16. KAPITEL

 

Carlita hatte Joshua mit vierzehn entjungfert, im selben Alter, als Jacob die dumpfe Brutalität des Alkohols entdeckte.

Auf der anderen Seite des Hügels, am südlichen Ende des Anwesens von Warren Wells, standen ein paar zerbeulte Wohnwagen. Hier hausten die Mexikaner, die auf den Weihnachtsbaumplantagen arbeiteten. Sie versprühten Pestizide und pflanzten die Setzlinge, die die geschlagenen Fichten und Tannen ersetzten. Viele der Arbeiter hatten nur ein Kurzzeit-Arbeitsvisum. Sie nahmen jede Saison eine dreißigstündige Busfahrt auf sich, um gute amerikanische Dollar zu verdienen. Die illegalen Ausländer waren billig und beschwerten sich nie über schlechte Arbeitsbedingungen. Wenn einer der Arbeiter keine Lust mehr hatte und » No más « sagte, reichte er seine Papiere oft einfach weiter und nahm einen früheren Bus zurück nach Guadalajara.

»Wer kann schon einen José von einem Joaquín unterscheiden?«, pflegte Warren Wells in seiner unschlagbaren Logik zu sagen. »Für mich sind das alles braune Bohnenfresser.«

Die Zwillinge waren fasziniert von dem kleinen Clan der Fremden, die ihre unmittelbaren Nachbarn waren. Jacob durfte den Weihnachtsbaumplantagen nicht zu nahe kommen, wegen der Pestizide, deren Gestank die Luft noch wochenlang nach dem Versprühen verpestete. Mutter hatte ihn oft vor den Schlägereien der Betrunkenen in Piney Flats gewarnt, und sie bettelte ihren Mann immer wieder, »ehrliche weiße Männer« einzustellen, die in die Baptistenkirche gingen. Wenigstens trugen die ihre Saufereien und Schlägereien hinter verschlossenen Türen aus, wo sie auch hingehörten. Solche Gespräche beim Abendessen heizten Jacobs Vorstellungskraft an, und die dunkelhäutigen Männer, die sich wie Geister zwischen den Tannen bewegten, nahmen für ihn geheimnisvolle Züge an. Später, nach Mutters Tod, genossen die Zwillinge immer größere Freiheiten, denn Warren Wells war mit dem Ausbau seines ständig wachsenden Imperiums beschäftigt.

In einer Julinacht hatte er mit Joshua über die Mexikaner gesprochen, einige Wochen vor dem Zwischenfall mit dem Segelboot. Vater stand rauchend auf der Terrasse und blickte über die Berge. Wahrscheinlich schmiedete er Pläne, wie er noch mehr Land kaufen und bebauen könnte. Joshua hatte mit Jacob »Wünsch mir« gespielt, und Jacob hatte geantwortet: »Ich wünsch mir, mal einen Blick ins Mexikanerlager zu werfen.«

»Dafür bist du viel zu feige, Bruder.«

»Nein, bin ich nicht!«

»Du hältst es dort keine fünf Minuten aus. Die machen Hahnenkämpfe und spucken Blut.«

In Jacobs Kopf flammten vage sexuelle Fantasien auf. »Woher weißt du das?«

»Na, was denkst du? Was glaubst du wohl, was ich nach der Schule mache, wenn du hier oben über deinen Hausaufgaben sitzt?«

»Du lügst.«

»Dann wünsch ich mir jetzt was. Zieh deine Hosen und Schuhe an und komm mit.« Joshua setzte sich im Bett auf. Der Sommerhalbmond schien auf seine Schultern, seine Augen glänzten wie feuchte Käfer.

»Vergiss es. Vater bringt uns um.«

»Dazu muss er uns erstmal erwischen.« Joshua schlüpfte in sein Hemd. Er knöpfte es nicht erst zu und zog gleich seine Jeans an. Seine Arme und Beine waren muskulöser als die von Jacob, und der Haarstrang, der sich von seinen Lenden zum Bauchnabel zog, war stärker als der seines Zwillingsbruders. Joshua betonte immer wieder gern, dass er zwar als Zweiter geboren worden, aber als Erster zum Mann geworden war.

Jacob bebte vor Angst, Neugier und Aufregung. Blitzschnell kleidete er sich an. Sie stiegen aus dem Fenster auf das Flachdach, schlichen zur Rückseite des Hauses und kletterten dann an einem langen Metallrohr, in dem die Versorgungsleitungen steckten, hinunter.

Der Tau war kühl und Grillen krabbelten über ihre Beine. Glühwürmchen blinkerten vor dem schwarzen Vorhang des Waldes, ein düsterer Mond versteckte sich hinter kriegsschiffgrauen Wolken. Jacobs Herz hüpfte in seiner Brust wie eine gefangene Ratte, als er mit Joshua an der Scheune vorbeiging und ihm über die Wiesen folgte. Auf der Anhöhe warf er einen Blick zurück und sah ihr Elternhaus mit seinen kleinen gelben Lichtquadraten. Es sah aus wie eine Kulisse, ein lebloses Etwas, das darauf wartete, dass bald etwas passieren würde.

Sie verschwanden in den Bäumen und liefen über einen ausgetretenen Pfad, den die mexikanischen Arbeiter benutzten, wenn sie Werkzeuge aus der Scheune holten. Unterhalb des Weges plätscherte ein Bach, sein silberner Klang spielte vor dem nächtlichen Orchester des Waldes. Das Blätterdach über ihren Köpfen schirmte das Mondlicht fast völlig ab, doch Joshua schien eine Karte und einen Kompass in seinem Kopf zu haben. Er führte Jacob durch das dichte Gewirr aus Eichen, Kastanien und Ahornbäumen. Er brauchte keine Pause, um sich zu orientieren. Schon bald erschienen vor ihnen die geraden Reihen der Fraser-Tannen. Die Bäume waren nur wenig größer als die Jungen. In Kürze würden sie die Sägeblätter zu spüren bekommen. Weiter unten lichteten sich die Bäume und machten Platz für kleine Setzlinge. Auf einer Lichtung standen kastenförmige Anhänger um eine unbefestigte Straße herum.

Aus einem der Anhänger klang durch die geöffnete Tür Lachen und Musik. Jemand rief etwas auf Spanisch, es klang wie ein Fluch.

»Sie spielen Karten«, sagte Joshua. »Das machen sie immer abends in der Woche. Hahnenkämpfe gibt es nur samstagnachts.«

Wie zur Bestätigung von Joshuas Worten krähte ein Hahn, sieben Stunden zu früh. Hinter den Hängern konnte Joshua die grauen Mauern eines Hühnerstalls erkennen. Er bestand aus Stacheldraht, der um krumme Holzpfosten gewickelt war, die Öffnungen waren mit Sperrholz vernagelt.

»Wie oft warst du schon hier?«, fragte Jacob.

»Noch nicht oft genug.«

Sie bückten sich und krochen durch die dünner werdenden Tannenreihen, dann kauerten sie sich hinter einen Strommast, dessen Lampe einen blassblauen Lichtkegel warf. In dem Wagen, aus dem die Geräusche drangen, saßen Männer um einen Tisch herum. Sie trugen keine Hemden, ihre nackte Haut glänzte in der Hitze. Zigarettenqualm waberte aus der Tür und dampfte zum Mond hinauf. Das Klirren der Gläser klang scharf und gefährlich, so als ob die Flaschen bald zerschlagen und als Waffen missbraucht werden würden. Die Männer sprachen in schnellem Spanisch, kloppten Karten und stapelten amerikanische Dollarscheine.

»Sie spielen«, sagte Jacob.

»Ja, und?«

Ein gedrungener Mann mit dickem Bauch trat aus dem Hänger und stand im sanften Lichtschein, der aus der Tür quoll. Um seinen Kopf hatte er ein verblichenes Bandana-Tuch gebunden und rauchte ein kackbraunes Zigarillo. Er räusperte sich lautstark, spuckte in die Dunkelheit, fummelte sich dann an der Hose herum und jagte einen Bogen Pisse über den staubigen Platz.

»Hier rüber«, flüsterte Joshua und kroch zwischen den morschen Sträuchern herum. »Hier geht die Post ab.«

Sie bahnten sich ihren Weg zu einem windschiefen Verschlag neben dem Hühnerstall. Der Schuppen bestand aus krummen Brettern, Dachpappe und aufgequollenem Sperrholz. Joshua öffnete die Tür, die rostigen Angeln quietschten, und Jacob warf noch einen Blick auf den pinkelnden Mexikaner. Der Mann schlug nach einer Mücke, der Pissstrahl sprudelte unkontrolliert aus ihm heraus. Die Jungs gingen in den Schuppen. Nur ein blasser, grauer Schimmer schien zwischen den Ritzen der Wände hindurch.

Jacob stieß sich den Kopf an irgendetwas, das von der Decke baumelte, und eine Ladung Dreck rieselte seinen Rücken hinunter. Er langte nach oben und fasste nach dem ledrigen Etwas. Es waren gesalzene Rippchen, geräuchert und gepökelt und so hoch aufgehängt, dass die Hunde und Ratten nicht rankamen. Der Raum roch nach nassem Heu und altem Motorenöl, die Luft war abgestanden. Joshua ging zur Wand und schob Jacob mit sich vorwärts. Mit seinem Arm tastete er sich an den Lichtfetzen zwischen den Ritzen entlang.

In der Wand war ein Astloch so groß wie eine Dollarmünze. »Billige Peepshow«, sagte Joshua.

Jacob blinzelte durch das Loch und konnte zuerst gar nichts erkennen. Dann merkte er, dass er auf einen der hinteren Wohnwagen schaute. Mit seinem rechten Auge blickte er nach unten und sah ein Fenster, dessen schmutzige Gardine die Szene hinter dem Glas verschleierte. Auf dem Bett saß ein Mädchen mit schwarzen Haaren und schwarzen Augen und las im Kerzenschein ein Buch. Sie trug einen weißen Bademantel, der einen krassen Kontrast zu ihrer braunen Haut bildete. Sie schien etwas jünger zu sein als Jacob und Joshua, doch unter ihrem Bademantel zeichneten sich schon die sanften Rundungen ihrer Brust ab. Ein Zeichen früher Reife.

»Na, was sagst du?«, fragte Joshua triumphierend, als ob er gerade eine Baseball-Sammelkarte mit einem heiß begehrten Superstar ergattert hätte.

Jacobs Herz machte einen schwindeligen Sprung, und doch konnte er seinen Blick nicht von dem Astloch losreißen. Das Mädchen streckte die Beine aus und der Bademantel öffnete sich unterhalb ihrer Hüften. Ein rosafarbenes Unterhöschen kam zum Vorschein. Sie kam wahrscheinlich gerade aus der Dusche, denn die nassen Haare klebten an ihren Wangen. Sie bewegte die Lippen, als ob sie versuchte, die Worte in ihrem Buch laut auszusprechen, und der Anblick ihrer feuchten Zunge verursachte ein elektrisches Prickeln in Jacobs Hose.

»Heiße Tamales, was?«, sagte Joshua. »Mit so was würde man sich gerne mal in einen Burrito wickeln lassen, oder?«

Jacob konnte sich endlich von dem Loch in der Wand losreißen. »Wie lange beobachtest du sie schon?«

»Lange genug. Ich denke mal, sie ist die Tochter von einem der Arbeiter, und sie haben sie mit hier rauf geschmuggelt. Denn die Regierung würde einem minderjährigen Mädchen garantiert niemals ein Arbeitsvisum geben.«

»Eine illegale Einwanderin? Wie in Texas und Kalifornien?«

»Wie überall bis hoch nach North Carolina. Und zwar genau hier im Reich der Wells.«

Jacob sehnte sich nach einem erneuten Blick, auch wenn in seinem Bauch die Schuldgefühle rumorten. Das hier war nicht richtig, es war hinterlistig und falsch. Das taten sonst nur Perverse, solche wie Melvin Ricks, der Schulhausmeister. Er war gefeuert worden, weil er ein Loch in die Wand gebohrt hatte, um in die Mädchenumkleide gucken zu können.

Der Schuppen hatte nur einen Ausgang. »Was, wenn sie dich erwischen?«

»Ich komm immer nur nachts, wenn sie besoffen sind«, sagte Joshua. »Und außerdem, was sollen sie machen? Es meinem Vater erzählen und ihren Job verlieren? Oder mich bei den Bullen verpfeifen? Dann würden die von allen hier die Arbeitserlaubnis kontrollieren und die Hälfte der Bohnenfresser säße prompt im nächsten Bus nach Brownsville.«

Jacob schluckte einen Kloß herunter, der wie ein spitzer Stein in seiner Kehle saß. »Hast du sie schon mal nackt gesehen?«

Joshuas Grinsen blitzte im Dunkeln. »Noch viel besser.«

»Quatsch!«

Joshua klopfte ihm auf die Schulter. »Ich wette zehn Dollar und alle deine Hulk-Hefte!«

»Ich spiele nicht.«

»Wenn du dich 'ne Weile hier rumgetrieben hast, machst du das auch.«

Aus dem Wagen der Kartenspieler hallte ein unverständlicher Schrei, gefolgt von lautem Gelächter. »Klingt, als ob jemand Full House hatte«, sagte Joshua. »Wahrscheinlich hat eines dieser armen Schweine gerade so viel verloren, wie er mit zwei Wochen Ästeschneiden verdient hat. Idioten.«

Jacob hörte es kaum, denn er hatte seine Wange wieder gegen die Wand gepresst. Sein einäugiger Blick kroch durch die Gardine und musterte die Kurven zwischen den Schenkeln des Mädchens. Er spürte einen sanften Luftzug. Joshua hatte die Schuppentür geöffnet. Die Tür fiel mit einem metallischen Klirren ins Schloss, danach hörte Jacob, wie der Riegel zufiel.

»Joshua«, zischte Jacob leise. »Lass mich hier raus!«

»Guck nur schön zu, Brüderchen. Ich zeig dir, was es heißt, ein Wells zu sein!«

Jacob stolperte über Schrotthaufen, Strohbündel und alles, was man zum Zusammenbinden von Weihnachtsbäumen braucht. Dann war er endlich an der Tür. Erst warf er sich mit seinem vollen Gewicht dagegen, dann mit der Schulter. Er wollte nicht zu laut machen, damit die Kartenspieler nicht auf ihn aufmerksam würden. Denn trotz Joshuas beruhigender Worte konnte er sich schon ein paar Dinge vorstellen, wie die Mexikaner ihrem Ärger Luft machen, wenn sie einen perversen Gringo in ihrem Schuppen erwischten.

Er hörte ein blechernes Klopfen, dann rief Joshua: »Carlita, ich bin's!«

Jacob lauschte einen Moment und bahnte sich dann seinen Weg zurück zu dem Astloch. Als er dort ankam, sah er gerade noch, wie sich die Tür des Wohnwagens schloss. Joshua war nirgends zu sehen. Erst, als er in das Schlafzimmer des Mädchens gegangen war, ans Fenster trat und die Gardine rüberzog, konnte Jacob etwas erkennen. Joshua zwinkerte ihm zu, dann wurde es dunkel. Carlita beugte sich vor, ihr Bademantel öffnete sich leicht, dann blies sie die Kerze aus.

Jacob wusste nicht, wie lange er zusammengekauert in dem Schuppen gesessen hatte. Das Kartenspiel ging unaufhörlich weiter, das Lachen wurde lauter, die Plänkeleien rauer, die Stimmen lallten. Vielleicht nach einer Stunde blinzelte Jacob wieder durch das Astloch. Das Fenster des Mädchens war immer noch dunkel. Er stellte sich vor, wie Joshua auf dem Mädchen lag, ihr Bademantel geöffnet, ihre Körper ineinander verschlungen.

Zwei Männer kamen aus dem Wagen, in dem sie Karten gespielt hatten, und stellten sich vor den Schuppen. Sie ließen eine Flasche hin- und hergehen und sprachen leise miteinander, so dass Jacob nicht verstehen konnte, was sie sagten. Einer von ihnen ging zum Wagen des Mädchens, und Jacob bereitete sich schon auf ein mörderisches Geschrei vor, wenn die beiden in flagranti erwischt werden würden. Ein Licht ging an, keine Kerze, sondern eine Glühbirne an der Decke. Joshua lag im Bett, die Bettdecke über seine nackte Brust gezogen. Das Mädchen war nirgends zu sehen. Joshua hob seinen Kopf und zeigte Jacob das Peace-Zeichen. Das sollte wohl »Sieg« bedeuten. Oder dass er es zweimal gemacht hatte.

Irgendjemand hantierte am Riegel der Schuppentür rum.

Jacob drehte sich um. Seine Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt. An der hinteren Seite des Schuppens konnte er ein paar landwirtschaftliche Geräte erkennen, Düngerstreuer und Wasserkanister. Er ging von der Wand weg und kroch unter die Maschinen. In dem Moment ging die Tür auf und ein Mann kam rein. Glas klirrte gegen den hölzernen Türrahmen.

Der Mann ließ sich in den Heuhafen fallen und summte volltrunken ein Lied. Im Refrain lallte er irgendetwas von Señoritas und Corazón. Dann verwandelten sich die tonlosen Noten in Schnarcher. Als das Schnarchen harsch und gleichmäßig geworden war, kroch Jacob aus seinem Versteck und kniete sich wieder vor die Tür. Das dämmerige Zwielicht fiel auf die Flasche neben dem Mann, die Flüssigkeit darin schien zu glühen. Jacob griff sich die Flasche und huschte wieder zu seinem nächtlichen Wachposten am Astloch.

Er drehte den Verschluss auf und roch an der Flasche. Er wusste, dass es Schnaps war, denn sein Vater hatte einen Schrank, in dem er genau solches Zeug streng unter Verschluss hielt. Manchmal, wenn Gäste zum Abendessen eingeladen waren, wurde der Schrank aufgeschlossen. Arznei gegen stumpfen Schmerz hatte Warren Wells den Inhalt genannt.

Joshua saß noch immer auf dem Bett, das Mädchen war jetzt bei ihm. Ihr nackter Rücken zeigte zum Fenster, als sie sich rittlings auf ihn setzte. Sie warf ihr Haar zurück und Joshuas Hände umfassten ihre Taille. Sie bewegte sich vor und zurück. Ihre festen Pobacken spannten und entspannten sich. Jacob nahm einen Schluck aus der Flasche. Das Brennen auf seiner Zunge und in seiner Kehle merkte er kaum. Als das Mädchen schneller wurde, nahm er noch einen Schluck. Sie ritt wie auf einem Schaukelpferd. Aus dem Trab wurde Galopp, und Jacob wusste nicht mehr, wie viel von dem Schnaps er getrunken hatte. Sein Kopf schwamm und seine Hand verlangte danach, in seine brennend heiße Hose zu greifen. Das Mädchen fing an zu schreien, auch Joshua stöhnte und schrie. Die Haut des Mädchens war feuerrot, wo sich seine Finger in ihre Hüften krallten. Ihr Haar flog wild umher und klatschte gegen ihre Schultern, ihr Becken kreiste über Joshua. Dann zitterte sie, kreischte und wurde ganz still.

Jacob ließ den letzten Tropfen aus der Flasche in sich hineinlaufen. Das Liebespaar bewegte sich langsamer, dann ließ sich das Mädchen auf seinen Zwillingsbruder fallen. Jacobs Schädel brummte, er war sauer und erregt und wie benommen. Das Kartenspiel schien zu Ende zu sein, denn das ganze Camp war von lähmender Stille erfüllt. Er legte sein Gesicht an die Wand und schloss die Augen.

Das nächste, woran er sich erinnerte, war, dass Joshua ihn wachrüttelte und sagte: »Komm, alte Nuss, wir müssen nach Hause!«

Jacob fühlte sich, als ob ein Pflug seinen Schädel gespalten hätte. Er zwinkerte, schaute durch die Tür in das Morgengrauen, sah den im Heu schlafenden Mexikaner und die leere Flasche bei seinen Füßen.

Joshua hob die Flasche auf und lachte. »José Cuervo, was? Billiger Fusel. Fühlt sich an, als ob die Armee von Pancho Villa in deinem Mund kampiert.«

Der Durst brannte in Jacobs Kehle. Er wollte sich räuspern, aber er konnte nicht schlucken. Ein Knoten trockener Kotze kämpfte sich an seinen Lungen vorbei. »Das Mädchen …«

»Carlita«, sagte Joshua mit zerwühlten Haaren und leuchtenden Augen. »Hmm, hmm, muy buena Chiquita.«

»Warum hast du mir nichts von ihr erzählt?« Jacob war sich nicht sicher, ob er eifersüchtig oder einfach nur sauer war, weil Joshua ein Geheimnis vor ihm hatte. Seine Gedanken waren vernebelt und seine Augen fühlten sich an wie trockene Steine.

»Du hättest mir ja eh nicht geglaubt.«

»Und warum hast du mich dann hierher gebracht?«

»Weil ich dich hasse.« Ein Hahn krähte, dann noch einer. Joshua deutete auf den schlafenden Typen. »Sie fangen bald an zu arbeiten. Unser lieber Paps kann ja keinen Profit aus ihnen schlagen, wenn sie den ganzen Tag pennen. Also raus hier.«

Sie liefen zurück über die Weihnachtsbaumplantage. Jacob schwankte und hielt sich den Bauch. Der verruchte Charme, den das Gelage dem nächtlichen Camp verliehen hatte, war mit der Dunkelheit verblasst. Jetzt sahen die Wohnwagen einfach nur traurig und abgewohnt aus. Vor dem Eingang parkte ein Dodge-Transporter mit kaputter Heckscheibe und fehlender Seitentür. Jacob kniete sich ins Gras und versuchte sich zu übergeben, aber es kam nur klebriger, gelb-grüner Schleim. Das Zeug tropfte von seinen Lippen, er kroch ein paar Meter vorwärts, dann riss ihn Joshua wieder hoch.

»Reiß dich zusammen, Jake. Es soll doch niemand zu Hause Verdacht schöpfen!«

Jacob warf einen letzten Blick auf das Fenster des Mädchens. Er dachte an die wunderbar sanfte Haut, umhüllt vom weichen Frottee des Bademantels, an ihr schwarzes Haar, ihre runden Kurven, die Muskeln an ihren Beinen. Er spuckte aus. »Hast du … sie …?«

Joshua klopfte ihm auf den Rücken. »Ein Wells versagt nie.«

Zurück im Haus schaffte es Jacob, zu duschen und zu frühstücken, bevor ihr Vater am Tisch erschien. Vater trank seinen Kaffee und studierte die Aktienkurse in der Zeitung. Joshua saß ganz still, in seinem Gesicht ein leicht amüsiertes Grinsen. Der fette Schinken und die Eier lagen Jacob schwer im Magen. Es fühlte sich an wie Stahlspäne mit Gummi. Doch langsam schwand die Übelkeit und seine Hände hörten auf zu zittern. Es war Freitag. Er und Joshua mussten einen knappen Kilometer laufen, um unten an der Brücke den Schulbus zu kriegen.

»Und, Jungs, was macht ihr heute nach der Schule?«, fragte ihr Vater.

»Ich dachte, wir gehen mal runter ins Mexikanercamp«, sagte Joshua. Dabei suchte er Jacobs Blick und sah ihm in die Augen. »Ich wollte vielleicht im nächsten Halbjahr einen Spanischkurs belegen und dachte, vielleicht kriegen wir dort ein paar Gratisstunden.«

»Haltet euch bloß davon fern! Die Bohnenfresser haben's faustdick hinter den Ohren! Sie sind gute Arbeiter, aber wenn sie nicht so billig wären, würde ich mich nicht mit denen abgeben. Wenn die was getrunken haben, werden sie fies. Sie würden sich für ein paar Cent gegenseitig die Kehle durchschneiden.«

»Ich glaube nicht, dass unsere Arbeiter trinken, Paps«, sagte Joshua.

Ihr Vater schaute tatsächlich von seiner Zeitung auf. »Die saufen alle. Also gebt euch nicht mit denen ab. Wenn du Spanisch lernen willst, können wir einen Privatlehrer engagieren.«

»Ich will aber auch was über das Weihnachtsbaumgeschäft erfahren«, sagte Joshua. Jacob staunte, wie clever und schlagfertig sein Bruder war. Klar, Joshua wusste, wie er Jacob austricksen konnte. Doch seine jüngste Eroberung musste sein Selbstbewusstsein beflügelt haben, denn hier versuchte er gerade, ihren Vater hinters Licht zu führen, den König aller Betrüger.

»Das kann ich dir beibringen, wenn es so weit ist«, sagte Vater und wandte sich wieder dem Dow Jones zu.

»Und was ist, wenn dir was passiert? Einer von uns muss dann schon wissen, was zu tun ist.«

»Mir wird schon nichts passieren.«

»Mutter ist auch was zugestoßen.«

Vater faltete die Zeitung zusammen, lief durch die Küche, goss seinen Kaffee in den Ausguss und spülte sein Glas aus. Er ging aus dem Zimmer, und eine Minute später flog die Eingangstür ins Schloss, gefolgt vom Rattern seines Dieselmotors.

Joshua lehnte sich in seinem Stuhl zurück und grinste wie ein Wiesel mit Magenverstimmung. »Weißt du, was echt cool ist? Eines Tages muss einer von uns den ganzen Laden hier schmeißen.«

Jacob legte seinen Kopf auf die Tischplatte und stützte ihn mit seinen Händen. Er überlegte, wie er die Schule schwänzen könnte, ohne dass Vater es merkte. »Liebst du sie?«

»Wie meinst du das, Kotzgesicht?«

»Na, ist sie deine Freundin?«

»Liebe. Du glaubst doch nicht etwa wirklich an so einen Mist?«

Jacob hätte Joshua am liebsten gefragt, wie es so ist, wenn sich ihre heiße, glatte Haut an deine schmiegt, wenn ihre Lippen über dein Gesicht hauchen, wenn die geheimen Spalten sich öffnen. Er wollte wissen, wie Joshua sich an all diesen Wundern erfreuen und dann so eiskalt damit umgehen konnte.

Er hatte immer Angst davor gehabt, dass sie sich als Zwillinge viel zu ähnlich waren, dass sein Schatten und der von Joshua für immer miteinander verschmolzen sein würden und dass keiner dem anderen entkommen konnte. An diesem Morgen wurde ihm zum ersten Mal klar, wie unterschiedlich sie waren. So, als ob sie nicht einmal zur selben Art gehörten.

»Wünsch mir«, sagte Jacob.

»Ich kann dich nicht nüchtern machen, Jake. Da hilft nur die Zeit.«

»Nein. Ich wünsch mir, einmal du zu sein.«

»Carlita gefällt dir, was? Willst du auch mal von der heißen Taco-Sauce kosten?«

»Wünsch mir.«

»Na ja, du bist ja heute Nachmittag schon ich, oder hast du das schon vergessen? Mein Mathetest. Den ich verpasst hab und den du wieder rausreißen musst. Mrs. Runyon kann uns niemals auseinanderhalten. Und denk dran, mit links zu schreiben.«

»Warum kannst du den Test eigentlich nicht selber schreiben?

»Weil du schlauer bist als ich. Und außerdem will ich mit Carlita unter der Brücke abhängen. Bisschen angeln, weißt du?« Er grinste. »Eines Tages, wenn du groß bist, zeig ich dir vielleicht, wie du deine Rute richtig reinhängst.«

»Was, wenn ich deinen Scheißtest nicht nachschreibe?«

»Na, na. Der Stock, erinnerst du dich?«

Jacob rülpste, die Magensäure zerschnitt seine Kehle. Er schwor sich, niemals wieder Schnaps zu trinken. Und er würde es sich nicht länger gefallen lassen, dass Joshua ihm drohte, denn Joshua war genauso schuld an Mutters Tod wie er. Er würde sich nicht mehr von Joshua herumschubsen lassen. Aber zunächst einmal würde er versuchen, den Test so schnell wie möglich fertig zu schreiben. Damit er sich ein gutes Versteck im hohen Gras neben der Brücke suchen konnte.

Dunkle Zeiten: Die ultimative Thriller-Collection
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