff? Detective Storie?« Er hatte ihre Wagen gesehen.

»Alles klar, Wade«, rief Frank zurück.

Wade kam durch die Tür geeilt, seine Waffe war auf die Decke gerichtet. »Was zum Teufel ist passiert?«, fragte er mit aufgerissenen Augen.

»Wir hatten das, was man einen ›Vorfall‹ nennt«, sagte Frank. Sein Blut färbte den provisorischen Verband, aber die Blutung schien schwächer geworden zu sein. Er stand auf, Sheila nahm seinen guten Arm und half ihm dabei.

Als er versuchte, das Gleichgewicht zu erlangen, fügte er hinzu: »Vielleicht war es mehr eine ›Begegnung‹ als ein Vorfall.«

»Sir?«, fragte Wade.

»Fordern Sie Verstärkung an. Dann bleiben Sie hier und sichern den Tatort.«

»Wer war das?« Wade starrte auf den Verband, dann auf die zerbrochene Fensterscheibe und die Löcher in der Gipskartonplattenwand des Motels.

»Sie werden wie alle anderen auf den Bericht warten müssen«, sagte Frank. »Selbst ich weiß nicht, was passiert ist, bis ich es mir ausgedacht habe.«

Wade zögerte. Verwirrung zeichnete sich auf seinem Gesicht ab. Dann folgte er Franks Befehl. Als Wade das Zimmer verlassen hatte, sagte Frank zu Sheila: »Haben Sie Lust auf einen Gottesdienst?«

»Ich weiß nicht. Ich hatte immer gedacht, dass ich an Geister glauben würde, wenn ich sie sehen würde. Nun habe ich einen gesehen und glaube es noch immer nicht.«

»Sie sollten mehr Glauben haben, Detective.«

»Glauben?«

»Ja. Ich habe ihnen gesagt, dass es in der Kirche spukt. Ich wusste nur nicht, was dafür verantwortlich ist.«

»Sie meinen, ich hätte Ihnen glauben sollen, als sie von diesem gehängten Prediger geschwätzt haben?« Sheila schien sich zu fangen, ihre Benommenheit abzulegen und ihre sarkastische Neigung zurückzugewinnen. Frank war froh, dass sie wieder ihr altes Selbst war. Er mochte ihr altes Selbst. Vielleicht würde die alte Sheila beim nächsten Mal nicht auf ihn schießen.

Als sie aus der Tür traten, warf Frank einen letzten Blick auf den Blutfleck auf dem Teppich, das in Unordnung gebrachte Bett, die Bibel auf dem Boden. »Sie fahren«, sagte er zu Sheila.

»Ja, Sir.«

»Und hören Sie auf, mich ›Sir‹ zu nennen. Wenn wir zusammen einen Geist zur Strecke bringen wollen, können wir uns genauso gut duzen.«

Die wenigen Gäste des Motels hatten ihre Zimmer verlassen und standen miteinander flüsternd in Zweier- und Dreiergruppen auf dem Parkplatz. Blaulicht wurde von den Fensterscheiben zurückgeworfen und trug zur verwirrenden Wirkung des Erlebnisses bei. Der Night Manager des Holiday Inn stand am anderen Ende des Parkplatzes, halb versteckt hinter einem Pflanzgefäß aus Beton.

»Alles unter Kontrolle«, rief Frank ihm zu.

»Sieht für mich nicht so nach verdammter Kontrolle aus«, gab der Manager mit piepsiger Stimme zurück. »Wo ist Mr. McFall?«

»Hat vorzeitig ausgecheckt«, antwortete Sheila. Sie stieg in ihren Streifenwagen und öffnete die Beifahrertür für Frank. Als er sich auf dem Sitz niederließ, kam Wade angerannt.

»Wo fahren Sie hin?«, fragte er mit von Anstrengung gerötetem Gesicht.

»Wir folgen einer Spur«, sagte Frank. »Die Einzelheiten teilen wir über Funk mit.«

Sheila ließ den Motor an, fuhr rückwärts aus der Parklücke und schlingerte dann aus dem Parkplatz. Als sie auf dem Highway waren und beschleunigten, zog Sheila den Revolver aus ihrem Schulterhalfter.

»Du wirst doch nicht die Sache zu Ende bringen wollen, oder? Mich wirklich erschießen?«, fragte er.

Sie gab ihm die Waffe. »Muss nachgeladen werden.«

»Warum? Wir wissen doch schon, dass Kugeln ihn nicht aufhalten können. Oder es. Was immer es auch ist.«

»Es gibt immer noch sowas wie ›korrekte Vorgehensweise‹. Vielleicht ist es das Letzte, das ich nach Vorschrift machen kann.« Sie erreichte 130 km/h und hielt sie konstant, ohne die Sirene oder das Blaulicht einzuschalten. Er beobachtete ihr Gesicht, während sie steuerte.

Er mochte sie.

Verrückt wie es war, er mochte sie. Zum Teufel, die Welt war sowieso völlig durchgeknallt mit ihren Spukkirchen, Gestaltwandlern, gehängten Predigern und Cartoon-Sheriffs. Warum konnte er nicht eine Frau mögen, mit der er seit Jahren gearbeitet hatte? Auch wenn sie auf ihn geschossen hatte? Er kannte Männer, die schlimmer behandelt worden waren.

Sheila blickte ihn für einen Augenblick an und musste seinen seltsamen Gesichtsausdruck bemerkt haben. Sie blickte noch einmal zu ihm. »Was guckst du so?«

»Wegen dir.«

Sie schenkte ihm ein müdes Lächeln. »Lad einfach nach.«

»Jawoll, Sir«, sagte er und mühte sich damit ab, die Patronenschachtel zu öffnen, die sie auf den Sitz geworfen hatte. Sie bog vom Highway auf eine schmale Straße ab, die asphaltiert aber unmarkiert war. Frank blickte nach oben zu den trüben Sternen. Hochnebel hing am Himmel und der Dreiviertelmond über den Wolken war von bläulichen Wolken umgeben.

»Sheila?«, sagte er. Es war das erste Mal, dass er ihren Namen laut ausgesprochen hatte. Zumindest zu ihr. Er hatte ihn ein paar Mal geübt, in seinem Apartment in den frühen Morgenstunden zwischen den Alpträumen.

»Was?«, fragte sie.

»Was werden wir machen, wenn wir an der roten Kirche sind?«

»Du bist der Sheriff«, sagte sie.

»Ich meine, wie tötet man einen Geist?«

»Gute Frage«, antworte sie.

Sie fuhren schweigend, während Frank ungeschickt die verbrauchten Patronenhülsen aus der Trommel entfernte und den Revolver mit seiner guten Hand nachlud. Dann gab er ihn Sheila zurück.

»Fühlst du dich besser?«, fragte er, nachdem sie ihn zurück in ihren Schulterhalfter gesteckt hatte.

»Nein«, sagte sie. »Was ist mit dir?«

Seine Schulter pulsierte noch immer mit jedem Herzschlag, aber der Schmerz war nun nur eine Art Hintergrundgeräusch, ein geistiges weißes Rauschen. »Ich werde es überleben. Mehr oder weniger.«

Die Sprecherin der Einsatzleitstelle ertönte aus dem Funkgerät. »Leitstelle an Einheit Zwei. Einheit Zwei, bitte melden.«

Frank schaltete das Funkgerät aus.

Sheila blickte ihn an, während ihre Hände das Lenkrad umklammert hielten. »Tippe, wir ziehen das ohne Verstärkung durch?«

»Sieht so aus, als ob das die Regeln sind.«

Ihre nächste Frage ließ ihn den Atem anhalten. »Glaubst du an Gott?«

»Klar«, antwortete er, ohne nachzudenken. »Jesus Christus ist unser Herr und Heiland.«

»Nein«, sagte sie. »Ich meine wirklich glauben.«

»Hör zu, wenn du denkst, dass Archer der Teufel ist und das hier die letzte Schlacht zwischen Gut und Böse–«

»Sei kein Idiot, Frank«

»Ich glaube nicht, dass es so einfach ist«, sagte er. »Wie Gott ist gut und der Teufel ist böse. Einer hat Recht und der andere liegt falsch. Kennst du irgendetwas, dass so eindeutig ist?«

»Nun, wir sind ja nur Menschen«, sagte sie mit einer Portion Sarkasmus. »Was zum Teufel wissen wir schon?«

»Archer sagt, dass es das Fleisch selbst ist, das zur Sünde führt«, sagte Frank und fragte sich, wo er diesen Brocken Weisheit aufgesammelt hatte. »Das Herz ist rein, aber das Fleisch bringt uns die Probleme.«

»Archer sagt eine Menge Dinge.« Sheila nahm Tempo weg und bog auf die Schotterstraße ab, die nach Whispering Pines führte. Der Fluss funkelte unterhalb der Straße, das Silber des Monds sprenkelte seine Oberfläche. Sie fuhren um eine Kurve und die dunkle Form der Kirche zeichnete sich auf dem Hügel vor ihnen ab.

»Wird schon schiefgehen!«, sagte Frank, dessen Stimme über dem Schotter, der unter den Rädern knirschte, kaum zu hören war.

»Was ist unser Plan?«

Frank blickte auf die langen, dunklen Finger des Hartriegels, auf den schwarzen Glockenturm, auf die weißen Knochen der Grabsteine. Gestalten bewegten sich bei der Kirche und Autos füllten die Zufahrt. Archers Herde sammelte sich.

»Wenn ich einen habe, wirst du die erste sein, die davon erfährt«, sagte er.

Es geschah so plötzlich, dass es in Zeitlupe abzulaufen schien.

Er schrie, Sheila bremste, der Streifenwagen rutschte seitwärts. Sie ruderte mit ihren Ellbogen, als sie mit dem Lenkrad kämpfte, um dem Jungen auszuweichen, der mitten auf der Straße stand. Durch die Wucht wurde Frank gegen Sheila geschleudert und sie verlor die Kontrolle. Der Wagen rutschte über den losen Schotter auf den unbefestigten Seitenstreifen und dann die Böschung hinunter in den schwarzen Fluss.

Franks Kopf knallte gegen das Armaturenbrett, dann gegen die Decke. Er griff nach Sheila, als sich das Metall verbog, Glas zersplitterte und sich die Welt überschlug. Als seine Gedanken schwarz und blau wurden, klammerte er sich an das Bild von Samuel, der auf der Straße stand, die Arme zu einem Willkommensgruß ausgebreitet, mit einem Lächeln, aus dem Würmer krochen.

Dann: nasse Dunkelheit.

Dunkle Zeiten: Die ultimative Thriller-Collection
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