Die rote Kirche

 

Kapitel 1

 

Die Welt wird nicht so enden, wie man sich das vorstellt, dachte Ronnie Day.

Da gab es die altbewährten Favoriten wie Atominferno, Asteroiden-Kollision, Killerviren und Prediger Staymores zeitlosen Klassiker, die Wiederkunft von Jesus Christus. Aber in Wirklichkeit war das Ende keine so große, durchorganisierte Angelegenheit. Das Ende war etwas sehr Persönliches, für jeden anders, ein Tritt in den Hintern und dann das Handschocker-Händeschütteln mit dem Sensenmann höchstpersönlich.

Aber das war das Große Ende. Vorher musste man sich durch Tausende von Wendepunkten arbeiten und jedes Mal ein bisschen sterben. Das war eine der Lektionen des Lebens, die er als Nebenprodukt von dreizehn Jahren als Sohn von Linda und David Day und einem halben Jahr in einer Klasse mit Melanie Ward gelernt hatte. Bitter, nicht wahr?

Ronnie ging schnell und blickte starr geradeaus. Ein weiterer Tag in der Idiotenfabrik namens Barkersville Elementary School war vorüber. Er hatte den ganzen Abend vor sich, nach diesem schönen langen Spaziergang nach Hause. Nichts als seine Füße und der Geruch der feuchten Blätter, des frischen Grases und des feuchten Schlamms am Flussufer. Ein feine Portion Frühlingssonnenschein hoch über ihm am Himmel.

Und in rund einer Minute würde er auch anfangen können, langsamer zu gehen und seine Ankunft in der Hölle hinauszuzögern, die sein Zuhause in der letzten Zeit war. Denn bald würde er um die Kurve sein und vorbei an dem Ding auf dem Hügel zu seiner Rechten, dem Ding, an das er nicht denken wollte, dem Ding, an das er denken musste, weil er gezwungen war, täglich zwei Mal daran vorbeizugehen.

Warum konnte er nicht so sein wie die anderen Kinder? Sie wurden von ihren Eltern in glänzenden neuen Mazdas und Nissans abgeholt, in das Einkaufszentrum von Barkersville mitgenommen oder zum Fußballtraining gebracht und danach heim bis vor die Haustür gefahren. Alles was sie tun mussten, war reinzugehen, sich mit Fertiggerichten vollzustopfen und in ihren Zimmern zu verschwinden, um ihren Verstand den ganzen Abend über mit Fernsehen und Nintendo zu betäuben. Sie mussten keine Angst haben.

Klar, es könnte schlimmer sein. Er hatte Hirn, aber das war nichts, worüber man große Sprüche reißen sollte. Seine »überaktive Fantasie« brachte ihn in der Schule oft genug in Schwierigkeiten, aber es war auch irgendwie angenehm, wenn ihn Mitschüler, vor allem Melanie, um Hilfe in Englisch baten.

Deshalb hatte er kein Problem damit, Hirn zu haben, auch wenn er unter dem litt, was sein Vertrauenslehrer als »negative Gedanken« bezeichnete. Zumindest hatte er Gedanken. Ganz im Unterschied zu dieser kleinen Knalltüte von einem Bruder hinter ihm, der nicht genug Verstand hatte, um zu wissen, dass dieser Teil des Wegs kein Ort war, an dem man herumlungern sollte.

»Hey, Ronnie.« Sein Bruder rief nach ihm. Es hörte sich an, als ob es noch oben von der Anhöhe kam. Der Klappspaten hatte doch nicht etwa angehalten?

»Komm schon.« Ronnie drehte sich nicht um.

»Guck mal.«

»Komm jetzt, oder ich verpass dir ein paar auf die Ohren.«

»Nein, wirklich, Ronnie. Ich sehe was.«

Ronnie seufzte und hielt an, dann schob er seine Schultasche höher auf seine Schulter. Er war seinem kleinen Bruder mindestens 25 Meter voraus. Tim hatte die für ihn typische Trödelei eines Neunjährigen an den Tag gelegt und wiederholt angehalten, um sich die Schuhe zu binden, im Wasser des Straßengrabens nach Kaulquappen zu suchen oder Steine in den Fluss zu werfen, der unterhalb der Straße entlang floss.

Ronnie drehte sich um – linksherum, sagte er sich, damit du sie nicht siehst – und blickte die Schotterstraße entlang zurück auf die Anhöhe, die inmitten der grünen Masse an Bergen fast unterging. Er konnte an mindestens einhundert Gründe denken, um nicht den ganzen Weg zurückgehen zu müssen, um sich das anzusehen, was Tim wollte, dass er sich ansah. Zum einen war Tim oben auf der Anhöhe, was bedeutete, dass Ronnie den steilen Anstieg erklimmen musste. Der Weg nach Hause von der Bushaltestelle war sowieso schon fast eineinhalb Meilen. Warum ihn noch verlängern?

Außerdem gab es noch mindestens neunundneunzig andere Gründe –

wie die rote Kirche

– sich einen feuchten Dreck darum zu kümmern, wohin Tim seine Nase gerade wieder reinsteckte. Dad sollte heute vorbeikommen, um noch mehr von seinen Sachen zu holen, und Ronnie wollte ihn nicht verpassen. Vielleicht würden sie sich für ein paar Minuten von Mann zu Mann unterhalten können. Wenn Tim sich nicht beeilte, könnten Dad und Mom zuvor schon wieder streiten und Dad würde wieder verschwinden wie letzte Woche, als er das Gaspedal seines rostigen Fords durchgetreten hatte, so dass die Räder Schotterstücke verspritzten und eine Fensterscheibe zerbrach. Das war ein weiterer Grund, nicht zurückzugehen, um sich das anzugucken, was Tim so aufregte.

Tim sprang auf und ab, die hochgeschlagenen Enden seiner Jeans hingen über seine Turnschuhe. Er zeigte mit seinem dünnen Arm, seine Brille glänzte in der Nachmittagssonne. »Komm, Ronnie«, rief er.

»Nassbirne«, sagte Ronnie zu sich selbst. Dann fing er an, den Anstieg wieder hoch zu gehen. Er hielt seine Augen auf den Schotter gerichtet, so wie er es immer machte, wenn er sich in der Nähe der Kirche befand. Die Sonne erzeugte ein Funkeln in den Steinen und mit etwas Fantasie konnte man sich die Straße als große Galaxie mit vielen Sternen und Planeten vorstellen. Und wenn er nicht nach links blickte, würde er die rote Kirche nicht sehen müssen.

Warum sollte er vor einer blöden alten Kirche Angst haben? Eine Kirche war eine Kirche. Sie war wie das Herz. Sobald man Jesus hineingelassen hatte, sollte er darin bleiben. Aber manchmal machte man böse Sachen, die ihn wieder vertrieben.

Ronnie riskierte einen Blick auf die Kirche, um sich zu beweisen, dass sie ihm völlig egal war. Na also. Nichts als Holz und Nägel.

Aber er hatte kaum hingeblickt. In Wirklichkeit hatte er nur ein kleines Stück des moosigen grauen Dachs gesehen, wegen all der Bäume, die entlang der Straße standen – große alte Eichen und ein verwachsener Hartriegel, der prima zum Klettern geeignet gewesen wäre. Nur, wenn man ganz oben war, befand man sich genau auf Augenhöhe mit dem Kirchturm und dem Glockenstuhl.

Blöde Bäume, dachte er. Sind total glücklich, weil es Mai ist und ihre Blätter im Wind wehen. Wenn sie Menschen wären, hätten sie alle ein idiotisches Grinsen auf ihren Gesichtern, genau wie das auf dem von Tim gerade. Weil die Bäume, genau wie mein kleiner Bruder, viel zu dumm sind, um Angst zu haben.

Ronnie ging etwas langsamer. Tim war in den Schatten des Ahorns getreten. In den Unkrautdschungel, der einen natürlichen Zaun entlang der Straße bildete. Und vielleicht an den Rand des Friedhofs.

Ronnie schluckte schwer. Vor kurzem hatte sich sein Adamsapfel herausgebildet und er konnte fühlen, wie der Knorpel in seinem Hals Pogo tanzte. Er hielt an. Ihm war Grund einhunderteins eingefallen, nicht auf den Friedhof zu gehen: Weil – und das war der beste Grund von allen, einer, bei dem es Ronnie vor Erleichterung fast schwindlig wurde – weil er der ältere Bruder war. Tim musste auf ihn hören. Wenn er gegenüber dem kleinen schleimigen Zwerg auch nur einmal nachgab, würde das ein lebenslanges »Ronnie, mach dies« und »Ronnie, mach das« zur Folge haben. Und er bekam schon genug dieser Art von Behandlung von seiner Mom.

»Mach schnell«, rief Tim aus dem Gestrüpp. Ronnie konnte Tims Gesicht nicht sehen. Kein großer Verlust. Tim hatte vorstehende Zähne, sein blondes Haar stand herum wie Stroh und seine Augen waren wie die eines Käfers. Gut, dass er in der vierten Klasse war und nicht in der achten. Denn in der achten Klasse musste man Mädchen wie Melanie Ward beeindrucken, die einem an einem Tag ins Gesicht lachten und am nächsten Tag in der Bank hinter einem saßen, bis man so durcheinander war, dass es einem völlig egal war, in welchen Schlamassel diese Knalltüte von einem Bruder gerade geriet. »Komm da raus, du Idiot. Du weißt, dass du nicht auf den Friedhof gehen sollst.«

Die Blätter raschelten dort, wo Tim im Gestrüpp verschwunden war. Er hatte seine Schultasche im Gras am Fuß eines Baums liegen gelassen. Seine Piepsstimme kam aus einem Gewirr aus Jungbäumen und Lorbeer. »Ich hab was gefunden.«

»Komm sofort da raus.«

»Warum?«

»Weil ich es sage

»Aber guck mal, was ich gefunden hab.«

Ronnie kam näher. Er musste zugeben, dass er ein bisschen neugierig geworden war, obwohl er begonnen hatte, die Geduld zu verlieren. Und Angst zu haben. Denn durch die Lücken zwischen den Bäumen konnte er den Friedhof sehen.

Ein Hang mit dichtem, gleichmäßig gemähtem Gras, in dem sich weiße und graue Steinplatten befanden. Grabsteine. Mindestens vierzig tote Menschen, die nur darauf warteten, sich zu erheben und–

Das sind nur Geschichten. Du glaubst doch nicht wirklich an das Zeug, oder? Wen kümmert, was Whizzer Buchanan sagt? Wenn er so schlau ist, warum ist er dann dreimal durchgefallen?

»Wir werden Dad verpassen«, rief Ronnie. Seine Stimme zitterte leicht. Er hoffte, dass Tim es nicht bemerkte.

»Nur für einen Moment.«

»Ich hab keinen Moment.«

»Hast du Muffensausen oder was?«

Das genügte. Ronnie ballte seine Hände zu Fäusten und eilte zu der Stelle, an der Tim im Friedhof verschwunden war. Er legte seine Schultasche neben die von Tim und trat in das zerdrückte Gestrüpp. Haarige Äste von Giftsumach schlängelten sich über den Boden. Rote Zweige bogen sich unter dem schneeweißen Gewicht von Brombeerblüten. Und Ronnie würde einen Spiderman-Comic darauf wetten, dass in dem hohen Gras neben dem Graben Schlangen hausten.

»Wo bist du?«, rief Ronnie ins Gebüsch.

»Hier drüben.«

Er war auf dem Friedhof, der dumme kleine Trottel. Wie oft hatte Dad ihnen gesagt, dass sie sich vom Friedhof fernhalten sollten?

Nicht, dass man Ronnie daran erinnern musste. Aber das war eben Tim. Wenn man ihm sagte, dass er die heiße Herdplatte nicht berühren sollte, konnte man das brutzelnde Fleisch seiner Finger schon riechen, bevor man den Satz beendet hatte.

Ronnie bückte sich etwa auf die Größe Tims – Rotznasenaugenhöhe – und sah den Friedhof durch die Lücke, die Tim geschaffen hatte. Tim kniete neben einem alten Grabstein aus Marmor und blickte nach unten. Er nahm etwas in die Hand, das in der Sonne blitzte. Eine Flasche.

Ronnie blickte an seinem Bruder vorbei auf die ungleichmäßigen Reihen der Grabsteine. Einige hatten Risse und waren beschädigt, und alle waren von der Zeit gezeichnet. Alte Gräber. Alte tote Menschen. Schon so lange tot, dass sie wahrscheinlich schon zu verrottet waren, um sich aus der Erde zu erheben und in die rote Kirche zu spazieren.

Nein, das war keine Kirche mehr, sondern nur noch ein altes Gebäude, das Lester Matheson dazu nutzte, Heu zu lagern. Es war seit mehr als zwanzig Jahren keine Kirche mehr. Wie Lester gesagt hatte, nachdem er eine Pause gemacht hatte, um einen Schwall braunen Safts in einem Bogen auf den Boden zu schicken und sich danach mit dem vernarbten Stummel seines Daumens über die Lippen zu fahren: »Es sind die Menschen, die eine Kirche ausmachen. Ohne Menschen und das, an was auch immer sie glauben, ist es nichts weiter als ein besseres Mäusemotel.«

Yeah. Besseres Mäusemotel. Nichts, wovor man sich fürchten müsste, oder?

Es war genauso wie die Erste Baptistengemeinde, wenn man genau drüber nachdachte. Nur, dass die Baptistenkirche größer war. Und die Baptistenkirche machte nur Angst, wenn Prediger Staymore sagte, dass Ronnie gerettet werden müsste, weil ihn sonst Jesus Christus für immer in die Hölle schicken würde.

Ronnie mühte sich durch das Gebüsch. Ein Dornenzweig verhakte sich in seinem Akte X-T-Shirt, das Melanie so cool fand. Er bewegte sich zurück und befreite sich fluchend, als ein Dorn in seinen Finger stach. Ein Blutstropfen bildete sich und er wollte ihn schon an seinem T-Shirt abwischen, schleckte ihn dann aber doch ab.

Tim legte die Flasche wieder hin und nahm etwas anderes auf. Eine Zeitschrift. Ihre Seiten flatterten ihm Wind. Ronnie war durch das Gestrüpp hindurch und richtete sich auf.

Nun war er auf dem Friedhof. Keine große Sache. Und wenn er seine Augen starr nach vorne gerichtet hielt, musste er nicht einmal das bessere Mäusemotel sehen. Aber dann vergaß er völlig zu versuchen, sich nicht zu fürchten, weil er sah, was Tim in seinen Händen hielt.

Als Ronnie neben ihn trat, schloss Tim schnell die Zeitschrift. Aber nicht, bevor Ronnie einen guten Blick auf das blasse Fleisch werfen konnte, das auf den Seiten dargeboten wurde. Timmy errötete. Er hatte einen Playboy gefunden.

»Gib das her«, sagte Ronnie.

Tim blickte seinen Bruder an und versteckte die Zeitschrift hinter seinem Rücken. »Ich ... ich hab sie gefunden.«

»Klar, und du weißt nicht mal, was das ist, oder?«

Tim starrte auf den Boden. »Ein Buch mit nackten Frauen.«

Ronnie fing an zu lachen, aber unterdrückte es, als er auf dem Friedhof umhersah. »Woher kennst du Tittenhefte?«

»Whizzer. Er hat uns in der Pause hinter der Turnhalle eins gezeigt.«

»Und hat wahrscheinlich pro Kopf einen Dollar verlangt.«

»Nein, nur 25 Cent.«

»Gib es her oder ich werde es Mom sagen.«

»Nein, wirst du nicht.«

»Doch, werde ich.«

»Und was wirst du ihr sagen? Dass ich ein Buch mit nackten Frauen gefunden habe und es dir nicht zeigen wollte?«

Ronnie zog eine Grimasse. Eins zu null für die Nassbirne. Er überlegte sich, ob er sich auf Tim stürzen und ihm mit Gewalt die Zeitschrift abnehmen sollte, aber es gab keinen Grund zur Eile. Sie ihm abzutricksen, würde viel mehr Spaß machen. Aber er wollte nicht auf diesem unheimlichen Friedhof herumstehen und Verhandlungen führen.

Er blickte auf das andere Zeug, das verstreut im Gras um den Grabstein lag. Die Flasche hatte eine viereckige Grundfläche und einen schwarzen Schraubverschluss. Ein paar Zentimeter goldbrauner Flüssigkeit schwammen darin. Er wusste, dass es Alkohol war wegen dem Truthahn auf dem Etikett. Es war die gleiche Sorte, die Tante Donna trank. Aber Ronnie wollte fast genauso wenig an Tante Donna denken wie daran, Angst zu haben.

Eine grüne Baseballkappe lag mit der Oberseite nach unten neben dem Grabstein. Das Schweißband war zu einem dunklen Grau verfärbt und der Schild war so sehr gebogen, dass er eine ausgefranste Spitze hatte. Es gab nur eine Person, die den Schild ihrer Kappe so aufrollte. Ronnie drehte die Kappe mit seinem Fuß um. Eine John-Deere-Kappe. Das war der Beweis.

»Boonie Houcks«, sagte Ronnie. Aber Boonie ging niemals irgendwohin ohne seine Kappe. Er hatte sie immer bis auf die Höhe seiner Augenbrauen ins Gesicht gezogen und seine Augen glänzten unter dem Schatten des Schilds wie nasse Kugellager. Wahrscheinlich duschte und schlief er sogar mit der Kappe auf seinem großen Kopf.

Eine zerknitterte Kartoffelchipstüte lag neben der Kappe und flatterte im leichten Wind. Sie wurde von einer ungeöffneten Dose Coca-Cola auf ihrem Platz gehalten. Das blinde Auge einer Taschenlampe schielte unter der Chipstüte hervor.

Ronnie bückte sich und sah etwas Silbernes aufblitzen. Geld. Er hob zwei 10-Cent-Stücke und ein glanzloses 5-Cent-Stück auf. Ein paar 1-Cent-Münzen lagen im Gras verstreut, aber er ignorierte sie. Er richtete sich auf.

»Ich gebe dir fünfundzwanzig Cent für die Zeitschrift«, sagte er.

Tim wich zurück, während er die Hände immer noch hinter seinem Rücken hatte. Er bewegte sich in den Schatten eines kunstlosen steinernen Denkmals, das sich neben einem Felsvorsprung befand und aus zwei Säulen bestand, die ein Querstück trugen. Auf dem Querstück befand sich ein verwitterter Übertopf. Ein Bündel zerbrechlicher brauner Tulpen wuchs aus der Blumenerde.

Tulpen. Also musste jemand den Friedhof mindestens ein Mal seit dem letzten Winter gepflegt haben. Wahrscheinlich Lester. Lester gehörte das Grundstück und er mähte das Gras, aber bedeutete das, dass sich der Tabak kauende Farmer um diejenigen, die hier begraben waren, kümmern musste? Waren die toten Leute Teil der Besitzurkunde?

Doch Ronnie vergaß das alles, weil er aus Versehen über Tims Schulter blickte. Die rote Kirche wurde perfekt von den Steinsäulen eingerahmt.

Nein, NICHT aus Versehen. Du WOLLTEST sie sehen. Deine Augen sind mit Absicht in ihre Richtung gekrochen, seitdem du dich auf dem Friedhof befindest.

Die Kirche befand sich auf einem breiten Fundament von Steinen aus dem Fluss, die durch eine Ewigkeit fließenden Wassers gelb und weiß gefärbt worden waren. Ein paar der Steine waren davongerollt und hatten dunkle Lücken unter dem Gebäude zum Vorschein gebracht. Die Kirche wirkte ein wenig wackelig, so als ob sie ein starker Wind kopfüber den Hügel hinunterschicken konnte.

Der unheimliche Baum stand groß und hoch aufgeschossen neben der Tür. Ronnie glaubte nicht an Whizzers Geschichte über den Baum. Aber wenn nur die Hälfte davon wahr war–

»Fünfundzwanzig Cent? Ich kann sie mit in die Schule nehmen und fünf Dollar verdienen«, sagte Tim.

Die Zeitschrift. Ronnie interessierte sich nicht mehr für die Zeitschrift. »Komm schon. Lass uns von hier verschwinden.«

»Du wirst sie mir abnehmen, oder?«

»Nein. Dad soll vorbeikommen, das ist alles. Ich will ihn nicht verpassen.«

Tim trat plötzlich mit großen Augen noch einen weiteren Schritt zurück.

Ronnie deutete mit seinem Arm und versuchte, ihn vor dem Denkmal zu warnen. Tim drehte sich um und stieß gegen eine der Säulen, wodurch das Querstück zu wackeln begann. Tim glitt zu Boden. Der Übertopf aus Beton kippte um und sorgte dafür, dass ein Schauer aus schwarzer Erde auf Tims Kopf landete. Der Übertopf rollte auf den Rand des Querstücks zu.

»Vorsicht!«, schrie Ronnie.

Tim löste sich von der Säule, aber das ganze Denkmal wankte wie in Zeitlupe. Das schwere Querstück würde Tims Kopf zerschmettern wie eine verrottete Wassermelone.

Ronnies Glieder verloren ihre Lähmung und er wollte zu Tim springen. Etwas behinderte seinen Fuß. Er stolperte und fiel auf den Bauch. Mit einem Zischen entwich die Luft aus seinen Lungen und der Geruch von gemähtem Gras bedrängte seine Nasenlöcher. Er schmeckte Blut und seine Zunge fand die Wunde auf der Innenseite seiner Lippe gerade in dem Moment, als er wieder entdeckte, wie man atmete.

Ein dumpfes Geräusch des Zerbrechens hallte über den Friedhof. Ronnie blickte gerade rechtzeitig auf, um den Übertopf auf dem Fundament des Denkmals aufplatzen zu sehen. Tim gab ein überraschtes Quietschen von sich, als schmutzige Betonstückchen auf seine Brust hagelten. Die Säulen fielen in entgegengesetzte Richtungen. Diejenige auf Tims Seite verfing sich in dem Felsvorsprung genau über seinem Kopf. Das Querstück drehte sich wie der langsame Propeller eines Helikopters und kam über Tims Beinen auf der liegenden Säule zur Ruhe.

Ronnie versuchte, zu Tim zu kriechen, aber sein Schuh war noch immer verhakt. »Bist du okay?«

Tim weinte. Zumindest bedeutete das, dass er noch am Leben war.

Ronnie versuchte, sein Bein frei zu bekommen. Er blickte zu seinem Schuh zurück –

NEIN NEIN NEIN

– rote rohe Hamburgerhand.

Ein Arm war hinter dem Grabstein hervorgekommen, ein blutiger Arm, und die knöchrigen Finger bildeten eine Kralle um seinen Turnschuh. Der feuchte, glänzende Knochen eines Fingerknöchels hatte sich in seinem Schnürsenkel verhakt.

TOTERGEISTTOTERGEISTTOTERGEIST

Er vergaß, dass er gelernt hatte, wie man atmete. Er trat nach der Hand, drehte sich auf seinen Rücken und versuchte, wie eine Krabbe davonzukrabbeln. Die Hand wollte nicht loslassen. Tränen brannten in seinen Augen, als er mit seinem anderen Fuß gegen das zerfetzte klammernde Etwas trat.

»Hilf mir!«, schrie er im gleichen Moment, als Tim seinen eigenen Hilferuf stöhnte.

Whizzers Worte rasten durch Ronnies Hirn und vereinigten sich mit dem Durcheinander halb beendeter Gedanken: Erst locken sie dich in eine Falle, dann holen sie dich.

»Ronnie«, war Tims schwaches Jammern zu hören.

Ronnie wand sich wie ein aufgespießter Aal und zwang seine Augen, an dem glitschigen Handgelenk vorbei auf den Arm zu blicken, an dem Streifen zerfetzten Flanells hingen.

Flanell?

Das schräge Karussell seiner Gedanken kam zu einem abrupten Halt.

Warum würde ein Totergeist-Ding Flanell tragen?

Der Arm hing an einer Masse von etwas hinter dem Grabstein.

Die Hand griff fest zu, erwischte aber nur Luft, dann erzitterte sie und wurde locker. Ronnie krabbelte davon, als sich die Finger öffneten. Blut hatte sich in der Vertiefung der Handfläche gesammelt.

Ronnie erreichte Tim und begann, die Betonstücke vom Bauch seines Bruders zu entfernen. »Bist du okay?«

Tim nickte. Er hatte dunkle Dreckstreifen im Gesicht von den Tränen, die durch die auf ihn gesprenkelte Blumenerde geflossen waren. Auf einer Backe hatte er eine rote Schramme, aber ansonsten schien er unverletzt. Ronnie blickte immer wieder zurück zu dem geschundenen Arm und dem, was auch immer sich hinter dem Grabstein verbergen mochte. Die Hand lag reglos, die Sonne trocknete das geronnene Blut auf der Handfläche. Eine funkelnde Fliege landete und stillte ihren Durst.

Ronnie zog Tim unter dem umgestürzten Beton hervor. Als sie beide standen, wischte sich Tim den pulverartigen Betonstaub von der Vorderseite seines T-Shirts. »Mom wird mich umbringen...«, fing er an. Dann sah er den Arm. »Was zum Teufel...?«

Ronnie ging Richtung Grabstein, während sein Herz in seinen Ohren hämmerte.

Seinen Herzschlag übertönend, konnte er Whizzer hören: Sie haben Lebern statt Augen.

Ronnie änderte die Richtung zum Rand des Friedhofs, während Tim unmittelbar hinter ihm ging.

»Wenn ich sage ›lauf‹...«, flüsterte Ronnie mit belegter Stimme.

»G-guck mal«, sagte Tim.

Die Knalltüte hatte nicht genug Hirn, um Angst zu haben. Aber Ronnie blickte trotzdem hin. Er konnte nicht anders.

Ein Körper war gegen den Grabstein gelehnt, das Flanellhemd war zerfetzt und offenbarte zerkratztes Fleisch. Der Kopf war gegen den weißen Marmor gepresst, der Hals in einem seltsamen Winkel gebogen. Ein Faden Blut hing vom verfilzten Bart auf den Boden.

»Boonie«, sagte Ronnie mit einer Stimme, die kaum so laut war wie der Wind in den Eichenblättern.

Zerdrücktes Grass zeigte einen Pfad, der aus dem Unterholz kam, das den Friedhof umgab. Bonnie musste aus dem Gestrüpp hervorgekrabbelt sein. Und was auch immer ihm das angetan hatte, konnte sich noch immer in den Bäumen befinden. Ronnie lenkte seinen Blick von Boonie zur Kirche. Hatte da etwas im Glockenstuhl geflattert?

Ein Vogel, ein VOGEL, du Idiot.

Nicht das Ding, von dem Whizzer behauptet hatte, dass es in der roten Kirche lebt.

Nicht das Ding, das einen erst in eine Falle lockte und einen dann holte, nicht das Ding, das Flügel hatte und Klauen und Lebern statt Augen, nicht das Ding, das Boonie Houcks Gesicht verwüstet hatte.

Und dann rannte Ronnie, er brach durch das Unterholz und nahm kaum wahr, wie die Sträucher nach seinem Gesicht und seinen Armen griffen, wie die Dornen von Gleditschien sich in seine Haut bohrten, wie Zweige nach seinen Augen stocherten. Er hörte Tim hinter sich – zumindest hoffte er, dass es Tim war, aber er wagte nicht, sich umzudrehen und nachzusehen, denn nun war er auf der Schotterstraße und seine Beine bewegten sich im Rhythmus der Angst – NICHT-das-Ding, NICHT-das-Ding, NICHT-das-DING – und er hielt nicht an, um zu atmen, nicht als er an Lester Matheson vorbeilief, der auf seinem Traktor inmitten einer Wiese saß, nicht als der alte Knacker Zeb Potter Ronnies Namen aus dem Schatten seiner Veranda brüllte, nicht als Zebs Köter mit seinem komischen Gebrüll anschlug, nicht als Ronnie über den Stacheldraht sprang, der den Besitz der Days abgrenzte, nicht als das rostige Blechdach seines Zuhauses sichtbar wurde, nicht als er Dads Ford Ranger in der Auffahrt sah, nicht als er auf der Fußbrücke stolperte und die scharfen, funkelnden Steine unten im Bachbett sah. Als er fiel, erkannte er, dass er an einem weiteren Wendepunkt angelangt war, einen weiteren Weg gefunden hatte, wie die Welt enden konnte, aber zumindest war dieses Ende nicht so schlimm wie das, was auch immer Boonie Houck die Ausgangstür von allem gewiesen hatte.

Dunkle Zeiten: Die ultimative Thriller-Collection
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