19. KAPITEL
Jacob entschied sich für den Dodge Ram Pickup, nicht für den Mercedes. Der Pickup stand für ehrliche Arbeit und eine bodenständige Einstellung. Er hatte versucht, auch Renee zu einem neuen Auto zu überreden, aber sie meinte, sie müssten jetzt erstmal eine Weile lang bescheiden sein, damit die Leute nicht anfingen zu reden.
Er hatte noch Geld übrig, selbst nachdem er alles zurückgezahlt hatte, was er bei M&W veruntreut hatte. Zwar musste er einige Quittungen fälschen und sich ein paar Subunternehmen ausdenken – Landschaftsgärtner, Klempner und Baggerfirmen. Also dieselben Firmen, mit denen er Donald Meekins schon immer das Geld aus der Tasche gezogen hatte. Und dann war da natürlich noch Joshuas Abfindung …
Doch nun war er endlich raus aus den roten Zahlen und konnte die Bulldozer wieder auf das verschlafene Kingsboro loslassen. Es war September, ein guter Monat für Grundsteinlegungen in den Bergen. Er lehnte sich gegen seinen Pickup, auf dessen schwarzer Motorhaube eine dünne rote Staubschicht lag. Der Hang über der Altstadt bot bestimmt Platz für ein Dutzend Häuser, und die herrliche Aussicht ließ den Verkaufspreis um viele tausend Dollar in die Höhe schnellen. Eines der Häuser befand sich schon im Bau, ein Fertighaus im Blockhüttenstil mit viel Glas an der Südseite. Die Straße, die zu dem neuen Stadtteil hinaufführte, war bereits planiert und geschottert. Das Geheul der Kettensägen zerriss die Luft. Arbeiter fällten Bäume auf den angrenzenden Grundstücken. Es gab noch keinen Brunnen, weshalb die Wasserleitungen noch nicht angeschlossen waren. Zwei riesige Wassertanks standen neben den Bauwagen. Die Bauarbeiter waren Mexikaner mit dunkler Haut und ernsten Gesichtern. Sie schrien sich über den Lärm der Maschinen hinweg an. Jacob war froh, dass er in dieser Hinsicht die Wells'sche Tradition fortführte und mit Einwanderern arbeitete, die nur eine befristete Aufenthaltsgenehmigung hatten. Ihm war es schnuppe, ob mit ihren Papieren alles stimmte. Sie arbeiteten schwarz und wurden bar bezahlt. Da gab es keinen nervigen Papierkram.
Er blickte auf das Tal, das sich zu seinen Füßen ausbreitete. Im westlichen Teil von Kingsboro standen niedrige Flachbauten. Die höchsten Bauwerke im Osten waren das Krankenhaus und das Holiday Inn, das Jacob als sein Werk verbuchte. An der Hauptverkehrsstraße entstand ein neues kleines Einkaufszentrum, irgendwelche Typen aus Texas hatten es gebaut. Für Jacob war das keine Konkurrenz. Vierhundert Quadratmeter Verkaufsfläche, vier Läden, nichts Besonderes. Als Mieter würden wahrscheinlich ein Bastelladen, eine christliche Buchhandlung, ein Waschsalon und eine Finanzberatung einziehen. Außerdem bauten sie in die Breite, nicht in die Höhe. Jacob hingegen hatte die Silhouette der Stadt geprägt. Bisher war die Baptistenkirche das höchste Gebäude von Kingsboro, fünfundzwanzig Meter mit Kirchturm. In dem Moment, als Warren Wells erfahren hatte, dass die Kirche Beiträge für einen Immobilienfonds sammelte, war er Mitglied der Kirchgemeinde geworden. Und so hatte er natürlich auch den Auftrag für den Bau der Kirche bekommen.
»Und, was denkst du, Jacob?«, fragte Donald. Donald war nicht oft draußen auf der Baustelle. Er saß lieber in seinem Büro, dort fühlte er sich sicher. Er war froh, dass sein Partner wieder da war. Sie wussten beide, dass Donald niemals überleben konnte, wenn er es mit echten Menschen zu tun hatte. Mit Leuten, die richtig hart anpacken mussten und sich von Zahltag zu Zahltag retteten. Unter Anzugträgern fühlte er sich wohler, Finanzleuten und Bankern und Anwälten und so. In letzter Zeit jedoch war sein Interesse an den Unternehmungen der Firma direkt vor Ort sichtlich gestiegen.
»Bis Oktober müssen wir das neue Wohngebiet hier in trockene Tücher bringen«, sagte Jacob.
»Ich hab schon eine ganze Reihe Interessenten!«
»Gut. Das Geld können wir gut gebrauchen, um ein paar andere Dinge ins Rollen zu bringen. Ich glaube, da geht gerade richtig was!«
»Na ja, ich hoffe mal, dass dieser Schwung bis zum Winter anhält. Ich mach mich jetzt mal lieber auf in mein klimatisiertes Büro.« Donald wischte sich über die Stirn. Die Sonne brannte. Die Feuchtigkeit musste sich erst noch in den Süden der Berge verziehen. Donald passte mit seinem Anzug und der Krawatte gar nicht so recht auf dieses vernarbte Stück Erde.
»Schau mal, dort«, sagte Jacob und zeigte auf einen Mischwald am gegenüberliegenden Hang. Ein zweispuriges Asphaltband wand sich den Hügel hinauf. Durch das Blätterdach der Bäume blitzten ein paar Dächer, der Rest des Hangs war unverbaut.
Donald legte sich die Hand über die Augen, damit die Sonne ihn nicht blendete. »Und? Was ist damit?«
»Ein neuer Stadtteil. Und in ein paar Jahren braucht Kingsboro dann ein Gewerbegebiet.«
»Ich weiß nicht, Jake. Eigentumswohnungen sind eine sichere Sache. Damit fahren wir doch ganz gut, oder? Wenn wir mit Gewerbe-Immobilien anfangen, riskieren wir unseren Arsch!«
Jacob presste die Lippen aufeinander. Der Comfort-Suites-Deal hatte ihnen wegen des Regens einen Verlust von einer Viertel Million Dollar eingebracht. Weil das Wetter so schlecht war, konnte kein Beton gegossen werden, weder in die Fundamente noch in die Schalungen. Dadurch hatten sich alle anderen Arbeiten nach hinten verschoben. Einige Subunternehmer, die schon zugesagt hatten, nahmen andere Aufträge an, und Jacob musste all seine Kraft einsetzen, um sie alle wieder zusammenzutrommeln. In der Zwischenzeit waren die Zinsen auf das geborgte Geld so in die Höhe geschnellt, dass Donald ein paar Mietobjekte abstoßen musste, um den Verlust auszugleichen. Für Donald zählte es nicht, wenn ein schönes neues Gebäude fertig war. Ihm war es egal, was das für die Stadt und für die Wirtschaft bedeutete. Alles, was für ihn zählte, war der Gewinn.
»Das wird schon«, sagte Jacob. Er klopfte Donald zuversichtlich auf die Schulter. Die Klänge der Hämmer, Bohrer und Kettensägen verschmolzen in seinen Ohren zu einer Symphonie des Fortschritts. Die Musik des Geldes. Aber auch das Lied von einer besseren Stadt.
»Ich weiß nicht. Jeffrey hat sich die Quittungen angeschaut und glaubt ein paar Lücken gefunden zu haben. Vielleicht nur Rechenfehler, aber es sieht ganz so aus, als ob wir unseren Jahresabschluss diesmal etwas vorziehen müssten.«
»Wann?«
»Vielleicht im November. Es ist bestimmt ganz harmlos, aber solche Fehler können unser ganzes Vermögen auffressen, wenn wir sie nicht schnell in den Griff bekommen. Und wenn wir ein paar Leuten zu viel Geld bezahlt haben, dann müssen wir uns unsere Kohle zurückholen, bevor sie alles ausgegeben haben.«
»Na ja, ich würde nicht allzu viel Vertrauen in Jeffrey setzen. Er macht den Empfang, nicht die Buchhaltung.«
»Er ist gut am Telefon«, warf Donald ein. »Und er wimmelt die Mieter ab, wenn sie anrufen und irgendwas repariert haben wollen.«
»Und er ist wahnsinnig teuer. Ich denke nicht, dass er gut ist fürs Geschäft.«
»Wie meinst du das?«
»Na, du hast es ja gerade selbst gesagt. Er vergrault die Mieter. Wenn es um Wohnungen geht, ist das okay, aber wenn wir Bürogebäude bauen wollen und Firmen als Mieter haben …«
»Mal langsam, Jake. Wir wollen mal nichts überstürzen. Ich weiß, dass in dein Leben ein Loch gerissen wurde, aber das kannst du nicht mit neuen, verrückten Plänen wieder auffüllen!«
»Ich finde, wir sollten Jeffrey feuern und dafür Renee anstellen. Das würde uns weniger Versicherung kosten, weil sie bei mir mit versichert ist. Und sie würde weniger Geld verlangen als er.«
Jacob blickte über Donald hinweg zu einem Mann, der in einem der Häuser gerade eine Tür einbaute und ausrichtete. »Sie braucht was zu tun. Ich will nicht, dass sie sich nur mit der Vergangenheit abgibt.«
Donald rückte seine Krawatte zurecht und überlegte. Nach einer Weile sagte er: »Na ja, so lange wir meiner Frau erklären, dass das deine Idee war und nicht meine! Jede Frau im Büro kann für mich Ärger bedeuten.«
»Nur, wenn du deine Hose nicht im Griff hast, Donald!«
»Jake, ich schwöre, ich hab deine Frau niemals auch nur angeguckt …«
Jacob lachte. »War doch nur Spaß! Mann, du bist wirklich ganz schön durch den Wind!«
»Stimmt. Die Sache mit den Quittungen macht mir Angst. Ich bin in einem Alter, in dem man gern auf Nummer Sicher geht.«
»Nummer Sicher kannst du haben, wenn du tot bist.« Jacob breitete seine Arme aus, als wollte er ganz Kingsboro darin einschließen. »Uns liegt die ganze Welt zu Füßen!«
Donald verzog den Mund, dann nickte er. »Okay. Wir kündigen Jeffrey mit zwei Wochen Frist und zahlen ihm zwei Wochen Gehalt als Abfindung.«
»Renee wird der Firma gut tun. Sie hat ein Auge fürs Detail.«
»Gut.« Donald machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ich werd es Jeffrey sagen. Ich erzähle ihm einfach, dass sich zu viele Mieter über ihn beschwert haben und dass wir beide eine neue Richtung einschlagen wollen. Das Übliche.«
Donald stieg in seinen Lexus und fuhr den Schotterweg nach Kingsboro hinunter. Jacob ging zu seinem Pickup und holte seine Brotdose heraus. Renee gab ihm immer Möhren und Sellerie mit, dazu proteinreiches Zeug wie Erdnussbutterbrote und Müsliriegel. Er wog schon fast wieder genauso viel wie vor seinem Krankenhausaufenthalt, und durch die Arbeit an der frischen Luft sah sein Teint wieder frisch und gesund aus. Jacob machte es sich auf dem Fahrersitz bequem, stellte das Radio an, um den Wetterbericht zu hören, und öffnete seine Tasche.
Darin war ein in Wachspapier eingeschlagenes Bündel. Er nahm es raus und wickelte es aus. Was hatte Renee sich diesmal wieder für eine Überraschung ausgedacht? Ein Hühnerkopf rollte heraus, hüpfte gegen sein Knie und schlug mit einem fleischigen Plopp auf dem Boden auf. Das Wachspapier war mit getrocknetem Blut verschmiert. In der Ecke stand mit schwarzem Edding geschrieben:
»Sei kein feiges Huhn.«
Darunter stand ein »J«. Es war nach links geneigt.
Jacob kniete sich auf den Boden und untersuchte den Hühnerkopf. Es war ein Perlhuhn, genau dieselbe Rasse, die früher auf der Wells-Farm herumlief. Die verkrustete Wunde stammte von einer Axt. Durch ein leicht geöffnetes Lid schimmerte ein lebloses schwarzes Auge. Der Schnabel war halb offen, als ob er nach Luft rang oder schreien wollte.
Das Handy auf dem Beifahrersitz ließ sein elektronisches Blöken ertönen. Als sich Jacob den Pickup gekauft hatte, hatte ihm Renee ein neues Handy geschenkt. Wohl als stillschweigende Zustimmung, dass Jacob jetzt wieder normal war. Der Geist ihrer Kinder war in ihren Herzen zur letzten Ruhe gebettet worden. Jetzt mussten sie weitermachen. Glücklich und zufrieden bis an ihr Lebensende stand zwar nicht mehr zur Debatte. Aber sich gegenseitig in stillem Einvernehmen umzubringen war auch keine Lösung.
Jacob klappte das Handy auf und blickte durch die Windschutzscheibe auf die Baustelle. »Hallo?«
»Und, wie war dein Mittagessen?«
»Ich hab dir gesagt, du sollst mich nicht mehr anrufen. Du hast in meinem Leben nichts mehr zu suchen. Du kannst mit Carlita zurück nach Tennessee gehen und wieder in euren Wohnwagen ziehen, oder du bleibst in Vaters Haus, bis eure elenden Gerippe Spinnweben ansetzen. Aber wir beide sind fertig miteinander!«
»Mein lieber Bruder«, sagte Joshua. »Wir sind noch nicht mal zur Hälfte fertig! Denn du schuldest mir noch eine Million. Und Brüder halten ihre Versprechen, oder etwa nicht?«
»Ich hab keine Angst mehr. Wenn du zur Polizei gehen würdest, dir würde keiner glauben.«
»Ich muss nicht zur Polizei gehen. Ich muss nur mit deiner Frau reden.«
Die Muskeln in seinem Nacken versteiften sich, Blut schoss siedend heiß in sein Gesicht. »Verdammt! Lass sie da raus!«
»Nein, Brüderchen. Wir stecken alle mit drin. Wie eine große, glückliche Familie. Nicht wahr, Carlita?«
Jacob nahm den leichten Lufthauch durch den Lautsprecher wahr, als Carlita das Telefon nahm. »Muy bien, Jake«, sagte sie mit ihrer sinnlichen, rauchigen Stimme. »Wie in guten alten Zeiten, sí?«
Jacob hasste die automatische Reaktion, die sie in ihm hervorrief, eine Mischung aus Schuld und Angst und Erregung. Wie eine verbotene, überreife Frucht, die zwar verführerisch duftete, aber im Inneren verfault war. »Ich spiel eure Spielchen nicht mehr mit«, sagte er, und in seiner Brust schmerzte es.
»Oh! Aber du hast dieses Spiel doch erfunden, dummer Chiquito. Wünsch mir, weißt du noch?«
»Das ist vorbei. Ihr habt eure Million.«
»Und du hast dein altes Leben zurück, was? Alles so, wie es war.«
»Es wird nie wieder so sein, wie es war.« Jacob wischte sich den Schweiß von der Stirn. Selbst bei offener Autotür erdrückte ihn die Spätsommerhitze fast.
»Na na, du kannst doch einer Frau nicht ihre Wünsche versagen«, schmollte sie. Sie sprach ganz leise, und ihr Flüstern umschlang seine Seele, als ob sich ihre Finger sanft den Weg in seine Hose bahnten. »Zwei Wells kann man doppelt melken. Da werd ich gleich noch mal so feucht …«
Jacob fiel nichts mehr ein. Das war einer von Carlitas Lieblingssprüchen gewesen, als sie sechzehn waren. Wahrscheinlich war es Joshuas Idee gewesen. Wortwitz war noch nie Carlitas Stärke. Sie war vielmehr die listige Schlange, die sich in warmen, versteckten Ritzen verkroch und geduldig darauf wartete, ihr tödliches Gift zu verspritzen.
Joshua kam wieder ans Telefon. »Ich war noch nie besonders gut in Mathe, aber so wie ich das sehe, haben wir immer Fifty-fifty gemacht – sogar bei Daddys mickrigem Sperma. Und jetzt sollst du wieder alles haben und ich hab immer noch nichts. Noch 'ne Million ist doch nicht zu viel verlangt, wenn man es mal so betrachtet.«
»Nein. Du hast deine Million. Es wird schon heikel, dass ich damit durchkomme. Mein Geschäftspartner fängt schon an zu schnüffeln, als ob er Hundescheiße an den Schuhen hätte.«
»He, Jake, ich dachte, du bist wieder dicke da? Der große Held, sitzt fest im Sattel und all diese Scheiße. Jetzt, wo du diesen Mega-Deal mit dem neuen Wohngebiet an der Angel hast. Da kommen doch bestimmt ein paar Scheinchen rum.«
Auf der Baustelle warfen zwei mexikanische Arbeiter kaputte Schindeln vom Dach und riefen dabei Warnungen auf Spanisch, damit unter ihnen niemand getroffen würde. Wegen genau solcher gedankenloser Aktionen war Jacob froh, dass die Sicherheitsleute immer nur am Ersten des Monats vorbeischauten. Er musste wohl mal ein Wörtchen mit dem Subunternehmer reden. Ihn gingen die Schadenersatzansprüche der Arbeiter zwar nichts an, aber wenn es Unfälle gab, schnellten seine Haftpflichtbeiträge in die Höhe. »Woher weißt du, dass ich wieder arbeite?«
»Ich hab vier Räder, schon vergessen? Und ich hab meine Augen.«
»Wo bist du?« Jacob war davon ausgegangen, dass Joshua draußen auf der Farm war, mittags langsam aufwachte und sich bis vier Uhr nachmittags gut einen angetrunken hatte. Dass er den halben Tag lang mit Carlita im Bett lag und sie ab und zu mal im Supermarkt vorbeischauten, um sich ein paar Budweiser und Marlboro Lights zu holen. Eine Million Dollar war 'ne Menge Geld, wenn man so lebte wie sie. Selbst zu zweit würden Joshua und Carlita es nie schaffen, alles auszugeben, bevor entweder ihre Lebern oder ihre Lungen aufgaben.
»Ich behalte meine Investitionen im Blick«, sagte Joshua.
Jacobs Magen krampfte sich zusammen. Er sprang aus dem Auto und trat den Hühnerkopf in den Dreck. Was, wenn Joshua jetzt vor Renees Wohnung stand oder sie im Waschraum beobachtete? Vielleicht waren sie ihr ja auch bis zum Gemüseladen oder zur Post gefolgt und lagen jetzt auf der Lauer, um wie aus dem Nichts aufzutauchen und sich ihr vorzustellen?
»Wo bist du, verdammt noch mal?«, fragte Jacob.
»Siehst du, das ist nun mal das Komische an Zwillingen. Ganz egal, wie weit sie voneinander entfernt sind oder was zwischen ihnen steht, irgendwie hängen sie immer zusammen. So wie Gott es bestimmt hat.«
»Wag du es nicht, über Gott zu sprechen. Wenn es einen Gott gäbe, dann wären meine Töchter noch am Leben und wir wären nie geboren worden.«
»Das ergibt keinen Sinn.«
»Du beobachtest mich, stimmt's?« Jacob rannte um den Pickup herum und inspizierte die Bäume hinter der Baustelle. Das Land über dem geplanten Bebauungsgebiet von M&W gehörte einer Firma aus Texas. Ein paar Holzfällerwege verliefen zickzackförmig um den Berg, aber die Tore waren verschlossen. Joshuas Chevy-Monster wäre auf diesen zerfurchten Straßen hoffnungslos verloren.
»Es war Carlitas Idee. Du hast bei ihr einen Stein im Brett.«
»Nein. Das war einmal. In einem anderen Leben.«
»In dem Leben, in dem du deine Mutter umgebracht hast?«
Jacob musste sich zusammenreißen, um das Handy nicht einfach davonzuschleudern. »Wo bist du?«
»Du wirst uns sehen, wenn die Zeit dafür gekommen ist. Jetzt zu dem Geld, das du mir schuldest.«
»Warum kannst du dich nicht einfach mit dem zufriedengeben, was du hast? Du hast das Grundstück und das Haus und alles, was du hinter der Grenze zurückgelassen hast. Das ist mehr, als du jemals verdient hast.«
»Fehlen noch die acht Millionen, die dir Vater hinterlassen hat, wenn ich mich recht erinnere. Er hat sich nie was daraus gemacht, gerecht zu teilen. Und du hast dafür offensichtlich auch nichts übrig.«
»Hau ab. Bitte. Ich hab dir genug ausgezahlt.«
»Verdammt noch mal, Jake. Du hast es immer noch nicht begriffen. Mir geht es nicht ums Geld. Mir geht es um den Spaß!«
»Fick dich!«
Carlita kam wieder ans Telefon. »Na, was meinst du zu ein bisschen Spaß, he? Es ist lange her, was, Gringo? Kümmert sich deine Frau auch gut um dich?«
»Das geht dich einen Scheißdreck an, Carlita.« Gegen sie war Jacob machtlos. Ihm war, als schwebte er über einem Loch ohne Boden, mit glitschigen Händen ein dünnes Seil umklammernd. Völlig ungebeten war dieses Gefühl aus dem Krankenhaus wieder da, wie er in dunkles Wasser eintauchte, das ihm den Atem nahm. Dort unten, in der eisigen Stille, konnte ihn niemand finden.
»Aber wir haben doch so vieles, was wir teilen können«, sagte Carlita kokett. »Klar, der vierzehnjährige Junge wusste nicht, was er tut. Aber deine Frau hat dir doch bestimmt ein paar gute Tricks beigebracht, oder?«
Jacob hörte, wie ihr Feuerzeug schnalzte, bevor sie den Rauch einsog. Das Geräusch brachte die Flammen in seinem Kopf zum Lodern. Es klang, als ob Joshua ihr irgendetwas ins Ohr flüsterte.
»Josh sagt, ich soll dir ausrichten: ›Wo Rauch ist‹«, hauchte sie. »Keine Ahnung, was das bedeutet. Ihr seid beide muy loco. Wie füreinander geschaffen.«
»Ich will mit ihm reden.« Ein mulmiges Gefühl kroch durch Jacobs Magen, eine feuerrote Schlange des Unbehagens.
»Weißt du noch, unter der Brücke?«, fragte Carlita. »Ich weiß, dass du's weißt. Sowas vergisst ein Mann nie.«
Jacob drückte auf den roten Knopf und klappte das Telefon zu. Er hockte auf der Stoßstange seines Pickups, nicht sicher, ob seine Beine ihn jetzt tragen würden. Das Rattern der Motorsägen verschmolz mit dem Klingeln in seinen Ohren, und jeder Hammerschlag vom Dach trieb einen Nagel in seinen Schädel. Das Handy klingelte noch mal. Und noch mal.
Sechs Mal.
Sie beobachteten ihn.
Er ging ran und presste das Handy gegen sein Ohr.
Joshua war dran. »Typisch Frau, oder? Kann die Vergangenheit einfach nicht ruhen lassen.«
Dann änderte sich der Ton. Auf einmal wurde er ganz förmlich. »Doch die Vergangenheit hat ihren Preis, Bruder. Vergiss das nicht.«
Dann legte er auf.
Jacob knöpfte sein Flanellhemd ein Stück auf, legte die Hände vor den Mund und atmete ganz langsam aus. Er hoffte, dass seine Aufregung vorbeiging, bevor er umkippte. Unter großer Anstrengung kletterte er zurück in seinen Pickup und stützte sich dabei am Fahrzeug. Gerade als er sich auf seinen Sitz fallen lassen und die Augen geschlossen hatte, hörte er aufgeregte Rufe aus dem Haus. Es waren spanische Worte, so dass Jacob die Bedeutung nicht gleich verstand. Doch immer wieder hörte er das Wort »Fuego« heraus.
Feuer!
Dicke Rauchschwaden waberten aus den offenen Fensterrahmen. Die Dachdecker krabbelten in Windeseile die Leiter hinunter, ließen alles stehen und liegen, die Schiefersäcke flatterten im Wind. Der Bauleiter, ein muskulöser weißer Mann in einem grau melierten, ärmellosen Shirt, kam aus dem Gebäude gerannt. Die Zimmerleute rannten mit Zwanzig-Liter-Eimern zu den Wassertanks, füllten sie in Windeseile und rasten zurück zum Haus. Der Bauleiter schnappte sich einen Eimer und wollte damit ins Gebäude gehen, doch die Hitze zwang ihn zurückzuweichen. Schon waren die ersten Flammen zu sehen und leckten an der frisch eingebauten Eingangstür.
Jacob wollte loslaufen, aber es war, als hätte jemand Zement in seine Adern gekippt. Er kam einfach nicht vom Fleck. Dann endlich, nach einer Weile, war er in der Lage, seine Lippen zu bewegen und Carlitas Satz zu Ende zu bringen.
Wo Rauch ist, ist auch Feuer.