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Dr. Forrest begleitete sie zur Tür. Auf dem Weg zum Parkplatz zwinkerte Julia mit den Augen. Wie immer nach einer Sitzung erschien ihr die Welt unwirklich; die verschiedenen Teile der Umgebung waren zusammenhangslos und unstabil. Der Asphalt schien vom Boden getrennt zu sein, als ob er auf Äther schwebte. Die Berge und der Himmel trafen am Horizont nicht aufeinander. Obwohl die Wolken die Sonne verschleierten, funkelten die Glimmerflecken auf dem Gehsteig wie winzige Sterne und bildeten Galaxien unter ihren Füßen. Selbst die Bäume, die die Straßen säumten, schienen in einem zweidimensionalen separaten Universum zu existieren. Sie waren so flach wie getrocknete farbige Herbstblätter in einem Album.
Erst nachdem sie den Wagen angelassen hatte und langsam auf die Hauptstraße einschwenkte, erinnerte sich Julia an den Wecker im Schlafzimmer. Sie hatte Dr. Forrest nichts von der Uhr erzählt, die um 4:06 Uhr steckengeblieben war. Dieses eigenartige Phänomen war keine Einbildung. Walter, der Handwerker, war Zeuge gewesen. Julia hatte jedoch den Stecker ausgezogen, bevor Walter die Uhr gesehen hatte. Davon war sie überzeugt.
Julia hatte das Gefühl, Dr. Forrest würde die Sache mit der Uhr nicht gefallen. Die Therapeutin hatte es nicht gern, wenn Julia sich auf solche unbedeutende Zufälle konzentrierte. Vielleicht würde Julia es ganz nebenbei bei der nächsten Sitzung erwähnen oder in ihr Tagebuch schreiben. Vielleicht würde sie es auch einfach vergessen. Manchmal lässt man die Vergangenheit am besten ruhen.
Sie fuhr um das Zentrum von Elkwood herum, das aus vier Häuserblöcken bestand, wobei das höchste Gebäude gerade einmal fünf Stockwerke hoch war. Die Stadt bezeichnete sich selbst als „Das Tor zu den Bergen“. In früheren Zeiten war sie ein Handelsposten für Jäger gewesen, die die Wildnis zähmten, die Cherokees vertrieben und den Büffel und sogar den Elch ausrotteten, von dem der Ort seinen Namen erhalten hatte. Nun war die Stadt ein wachsendes Urlaubsziel. Sie lag in einem Flussbecken, eingebettet zwischen den Blue Ridge und den Great Smoky Mountains.
Julia überquerte den Amadahee River und fuhr an den unbenutzten Eisenbahnschienen entlang, die das kleine Industrieviertel von Elkwood umgaben. Zwei der Fabriken waren stillgelegt; die Maschendrahtzäune waren zerrissen und hingen lose herunter. Auf dem mit Ölflecken verschmutzten Parkplatz lagen zerbrochene Flaschen und aus den Spalten im Belag wuchs Gras. Einige der Fabriken wurden abgerissen und durch Eigentumswohnungen und Technologieparks ersetzt, Zeichen der neuen Rekonstruktion des Südens.
Vielleicht würde Julia eine Serie darüber schreiben. Ihr Redakteur hatte ihr jedoch einen festen Bereich zugeteilt. Sie war die Reporterin der „weichen“ Nachrichten bei der Elkwood Courier-Times, obwohl sie beim Commercial Appeal, ihrem vorherigen Arbeitgeber, eine normale Nachrichtenreporterin gewesen war. Das machte ihr jedoch nichts aus. Wenigstens musste sie nicht länger neben einem Polizeiscanner schlafen und hoffen, dass die persönliche Tragödie eines Menschen ihr die tägliche Arbeit verschaffte.
Sie traf gerade rechtzeitig zur Nachmittagskonferenz mit den anderen Journalisten im Büro ein. Zu ihren Aufgaben für die Woche gehörten eine Blumenausstellung im Einkaufszentrum, ein Seuchenausbruch im Tierheim, der Vortrag eines berühmten Schriftstellers, von dem sie noch nie gehört hatte, in der Bibliothek, die Einweihung eines neuen Fußballplatzes und ein Kunstgewerbefestival, das in drei Wochen stattfinden würde. Am Festival würden viele der Inserenten der Zeitung teilnehmen. Deshalb wollte der Redakteur die Sache groß aufziehen. Julia war dazu fähig, auch wenn die Verherrlichung handgemachter Perlen und mangelhaft geflochtener Körbe eine Herausforderung an ihre Schreibfähigkeiten war.
Reportagen über die örtlichen Schulbehörden und Kunstkomitees waren ebenfalls eine große Aufgabe. Sie hatte gelernt, dass die wertvollste journalistische Qualifikation die Fähigkeit war, die Aussagen der Leute so wiederzugeben, dass sie intelligenter klangen, als sie es in Wirklichkeit waren. Es störte sie zwar, wenn die Leser die wöchentlich erscheinende Zeitung als „Schnarchnasenblatt“ bezeichneten, doch sie war dankbar für die stressfreie Arbeit. Der Pulitzerpreis konnte warten. Sie befand sich in Elkwood, um einen klaren Kopf zu bekommen.
Als sie das Konferenzzimmer verließ, holte sie ihr Arbeitskollege Rick O’Dell ein. „Hallo Julia, was gibt’s Neues?“
„Nichts“, sagte sie.
Rick lächelte. Seine Augen leuchteten hinter der Akademikerbrille aus den fünfziger Jahren. Eine von Frisiergel glänzende Clark-Kent-Locke saß mitten auf seiner Stirn. Sein von Zoot inspirierter Anzug war maßgeschneidert, ein Luxus bei seinem Gehalt. Eine Goldkette um den Hals verunstaltete seinen Retrostil etwas. Er sah aus wie eine Mischung aus Palm Beach in Florida und Cleveland. „Hast du den Auftakt zu meiner Artikelreihe gelesen?“
„Ich habe kein Abo“, sagte sie trocken.
Rick lachte etwas zu begeistert. Er war ein gefragter Journalist auf dem Weg nach oben, hatte bereits zwei Auszeichnungen des Presseverbands von North Carolina Presse erobert. Er hatte jedoch noch weitere Eroberungsziele, zum Beispiel jede junge Frau, die ihm über den Weg lief. „Es ist eine Supergeschichte“, sagte er. „Wirklich.“
„Na, schieß los.“ Julia machte sich auf den Weg zu ihrem Schreibtisch. Sie wusste, dass Rick keine weitere Ermutigung benötigte. Beharrlichkeit war wichtig für einen guten Journalisten und Ricks Dreistigkeit zeigte, dass er nicht so leicht aufgab.
„Erinnerst du dich an all diese Gerüchte über Satanismus in den Achtzigern? Es gab dieses riesige Untergrundnetz und viele Kinder verschwanden und endeten als Menschenopfer.“
Beim Wort „Satanismus“ hob Julia den Kopf. Sie hielt an und drehte sich zu Rick um. „Ja. Aber ist man nicht zum Schluss gekommen, dass die ganze Sache weit übertrieben wurde?“
„Natürlich. Es wurde behauptet, dass bis zu 50.000 Menschen geopfert wurden. Wie würde man sich das erklären? Du kannst ja nicht einfach so viele Leichen verbergen, ohne dass jemand wenigstens einige Knochen gefunden hätte.“
„Knochen?“ Julias Traum der vergangenen Nacht begann sich in seinem schlummernden Grab zu regen.
„Genau“, sagte Rick. Seine schrägen Koteletten hoben sich, als er lächelte. „Nun, vielleicht lebt die Sache wieder auf. Hast du von der Leiche gehört, die sie im Amadahee gefunden haben?“
„Nein.“ Julia schaute sich keine Fernsehnachrichten an, hörte auch kein Radio und las keine Zeitung, wenn es sich vermeiden ließ. Es war ihr ernst gewesen, als sie sagte, dass sie keine Zeitung abonniert hatte. Wenn Unwissenheit ein Segen war, dann wollte sie sich so gesegnet fühlen wie ein meditierender Buddha.
„Ein weißer Mann, so um die Zwanzig. Nackt, an den Händen gefesselt, die Bauchhöhle aufgerissen. Ziemlich ritualistisch.“
„Wow.“, sagte Julia. Ihr Interesse war geweckt. Elkwood hatte nicht so viele Morde aufzuweisen wie Memphis, war jedoch ebenso anfällig für diese Art Verbrechen wie andere amerikanische Gemeinden. Diese Geschichte unterschied sich jedoch von den typischen bewaffneten Auseinandersetzungen am Samstagabend. Julia hatte das gewohnheitsmäßige Interesse am Verbrechen noch nicht ganz verloren. „Aber worin besteht die Verbindung zum Satanismus? Wenn du der Sache genau nachgegangen bist, und das hast du sicher getan –“
Rick grinste und entblößte eine Reihe perfekter Zähne. Er forderte sie mit einem Nicken auf fortzufahren.
„Dann weißt du, dass Ritualismus eher dazu dient, ein psychologisches Bedürfnis zu befriedigen als ein spirituelles Verlangen, jedenfalls, wenn es um Mord geht.“
„Sicher. Serienmörder töten aus einem sexuellen Zwang heraus. Das ist allgemein bekannt. Sie stellen keine Halsketten aus den Körperteilen einer Frau her, um einer höheren oder niedrigeren Macht zu dienen. Sie tun es, weil es sie befriedigt. Und sie tun es immer wieder, bis sie entweder gefasst werden oder tot sind.“
„Anscheinend hast du ebenfalls den Grundkurs über Widerlinge am College besucht“, sagte Julia.
„Natürlich.“
„Und warum glauben die Behörden dann, dass es sich um einen satanischen Mord handelt?“
„Sie glauben es nicht, jedenfalls vorläufig noch nicht. Das Opfer war jedoch ein Mann. Ausgeweidet. Und jetzt kommt der Knaller: Der kleine Finger des Opfers war abgeschnitten.“
„Abgeschnitten?“ Ohne es zu wollen, war Julia von der Sache gefesselt. Sie hasste den endlosen Appetit der Öffentlichkeit auf Gräueltaten, diesen Hunger nach Kontroversen, die lüsterne Faszination für die dunklen Seiten der Menschheit. Es war sogar ihre Spezialität gewesen, den Redakteuren in Memphis saftige Schlagzeilen zum menschlichen Elend zu liefern. Sie war genauso schuldig wie alle anderen, die im Schmutz wühlten, doch sie konnte diesen Trend verstehen. Sie hatte ihr eigenes inneres Dilemma, die dunkle Vergangenheit, zu der sie immer wieder zurückkehrte, wie ein Goldsucher, der in einer einsturzgefährdeten Mine gräbt.
„Sicher. Ein abgeschnittener Finger scheint nicht so schlimm zu sein wie ein ausgehöhlter Unterleib. Der springende Punkt ist jedoch, dass der kleine Finger verheilt war. Ein vernarbter Stummel. Mit anderen Worten, die Wunde wurde ihm vor Jahren zugefügt.“
„Na und? Vielleicht hatte er einen Unfall gehabt, hatte den Finger in eine Textilmaschine gesteckt oder in einer Autotür eingeklemmt.“
„Möglich“, sagte Rick und strich sich über die perfekte pechschwarze Locke. „Die Amputation des kleinen Fingers ist jedoch ein typisches Ritual der – na, du weißt schon.“
„Unserer alten Freunde, der Satanisten.“ Julia schüttelte den Kopf. „Rick, du hast zu viele Akte-X-Wiederholungen angeschaut.“
„Ich habe noch mehr Beweise. Komm mit auf ein Bier im Whistle Gate und ich erzähle dir alles.“
„Nein, danke“, sagte sie und lächelte, um ihn zu entwaffnen. Dann dachte sie an ihr Haus, an die sich ausbreitende Dunkelheit und an die Uhr, die noch immer 4:06 Uhr anzeigte.
Lieber der Schurke, den ich kenne. Der hat wenigstens ein Gesicht.
„Aber warum eigentlich nicht?“, sagte sie. „Ich habe seit Wochen nicht mehr auswärts gegessen. Es kann nicht schaden, mich wieder einmal umzusehen, was so alles geschieht in der Zivilisation.“
Ricks Brust weitete sich sichtlich. „Großartig, toll!“
„Treffen wir uns dort gegen sechs.“
Er ging rückwärts den Flur entlang und grinste wie ein Kindergartenschüler, der einem Mädchen einen Wurm ins Kleid geschmuggelt hatte. „Wunderbar. Ich bestelle uns einen guten Tisch.“
Julia ging zu ihrem Schreibtisch und räumte Notizen und Unterlagen weg. Sie fragte sich, ob Dr. Forrest die Verabredung wohl gutheißen würde.