Kapitel 45
Der Schrei war vom Rand der Gruppe gekommen, so als ob ein Hai aus den dunklen Tiefen emporgekommen war und sich ein Opfer gesucht hatte.
Alles, was Wayne tun konnte, war, sich an der Wand festzuhalten und zu warten, bis sich die Aufregung gelegt hatte.
»Was zur Hölle?«, rief Gelbaugh.
»Es hat mich berührt«, sagte eine Frau.
»Ich dachte, Sie wollten, dass es Sie berührt.«
»Aber nicht so.«
»Sind Sie verletzt?«, rief Wayne durch den Keller.
»Ich weiß nicht«, antwortete die Frau. »Es war so schlüpfrig.«
Die Mitglieder der Gruppe redeten durcheinander, und eines von ihnen musste die Treppe hochgestiegen sein, denn die Tür wurde von dumpfen Stößen erschüttert. Jemand anderes löste sich von der Gruppe, lief in eine Steinmauer und stöhnte vor Schmerzen.
»Bleiben Sie, wo Sie sind«, sagte Wayne.
»Sie reden sich leicht.« Wayne erkannte die Stimme als die von Käppi. »Sie sind weit da drüben, und etwas macht hier herum.«
»Belial«, sagte Amelia George.
Der Heizkessel erwachte wieder zum Leben und stieß eine Hitzewelle aus. Auf die Flammen reagierte die Gruppe mit Seufzern und Schreien, und Wayne konnte sehen, dass einige der Teilnehmer geflohen waren. Eine Frau, vermutlich die, die berührt worden war, kniete neben einer Stützwand, wo sie ihren blutigen Kopf in ihren Händen hielt und hin und her wankte. Ein anderer Geisterjäger, ein kleiner Mann in einer Weste, hämmerte gegen die Tür und brüllte das dicke Holz an. Amelia stand inmitten der anderen und hatte die Arme gehoben, als ob sie Dämonen herbeirufen wollte.
Und vielleicht tut sie das auch.
Vor einer Stunde hätte er womöglich an telekinetische Kräfte geglaubt. Aber nun schienen sich die Regeln von Minute zu Minute zu ändern, und das White Horse Inn befand sich nicht mehr im Reich der Physik und der Logik.
Das hier war nun Dämonenland.
Die lodernden Flammen warfen lange Finger des Lichts in den Keller und auf die verängstigten Gesichter der Gruppenmitglieder. Wayne konnte das ihn umgebende Gewirr der Rohre sehen, Gusseisen, Blei und Kunststoff in verschiedenen Größen. Etwa sechs Meter von ihm entfernt befand sich eine dunkle Nische, die eine Tür vermuten ließ.
Der Heizkessel atmete ein – das war der einzige Ausdruck, mit dem Wayne den Vorgang beschreiben konnte – und die Flammen verebbten bis zu einem matten Glühen. Wayne nutzte das schwelende Glühen, um sich vorwärts zu bewegen.
»Komm zu mir«, sagte Amelia. »Gebrauche mich, wenn es nötig ist. Nimm mich.«
Amelias Ehemann entfernte sich ein paar Schritte von ihr, unwillig, in das Kreuzfeuer ihrer spirituellen Leichtsinnigkeit zu geraten. »Liebling, vielleicht solltest du–«
»Dich töten«, bellte sie, während sie ihre Hände aus der gehobenen, anrufenden Position senkte und mit zu Krallen geformten Fingern nach ihrem Ehemann langte.
»Herrje, gnädige Frau«, sagte Gelbaugh. »Die Kameras funktionieren nicht, also gibt es keinen Grund, eine Show abzuziehen.«
»Öffnet die verdammte Tür«, sagte der Mann auf der Treppe, der nun mit der Kraft seines üppigen Gewichts am Türgriff zog.
Wayne eilte zur Nische, die mit den anderen Schatten zerfloss, als die Flammen schwächer wurden. Er duckte sich unter einem rostigen Abflussrohr hindurch, das im Dreck verschwand, und richtete sich wieder auf, um nach der Tür zu tasten, von der er hoffte, dass sie dort war. Seine Hand berührte weiches, nachgebendes Fleisch.
»Digger«, keuchte eine Stimme.
Der Heizkessel atmete aus und der Keller leuchtete orange und rot auf. Im flüchtigen Licht konnte Wayne ein zerschrammtes, blutiges Gesicht erkennen. Die Augen waren fast ganz zugeschwollen und dem Grinsen fehlten ein paar Zähne. Aber es war die Uniform und die Nachtsichtbrille, die auf der feuchten Masse thronte, die ihm die Eingeweide zusammenschnürten.
»Rodney?«, flüsterte Wayne.
Das Licht wurde wieder schwächer, aber die Erinnerung an den Anblick brannte sich Wayne ins Gedächtnis. Schabes Overall war mit Blut durchtränkt, sein Ausrüstungsgürtel leer. Er hielt seinen Daumen über dem zackigen Ende einer Kupferleitung.
Wayne blinzelte in die Dunkelheit. »Was ist passiert?«
»Du würdest es nicht glauben.« Schabes Stimme klang wie eine Eisskulptur unter einem Axthieb.
»Bis du verletzt?«
»Du würdest es nicht glauben.« Mit einem Schluchzer.
»Ist hinter dir eine Tür?«
»Du würdest es verdammt noch mal nicht glauben.«
»Vielleicht hast du eine Gehirnerschütterung.« Wayne rückte näher, als der Heizkessel wieder zu pulsieren begann und einen irren Schimmer auf Rodneys blutiges, schwitzendes, schmutziges Gesicht warf.
»Ich habe jetzt Beweise, Digger.«
»Ich weiß. Aber jetzt müssen wir erst einmal diese Leute hier rausbringen.«
Mit seiner freien Hand rückte Rodney seine Nachtsichtbrille in Position. »Sie werden das nicht erlauben.«
Im Keller wurde es wieder dunkler, und Rodney ließ die Kupferleitung los. Wayne roch Propangas. Die Leitung musste von einem Gastank draußen zu den Herden in der Küche führen. Rodney musste die kaputte Leitung gefunden haben, und vielleicht war er hier unten geblieben, um sie zuzuhalten, bis jemand den Tank absperren konnte. Das würde seine Abwesenheit erklären, aber nicht die Wunden und Prellungen.
»Hast du mal Feuer?«, fragte Rodney.
Gewissermaßen als Antwort dröhnte der Heizkessel erneut, und das Propangas speiste ihn.
Wuschschsch.
»Auftrag ausgeführt«, sagte Rodney, unmittelbar bevor die erschütternde Druckwelle ihnen die Luft raubte und einen sich ausbreitenden Feuerball durch den Keller schickte. Die Hitze traf Wayne wie eine vulkanische Flutwelle und warf ihn auf Rodney, und zusammen fielen sie gegen die Tür, während Stützbalken knarzten und splitterten.
Im Chaos des Einsturzes glaubte Wayne, Beths Stimme gehört zu haben, aber vielleicht waren es auch die erstickten Schreie von Amelia George.