Kapitel 8
Frank Littlefield überquerte mit seinem Isuzu Trooper den Hügel und blinzelte gegen das Morgengrauen, als er sich in das Tal von Whispering Pines hinunterschlängelte. Er hatte die Fensterscheiben heruntergekurbelt, weil der Geruch des grünen Frühlings so weit von der Stadt weg viel intensiver war. Die vereinzelten Häuser standen abseits der Straße; Weiden und Tabakfelder wurden durch Parzellen von Laubwäldern unterbrochen. Unten bildeten das Grau und das Braun von Scheunendächern kleine Rechtecke in der Flussniederung. Kühe flanierten an den Grenzzäunen entlang. Sie bewegten sich so verschlafen und gemächlich wie der Fluss, mit Köpfen, die alle in die gleiche Richtung schauten.
Ihm kamen ein paar Fahrzeuge entgegen, deren Insassen dunkle Anzüge oder gestärkte Kleider trugen und sorgfältig gekämmt oder gebürstet waren. Sie waren auf dem Weg nach Barkersville, zum Gottesdienst. Sonntag sollte ein heiliger Tag sein, ein Tag der Ruhe und der Gemeinschaft, mit Backhuhn und Sportübertragungen im Fernsehen. Kein Tag des Todes.
Er erreichte die Talebene und bog in den Schotterweg ab, den er nur allzu gut kannte. Ein Junge angelte von der einspurigen Brücke und Littlefield verlangsamte das Tempo seines Troopers, um so wenig Staub wie möglich aufzuwirbeln. Der Sheriff warf einen Blick auf die Stringer-Schnur des Jungen, um herauszufinden, ob die Forellen anbissen. Die Schnur war schlaff. Sogar die Fische waren heute faul.
Er fuhr um eine Kurve und die rote Kirche wurde sichtbar. Aus dieser Entfernung schien das Gebäude ein Gesicht zu haben. Die Fenster waren wie flache Augen, der Dachvorsprung brütende Augenbrauen, das ungleichmäßige Fundament aus Steinen das bösartige Grinsen abgebrochener Zähne. Die Kirche blickte finster, überheblich und hasserfüllt auf ihrem Friedhofshügel. Littlefield wandte den Blick ab, um das Bild des am Dachvorsprung hängenden Samuel loszuwerden.
Ein Streifen gelben Plastikbands am unteren Ende des Friedhofs markierte den Ort, an dem Boonie Houck gestorben war. Betreten verboten, befahl das Polizeiplastikband. Wie ironisch, dass diese Anweisung immer ein wenig zu spät kam. Wenn die Absperrung nur schon vor einer Woche dort gewesen wäre. Dann würde Boonie jetzt vielleicht mit einem Kater aufwachen, anstatt auf einer Metallbahre in einem Schließfach beim Landesgerichtsmediziner zu schlafen.
Alles, was wir tun müssen, ist die ganze Welt absperren. Kleine gelbe Streifen für jeden.
Ein Truck war am Eingang zur Kirche geparkt. Es war Lesters Dodge für die Viehtransporte. Heuballen stapelten sich auf der Ladefläche. Lester arbeitete sonst nie sonntags. Die einzige Gelegenheit, bei der er einen Morgengottesdienst verpasste, war, wenn er im November auf den Tabakmarkt in Durham fahren musste.
Littlefield entschloss sich zu einem weiteren Gespräch mit Lester. Storie wartete auf ihn auf Zeb Potters Farm, aber nach allem, was sie ihm heute Morgen am Telefon gesagt hatte, gab es nicht mehr viel, das Littlefield für den alten Farmer tun konnte. Und der Sheriff hatte das Gefühl, dass das, was an der roten Kirche vor sich ging, eine Verbindung zum Mord letzte Nacht haben könnte. Denn Zeb Potter war definitiv nicht von einem Puma angegriffen worden. Es sei denn, die hatten gelernt, wie man mit einem Vorschlaghammer umging.
Er bog in den Weg ab, der als Zufahrt zur Kirche diente, und parkte neben dem Dodge. Lester stand am Eingang der Kirche und hielt einen Ballen gelb-braunen Heus in seinen behandschuhten Händen. »Tag, Sheriff. Sie scheinen ein häufiger Gast hier zu werden.«
»Ein bisschen zu häufig«, antwortete Littlefield, während er aus seinem Trooper ausstieg. Er blickte den Hartriegel hoch, zu den dünnen schwarzen Zweigen, die niemals abzusterben schienen. Dann wollte er seine Augen auf den Glockenstuhl richten, erwischte sich aber dabei und lenkte seine Aufmerksamkeit zurück auf Lester. »Ich tippe, der Verkauf wurde abgeschlossen.«
»Aber ja. Ich hab nicht mehr so viele Nullen gesehen seit meinem letzten Zeugnis, damals in der vierten Klasse.« Lester entsorgte den überflüssigen Tabakspeichel aus seinem Mund.
Jemand kam aus dem Altarbereich. Es war die Frau von Day, die Mutter der Jungs, die Boonies Leiche gefunden hatten. Ihr Haar wurde von einem roten Kopftuch aus ihrem Gesicht gehalten und ihre Hemdsärmel waren hochgekrempelt. Stücke von Halmen hingen am Flanell.
»Hallo, Sheriff«, sagte sie. Sie warf einen Heuballen auf den Viehtransporter und wollte wieder zurück in die Kirche gehen.
»Guten Morgen, Ma’am. Wie geht es Ihrem Jungen?«
Sie wirkte zunächst etwas verwirrt, so als ob sie nicht wüsste, wovon er sprach. »Ronnie? Oh, dem geht’s gut. Ganz gut. Sie erholen sich schnell in dem Alter.«
So schnell, dass du dich davonmachen und sie unbeaufsichtigt lassen kannst? »Freut mich, das zu hören, Ma’am. Und was ist mit dem Kleinen?«
»Timmy geht’s auch gut. Er ist zu Hause und passt für mich auf.«
»Hat er sich noch an irgendetwas erinnert? Etwas, das uns weiterhelfen könnte?«
Sie blickte Lester an, dann ins dunkle Innere der Kirche. »Ich denke, es ist am besten, wenn er das Ganze vergisst, oder?«
»Vielleicht.« Wer oder was war in der Kirche und machte sie so nervös? Und was machte sie überhaupt hier? Für Littlefield schien die Arbeit mehr als die übliche Nachbarschaftshilfe zu sein.
Lester schielte hoch in die Sonne. »Entschuldigen Sie uns, Sheriff. Wir haben zu tun.«
»Klar. Aber eines noch. Haben Sie letzte Nacht was gehört?«
Lesters Augen richteten sich für einen kurzen Moment fast unmerklich auf den Glockenstuhl. Fast unmerklich. »Nein. Ich habe geschlafen wie ein Murmeltier im Winterschlaf. Warum?«
»Ich dachte, Sie hätten vielleicht etwas gehört. Und Sie, Mrs. Day?«
Die Frau lehnte im Türrahmen und biss sich auf die Lippe. »Etwas gehört? Woran denken Sie?«
»Vielleicht etwas von Ihrem Nachbarn? Von der Potter-Farm?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, Sheriff.«
Er bewegte sich näher zu den Stufen, die in die rote Kirche führten, wobei er einen Bogen um den Hartriegel machte. Die Luft, die aus der Kirche kam, war kühl, obwohl Licht durch die Fenster ins Innere fiel. Lester und Linda traten neben einander, als ob sie ihm den Weg versperren wollten.
»Jemand hat letzte Nacht Zeb Potter getötet.« Der Sheriff beobachtete ihre Reaktionen. Lester begann, seinen Tabak schneller zu kauen. Linda Day blickte in Richtung der Potter-Farm.
»Ich tippe, diesmal war es mit Sicherheit kein Puma, oder?«, sagte Lester.
»Nicht nach Meinung meiner Leute. Zeb wurde mit einem Vorschlaghammer erschlagen.«
»Huh. Wissen Sie, wer es war?«
»Noch nicht. Wir versuchen, Fingerabdrücke zu finden.« Aber Littlefield vermutete, dass sie keine Hinweise finden würden. Keine Fingerabdrücke, keine Fußspuren, keine Kleidungsfasern. Und keine Zeugen. »Ich frage mich, ob Sie letzte Nacht die Glocken läuten gehört haben.«
Dank seiner Erfahrung wusste Littlefield, wenn eine Person dabei war zu lügen. Und Lester erfüllte die Kriterien. Die Nasenlöcher des alten Farmers blähten sich leicht aus Empörung, er atmete tief ein, seine Augen blickten nach links und rechts, und er stand ein wenig aufrechter. »Wie ich Ihnen gesagt habe, ich habe geschlafen wie ein Toter.«
Der Sheriff nickte. »Und was ist mit Ihnen, Ma’am? Oder Ihrem Mann?«
Sie war eine bessere Lügnerin als Lester. Vielleicht hatte sie reichlich Übung. »Nun, ich hatte gestern Abend die meiste Zeit über das Radio an, zumindest bis ich eingeschlafen bin. Ich hätte nichts hören können. David hat ... geschlafen.«
»Ich verstehe. Nun, ich denke, ich mache mich wohl besser auf den Weg zu Zebs Farm.«
Er fing an sich umzudrehen, blickte dann aber plötzlich die beiden an im Versuch, sie unvorbereitet zu erwischen. »Haben Sie was dagegen, wenn ich einen kurzen Blick in die Kirche werfe? Sie wissen, falls der Killer hier war. Ich beginne zu vermuten, dass die gleiche Person, die Zeb ermordet hat, auch Boonie auf dem Gewissen hat.«
Schweiß glänzte unter Lesters Augen. Er zog an den Trägern seiner Latzhose. »Nun, Sheriff, mir macht es ja nichts aus, aber die Kirche gehört mir nicht mehr. Ich weiß nicht, ob ich Sie reinlassen darf, wenn Sie keinen Durchsuchungsbefehl haben.«
Eine weiche Stimme erklang aus dem Inneren der Kirche. »Aber, aber, Lester. Unsere Kirche ist immer offen.«
Lester und Linda traten zur Seite und standen neben der Tür wie zwei Löwen aus Stein am Eingang einer Bibliothek.
Ein Mann trat ins Tageslicht. Er war großgewachsen, mit dunklem lockigem Haar und gesunder, sonnengebräunter Haut. Seine Wangen warfen Falten, wenn er lächelte, aber seine tiefbraunen Augen waren undurchschaubar. Er trug ein weißes Baumwollhemd und eine graue Krawatte, und hatte Lederschuhe an, die etwa einen halben Monatslohn Littlefields wert waren.
»Eine Kirche sollte niemanden abweisen, vor allem keinen Mann, der auf der Suche nach der Wahrheit ist«, sagte der Fremde. Ein Hauch von Herrenduft ging von ihm aus, doch unter dem würzigen Moschus verbarg sich ein beunruhigender Geruch, den Littlefield nicht einordnen konnte. Der Mann neigte sich nach vorne und streckte eine Hand aus. »Sheriff Littlefield. Ich bin froh, dass sich in diesen unsicheren und gefährlichen Zeiten ein fähiger Mann wie Sie um die Ermittlungen kümmert.«
Littlefield ging die Treppe hoch. Die Hand des Predigers war so kalt wie die eines Fisches. »Es freut mich, Sie kennen zu lernen, äh...«
»Es ist lange her. Fast ein ganzes Leben.«
Nun kam ihm das Gesicht bekannt vor. McFall. Nur, dass er nicht in sich zusammengesackt war wie die anderen McFalls, nicht diese verschlagene Art hatte, sich zu bewegen, diese fast schon kauernde Haltung, die den Angehörigen der Familie McFall eigen war als Resultat davon, dass sie unaufhörlich brüskiert und herumgeschubst wurden. »Ich bin Archer McFall«, sagte er mit einer Stimme, die einem Gebrauchtwagenverkäufer alle Ehre gemacht hätte.
»Archer. Lester hat mir gesagt, dass Sie wieder hierherziehen werden.« Littlefield blickte zu Lester, der sich plötzlich überaus interessiert an der abblätternden Farbe der Ladefläche seines Transporters zeigte.
»Nun, Sheriff, jeder liebt diese Berge«, sagte Archer. »Sie gehen einem ins Blut über.«
»Und Sie haben diese Kirche hier gekauft?«
»Ja, Sir. Ich werde sie wieder öffnen. Gottes Werk wurde in dieser Gegend zutiefst vernachlässigt. Die Menschen haben ein tiefes Bedürfnis nach seiner Botschaft und seinem Willen. Dass wir einen Mörder unter uns haben, ist nur ein weiteres Zeichen dafür, wie tief wir gefallen sind.«
Littlefield nickte. Er wusste nie, wie er sich in Gegenwart eines Predigers verhalten sollte. Er hatte immer einen Anflug von Schuldgefühlen wegen seiner Sünden und seiner unregelmäßigen Gottesdienstbesuche, aber normalerweise strahlten Geistliche eine Aura nachsichtiger Ruhe aus. Mit Archer fühlte er nichts als die Schuld.
»Kommen Sie herein, Sheriff. Stellen Sie sicher, dass sich hier kein Mörder verbirgt. Wir können nicht zulassen, dass sich ein Satan im Haus Gottes verbirgt.«
Plötzlich wollte der Sheriff nicht mehr eintreten. In seinem Inneren konnte er das flattrige Halloween-Gelächter seiner Kindheit hören. Die Bretter bewegten sich hin und her, sie griffen nach ihm, die Kirchentür war ein Mund, er würde verschluckt werden wie Jonas, der im Bauch des Wals landete. Wie sein Bruder Samuel.
Er schwankte benommen und fühlte den festen Griff des Predigers an seinem Unterarm. »Geht es Ihnen gut, Sheriff?«
»Uhh...« Littlefield rieb sich die Schläfen. »Zu wenig Schlaf in der letzten Zeit. Diese verdammten – entschuldigen Sie, Pastor – diese vermaledeiten Mordfälle scheinen mir zu schaffen zu machen.«
»Es liegt Ruhe im Gebet, Sheriff. Sie werden den Mörder finden. Alles zu Gottes Zeit.«
Littlefield fühlte, wie sich seine Füße nach vorne bewegten, fast gegen seinen Willen, und dann war er in der Kirche. Das meiste Heu war schon verschwunden. Die handgemachten Bänke, die am Vortag noch an einer Wand aufgestapelt gewesen waren, befanden sich nun unregelmäßig über den Boden verteilt. Besen, Heugabeln, Wischlappen und Eimer waren im Altarbereich verstreut. Der Raum roch nach Kerzenwachs. Sie hatten an diesem Morgen viel geschafft.
Oder hatten sie die Nacht über gearbeitet?
Hinter ihm nahmen Lester und Linda ihre Arbeit wieder auf. Eine Frau erschien aus dem kleinen Seitenflügel neben dem Podium. Littlefield kannte ihr Gesicht, aber er wusste ihren Namen nicht. Sie nickte ihm kurz zu und begann dann, das Pult abzustauben. Littlefield hatte das Gefühl, niesen zu müssen, aber er rieb seine Nase so lange, bis der Drang vorüber war.
»Sieht so aus, als ob Sie bald für einen Gottesdienst bereit sein werden«, sagte Littlefield.
»Es gibt verschiedene Arten von Dienst, Sheriff. Ich arbeite für Gott, Sie arbeiten für die Menschen. Aber auf gewisse Weise sind wir uns sehr ähnlich.«
»Auf welche Weise?«
»Wir wissen beide, dass diese Kirche mehr ist als nur Nägel und Kastanienholz und geriffeltes Glas.«
Littlefield versuchte erneut, in den Augen des Mannes zu lesen. Die Iriden glitzerten wie trübe Diamanten mit vielen Facetten und hinter jeder Facette verbarg sich ein Geheimnis. Archer war sicherlich sehr gut mit den Legenden vertraut, die über Generationen hinweg in seiner Familie weitergegeben wurden. Sie waren die Ursache, weshalb Archer als Kind verprügelt wurde. Dass er nach solch einem Leiden noch seinen Glauben an Gott bewahren konnte, war an sich schon ein Wunder.
»Mein Vater hat immer gesagt: ›Es sind die Menschen, die eine Kirche ausmachen‹«, sagte Littlefield.
Archer lächelte und präsentierte dabei perfekte weiße Zähne. »Er war ein weiser Mann.«
»Haben Sie keine Angst davor, was die Leute sagen werden, wenn Sie die Kirche wieder öffnen?«
»Gott hat Daniel aus der Löwengrube gerettet. Er hat Isaak vom Opferaltar Abrahams gerettet. Warum sollte ich weniger erwarten?«
»Nun, zum Einen kam es für Abraham nie hart auf hart, weil er den Todesstoß nicht ausführen musste. Und Daniel hatte keinen Ururgroßvater namens Wendell McFall.«
Der Prediger ließ ein Lachen ertönen, das tief aus seinem Zwerchfell kam. Das Geräusch wurde im hölzernen Gewölbe der Kirche zurückgeworfen, die Akustik verstärkte die Kraft von Archers Stimme. »Ah, die Skandale und Geistergeschichten«, sagte er. »Es gibt nur einen Geist hier, und das ist der Heilige Geist. Und was den Rest anbetrifft, ich hoffe, dass durch die Legenden ein paar Neugierige in unsere Gottesdienste gelockt werden. Es gibt viele Pfade zu dem einen wahren Weg.«
»Amen.« Littlefield ging zum Podium. Das Geräusch seiner Stiefel hallte im Hohlraum der Kirche. Er lehnte sich über das Geländer vor der Kanzel. Der Fleck war noch da. Littlefields Schwindelgefühl kehrte zurück, als er versuchte, die willkürliche Form mit einem Bild in Verbindung zu bringen.
Und er sah, dass es die Form eines Engels war oder eines Glockenmonsters, beflügelt und grausam, mit zackigen Klauen und...
Na klar. Klingt wie etwas, das sich der Anwalt eines Mörders ausdenken würde. Es ist nur ein Fleck, alte Farbe oder sowas.
Er war größer als am Vortag, wirkte aber immer noch so verwittert, als ob der Fleck vor langer, langer Zeit in den Boden eingebettet worden wäre. Und Littlefield fragte sich, ob er vor Boonies Tod nicht noch kleiner gewesen war. Als ob...
Er wollte seinen abergläubischen Anwandlungen keine Legitimität zukommen lassen. Dass er Detective Storie von den Geistern erzählt hatte, war schon idiotisch genug. Aber nun, als sich der Gedanke formulieren wollte, distanzierte er sich von ihm und untersuchte ihn auf rationale Weise.
... als ob der Fleck aus dem Blut seiner Opfer besteht.
Da. Nun, da er es zugegeben hatte, schien es ungefährlich und völlig blödsinnig. Es trieb kein psychopathischer Killer sein Unwesen, sondern etwas Schlimmeres, das irgendwie Arme und Hände und Augen und eine Seele gefunden hatte.
Eine Seele.
»Sehen Sie irgendetwas Ungewöhnliches, Sheriff?«
Archers Stimme zog ihn aus einem See des Schwindelgefühls. Er blickte wieder in diese braunen Augen, Augen, die nun so stumpf und verblichen waren wie das alte Gebälk der Kirche. Irgendeine berühmte Person hatte gesagt, dass Augen die Fenster zur Seele seien. Nun, Archers Fenster bedurften einer gründlichen Reinigung. Nur, dass man dann vielleicht hinein sehen konnte.
»Ich glaube nicht, dass Sie sich Sorgen machen müssen«, sagte Littlefield. »Jetzt, wo Sie hier aufgeräumt haben, gibt es keinen Platz mehr für einen Killer, sich zu verstecken.«
Wenn er sich überhaupt versteckt.
Archer lächelte, während er mit vor der Brust verschränkten Armen dastand. Er war größer als der Sheriff. »Ich mache mir niemals Sorgen. Sie wissen doch, Gott ist auf meiner Seite.«
»Ja, aber ist das nicht das, was auch die andere Seite immer sagt?«
Archer lachte noch einmal. »Wie wahr, Sheriff. Wie wahr.«
Littlefield ging zum Eingang zurück, während Archer ihm folgte. »Als ich jung war, habe ich hier den Gottesdienst besucht«, sagte Littlefield. »Damals, als es noch die Baptistenkirche von Potter’s Mill war.«
»Oh, wirklich? Dann muss der Aufenthalt hier drinnen viele Erinnerungen in Ihnen wecken.«
Littlefield antwortete nicht. Er hielt in der Vorhalle an und blickte zu dem quadratischen Loch in der Decke hoch. »Werden Sie ein neues Glockenseil anbringen?«
»Früher oder später, ja. Und ich hoffe, dass niemand aus der Gemeinde auf die verrückte Idee kommt, den Prediger aufzuknüpfen.«
»Gott hat Abrahams Messer gestoppt.« Lester und die Frau von Day standen im Eingang. Sie wichen zurück, als er wieder in den Sonnenschein hinausging. »Danke für Ihre Zeit. Ich vermute, ich sollte nun besser zu Zebs Farm rüberfahren.«
Als Littlefield in seinen Trooper stieg, rief ihm Archer von der Treppe aus zu. »Sagen Sie, Sheriff, warum kommen Sie nicht einmal zu einem unserer Gottesdienste?«
»Wann?«
»Der erste ist heute um Mitternacht.«
Mitternacht. Wann sonst. Nichts im Zusammenhang mit dieser Kirche konnte normal sein.
Vielleicht würde er wirklich einen ihrer Gottesdienste besuchen, dachte sich Littlefield, als er davonfuhr. So verrückt das auch war, vielleicht würde er es tun.
Das Ding mit den Flügeln und Klauen und Lebern statt Augen tickte mit spitzen Knochen gegen Ronnies Fenster. Kannst du ihn anklopfen hören?
Ronnie war unter dem Gewicht der Bettdecke gefangen, in seinem eigenen Schweiß gefroren, um das kleine Feuer in seinem Bauch verkrampft. Schließ deine Augen und es wird verschwinden. Schließ deine Augen–
Seine Augen waren schon geschlossen. Er öffnete sie.
Das Sonnenlicht, das durch das Fenster hereinschien, verursachte ihm Kopfschmerzen. Er hatte so lange geschlafen, dass er sich für eine Minute nicht mehr daran erinnern konnte, wo er eigentlich war. Außerdem hatte er wirklich komische Träume gehabt, von der roten Kirche und einem sich bewegenden blutigen Ding und irgendetwas mit seiner Mom.
»Mom?«, rief er mit trockener Kehle.
Seine Nase tat heute nicht mehr so sehr weh, aber er fühlte sich, als ob jemand sein Gesicht mit einer Luftpumpe aufgepumpt hätte. Er leckte sich die dicken Lippen. »Mom?«
Tim kam ins Zimmer, noch im Schlafanzug. Und er aß Kekse mit Schokoladensplittern. Mom würde die Rotznase umbringen, wenn sie ihn dabei erwischte, wie er so früh am Tag schon Kekse aß. Aber nach den furchterregenden Träumen war Ronnie irgendwie sogar froh, seinen Bruder zu sehen, auch wenn er das nicht einmal in einer Million Jahren zugeben würde.
»Wo ist Mom?«, fragte Ronnie.
Tim zuckte mit den Schultern. Sein Bauchnabel guckte unter seinem Oberteil hervor. »Hab sie heute Morgen noch nicht gesehn.«
»Wie spät ist es?« Ronnie stöhnte, als er versuchte sich aufzusetzen, und ließ sich in die Kissen zurückfallen.
»Bald elf.«
»Elf?« Das bedeutete, dass Mom wieder die Kirche schwänzte. Es war das erste Mal seit der Zeit, als Tim noch ein Baby war, dass sie zweimal hintereinander nicht in die Kirche ging. Nicht, dass es Ronnie sonderlich störte, denn sein Sonntagsschullehrer, Prediger Staymore, sagte ihm normalerweise, dass er gerettet werden müsse, um ihn dann warten zu lassen, während alle anderen zum Gottesdienst in die Kirche gingen.
Prediger Staymore würde sich dann neben Ronnie setzen und den Geist von Jesus Christus bitten, in Ronnies Herz einzuziehen, damit dieses Kind gerettet werde, und auch wenn Jesus kleine Kinder mochte, gab es nur einen Weg zum Seelenheil und das war der über das Blut des Herrn. Und Prediger Staymore würde zittern und seine Hand auf Ronnies Kopf legen und die Gnade und die Macht und die Güte anrufen, und dann würde er Ronnie fragen, ob er den Herrn anklopfen hören konnte. Und während der ganzen Zeit würde Ronnie darüber nachdenken, wie sehr der Atem von Prediger Staymore wie ein Korb verrotteter Früchte stank.
»Kannst du ihn anklopfen hören?«, würde der Prediger mit glänzenden und gläsernen Augen fragen. »Er möchte einziehen. Und alles, was du tun musst, ist sagen: ›Komm herein, Jesus. Komm in dieses mein jämmerliches sündiges Herz und reinige es.‹ Wenn du diese Kleinigkeit nicht tust, dann brauchst du auch nicht heulend zum Herrn zu rennen, wenn der Teufel kommt, um dich in die Tiefen der Hölle zu zerren.«
Und Ronnie würde Angst haben. Diese Botschaft sorgte im Verbund mit dem beißenden Atem des Predigers dafür, dass er sich so schnell wie möglich einverstanden erklärte, gerettet zu werden, den Herrn sein ewiges Licht in die Dunkelheit von Ronnies Herz scheinen zu lassen, die Tür weit aufzureißen und zu sagen: »Komm herein, komm herein, komm herein!«
Gerettet zu werden erfüllte ihn immer mit einer gewissen Wärme, so als ob wirklich etwas in sein Herz einziehen würde. Aber das Gefühl verflüchtigte sich und er würde wieder seine sündigen Verhaltensweisen annehmen. Prediger Staymore sagte, dass es zwei Arten der Sünde gab: diejenigen des Fleisches und diejenigen des Geistes. Ronnie vermutete, dass die Sünden des Fleisches etwas mit nackten Frauen wie denjenigen in Boonies Zeitschrift zu tun hatten, aber seine eigenen Sünden waren in erster Linie die des Geistes. Dennoch, jede Art von Sünde sorgte dafür, dass sein Herz schneller schlug, und vielleicht vertrieb das den Herrn, all der Lärm und der Tumult in seiner Brust.
Deshalb spürte Prediger Staymore alle paar Wochen, dass Ronnie wieder einmal gerettet werden musste. Ronnie hatte genug Angst vor dem Höllenfeuer, um es nicht darauf ankommen zu lassen, auch wenn er sich manchmal fragte, warum der Herr, wenn er so gnädig war, Leute an so einen schlechten heißen Ort schickte. Und wenn die Sünder in die Hölle mussten, warum war dann Jesus überhaupt für sie gestorben? Und wenn der Herr allmächtig war, warum machte er dann die Menschen nicht so, dass sie nicht sündigten? Und wenn er schon wusste, was in den Herzen der Menschen geschah, warum musste es dann einen Tag des Jüngsten Gerichts geben, wenn alle Sünden offenbart wurden?
Aber diese Art von Gedanken waren Sünden des Geistes und führten nur dazu, dass er wieder einmal gerettet werden musste. Ronnie wollte jetzt nicht auch noch darüber nachdenken. Er hatte genug Probleme, wie beispielsweise eine gebrochene Nase, Eltern, die sich getrennt hatten, die furchteinflößende roten Kirche und schlimme Träume.
»Hast du Mom gesehen?«, fragte er Tim.
Tim biss einen Halbmond in den Keks und schüttelte den Kopf. »Nicht seit gestern Abend«, antwortete er und spuckte Kekskrümel auf den Boden, während er sprach.
»Verflixt.«
»Die Polizei ist wieder hier.«
Ronnie setzte sich auf. »Hier?«
»Nein. Sie sind drüben bei Mr. Potter?«
»Mr. Potter? Ich tippe, der Sheriff wollte ihm vielleicht noch ein paar Fragen stellen.«
Tim schüttelte den Kopf. Mit seinem Topfschnitt sah er aus wie eine Schildkröte. »Glaub ich nicht. Sie hatten ihr Blaulicht an, als sie hingefahren sind. Und ich hab den Krankenwagen neben dem Stall gesehen.«
»Du willst mich verarschen.«
Tims Augen wurden größer hinter den Gläsern seiner Brille. »Nein, will ich nicht. Guck selbst nach.«
Ronnie quälte sich mit einem Stöhnen aus dem Bett. Er lehnte sich an das Geländer des oberen Betts, denn nach zwei Tagen im Bett war ihm schwindelig. Durch das Fenster konnte er zwei Polizeiautos bei der Potter-Farm sehen. Der Wagen des Sheriffs parkte neben dem Haus. Einer der Polizisten ging gerade zum Stall und die Sonne wurde von seinen Handschellen und seinen schwarzen Schuhen reflektiert.
»Glaubst du, ...?«, fragte Ronnie.
»Dass das, was Boonie Houck erwischt hat, auch Mr. Potter erwischt hat?« Tim klang beinahe erfreut über die Aussicht. »Das wäre echt cool. Wie in einem dieser Filme, die uns Mom nicht angucken lässt.«
Ronnie erinnerte sich an seinen Traum. Vielleicht war es einfach wieder nur seine überaktive Fantasie. »Hast du letzte Nacht irgendwas gehört?«, fragte er, bemüht so zu klingen, als ob es ihm eigentlich völlig egal sei.
»Nicht wirklich. Ich hab Glockenläuten gehört. Ich weiß nicht, um wieviel Uhr, aber es war schon dunkel.«
»Ich hoffe, Mom geht’s gut.« Klar, Mom würde es gut gehen. Nichts würde ihr etwas anhaben können.
Nicht einmal das Ding, das Flügel hatte und Klauen und Lebern statt Augen.
Ronnie dachte an die Worte von Prediger Staymore: Kannst du ihn anklopfen hören? Er möchte einziehen.
Niemals im Leben würde er dieses Ding hereinkommen lassen.
Er zitterte im Licht der Sonne.