12. KAPITEL
»Na klar, Honigsträußchen. Wie du schon sagst: Ich bin nicht ich selbst. Bis Donnerstag.« Joshua legte den Hörer auf und drehte sich zu Jacob um. »Verdammte Scheiße. War ganz schön schwierig, den Tennessee-Akzent abzulegen. Wie hast du dir noch so einen schwulen Dialekt zugelegt?«
»Schön, was du aus dem Haus gemacht hast«, sagte Jacob.
»Mutter hatte echt Geschmack, was hässliche Dinge anging. Sie und die alte Königin Viktoria hatten eine Menge gemeinsam. Wenn sie uns nicht zur Welt gebracht hätte, hätte ich geschworen, dass sie niemals einer flachgelegt hat. Kann ich dich was fragen, von Bruder zu Bruder?«
Jacob kratzte die juckende Haut an seiner Wange, die noch immer nicht ganz verheilt war. »Wie könnte ich je ein Geheimnis vor dir haben?«
»Wie kommst du nur darüber weg?«
»Über was?«
»Na deine Kinder. Wie wird man damit fertig, wenn sie sterben? Ist da nicht das ganze Leben ruiniert? Gibt man nicht Gott die Schuld daran und all die ganze Scheiße?«
»Man kommt damit zurecht.« Jacob wand sich auf seinem unbequemen Stuhl.
»Nein, ich meine, wie ist es wirklich?« Joshua steckte sich noch eine Zigarette an, kam herüber zu Jacob und lehnte sich über ihn. »Wie fühlt es sich an? Du musst ehrlich zu mir sein. Wir haben immer alles miteinander geteilt. Zumindest bis Vater zwischen uns gekommen ist. Aber jetzt steht er uns nicht mehr im Weg. Es kann also alles wieder so sein wie früher.«
»Du verstehst das nicht. Wenn man wissen will, wie es ist, jemanden zu verlieren, muss man erst mal jemanden lieben.« Jacobs Blick wanderte über seinen Zwillingsbruder hinweg zum Kamin. In den Flammen tauchte Matties Gesicht auf, von dem sich die Haut abpellte. Er war froh, dass er sich an seine Tochter erinnern konnte, doch er fürchtete, dass die Erinnerung immer von diesem Bild begleitet sein würde.
»Hey, ich weiß, was Liebe ist! Liebe ist, sich das zu holen, was man braucht. Oder etwa nicht?«
»Halt die Fresse.«
»Du hast Mutter geliebt. Jetzt ist sie tot. Du hast Vater geliebt. Auch tot. Deine Kinder hast du bestimmt auch geliebt. Jetzt sind beide tot. Und Renee …«
Jacob ballte die Fäuste, sprang auf und gab Joshua einen Stoß. Der ließ seine Zigarette fallen und taumelte rückwärts gegen das Bücherregal. Beim Umfallen tat er übertrieben unbeholfen, stieß das Schüreisen und die Ascheschaufel um. Auch ein paar Bücher fielen zu Boden.
Joshua wischte sich über den Mund. Aus seinen Mundwinkeln rann ein dünner Blutstreifen. »Sie sind die Verlierer und du der Gewinner, was? Ein Wells versagt nie.«
»Ich habe nie darum gebeten.«
»Aber trotzdem hast du alles bekommen! Und immer, wenn jemand ins Gras beißt, bekommst du noch mehr.«
»Ich dreh dir den Hals um, wenn du nicht gleich dein Maul hältst!«
»Jake, Jake, Jake.« Joshua lachte keuchend. »Hast du in letzter Zeit mal in den Spiegel geguckt? Wir sind keine Kinder mehr.«
»Ich muss mir deine Scheiße hier nicht anhören. Ich hab 'ne Menge davon ertragen, als wir noch klein waren. Aber du hast Recht, die Zeiten sind vorbei. Du kannst bald noch eine weitere Person auf meine Totenliste schreiben.« Jacob wandte sich zur Tür, drehte sich rasend um und zeigte mit dem Finger auf Joshua.
»Dich.«
Joshua stand auf, das Schüreisen in der Hand. »Wo willst du eigentlich hin?«
Jacob lief weiter, bis ins Foyer mit seiner hohen Decke und den Geisterwänden. Die Eingangstür war verschlossen. Der Türriegel glänzte nagelneu. Das Strahlen schien in dem dunklen Raum völlig fehl am Platze.
»Du bist zu Hause, Jacob«, sagte Joshua und klopfte mit dem Schüreisen auf den Boden, als wäre es ein Gehstock. »Gewöhn dich daran.«
Jacob zerrte an der Tür. Ihre Eltern hatten die Zwillinge oft bestraft, indem sie sie in ihr Zimmer einschlossen. Die meisten Türen des Hauses konnten sowohl von innen als auch von außen verschlossen werden. »Ich schlag auch gerne ein Fenster ein. Oder deinen Schädel.«
»Immer diese Wut! Ich dachte, die Ärzte hätten dir beigebracht, wie man damit umgeht. Aber es ist schon praktisch, wenn man immer so tun kann, als wüsste man nicht, was passiert ist.«
»Was willst du eigentlich von mir?«
»Na, was wollte ich denn schon immer, hm? Ich wollte du sein, du Teufelskerl! Ich hatte leider das Pech, nach dir auf diese Welt zu kommen. Und dann hast du mich auch in allen anderen Dingen hinter dir gelassen.«
»Mann, ich wollte weder Vaters Segen noch das Erbe, und ich wollte ganz bestimmt nicht das Wells'sche Recht des Erstgeborenen. Mit jedem Atemzug habe ich dagegen angekämpft, genau wie du.«
»Bis kurz vor seinem Tod. Schon komisch, oder? Wie du dann auf einmal die Kurve gekriegt hast, als es darauf ankam.«
Jacob hielt sich die Ohren zu. Wenn er nur diese höhnische, vorwurfsvolle Stimme abschalten könnte. Vielleicht konnte er ja fest genug gegen seinen Schädel drücken, dass die Erinnerungen aus seinem Hirn rausgeschleudert würden wie Eiter aus einem riesigen Pickel. Er war nicht zu Warren Wells ans Sterbebett getreten und hatte um Vergebung gefleht! Und doch konnte er das Bild in seinen Gedanken nicht loswerden, wie dieser seine blasse, faltige Hand ausstreckte und seinen Kopf tätschelte, und wie die wässrigen blauen Augen vor Stolz und Siegesmut glänzten.
Joshua kam näher, das Schüreisen hoch erhoben wie ein Florett, seine Lippen spiegelten den Triumph. Jacob konnte nicht ausreißen. Selbst wenn die Tür offen gewesen wäre, gab es keinen Ort auf dieser Welt, wo er seiner Vergangenheit entkommen konnte. Er schaute in das Gesicht, das wie ein schonungsloser Spiegel war. Es erinnerte ihn an all die dunklen Geheimnisse und all die kranken, verborgenen Dinge.
Joshua stand so nah vor Jacob, dass dieser den alten Teer der Zigarette auf seinen Lippen riechen konnte. »Stell dich nicht so an, Bruder. Du tust ja gerade so, als ob du gegen deinen Willen hier wärst. Als ob du nicht jeden verdammten Tag deines Erwachsenenlebens an dieses Haus hier gedacht hättest.«
Joshua legte eine Hand auf Jacobs Schulter. Die Hand war kalt wie eine Eidechse, die sich unter einem Stein im Gebirgsbach versteckt. »Komm, ich bring dich auf dein Zimmer.«
Jacob ließ sich widerstandslos durch das Foyer führen, zu der glänzenden Treppe mit dem ausgetretenen Läufer. Bei dem zersplitterten Geländerpfosten blieben sie kurz stehen, als ob sie dieses besondere Relikt bewunderten, das sich der Reparatur widersetzt hatte. Dann stieß ihn Joshua sanft die Treppe hinauf. Mit jeder Stufe kam Jacob seiner Vergangenheit ein Stück näher, auch wenn ihn sein Gedächtnis im Stich zu lassen schien. Vor ihm lief kein zusammenhängender Film ab, sondern er sah die Ereignisse seiner Kindheit in blitzartig zuckenden, verschwommenen Bruchstücken.
Stufe. Sie sitzen auf dem Fußboden. Die Sonne scheint durchs Fenster und bildet einen gelben Fluss zwischen den beiden. Joshua knallt den Güterwagen der Holzeisenbahn auf Jacobs Knie.
Stufe. Jacob hat sich seinen Finger im Kinderbett eingeklemmt, sein Schreien erfüllt die ganze Welt, Joshua wirft lachend die Bettdecke weg.
Stufe. Es ist dunkel, er hält den Atem an. Etwas Entsetzliches kratzt an der Tür.
Stufe. Mutter kommt ins Zimmer, sie trägt lächelnd ein Silbertablett mit einer Teekanne und Tassen aus feinstem Porzellan.
Stufe. Vater grinst hinter seiner Pfeife. Er hält einen Dollarschein in die Luft und lässt seine Söhne danach springen. Wer wird es am höchsten schaffen und sich als erster den Schein schnappen?
Stufe. Das Fenster ist zersplittert, an den Glasscherben klebt das dunkle Blut des Vogels, der gegen sein eigenes Spiegelbild in der Scheibe geflogen ist.
Stufe. Es ist Nacht, Joshua sitzt kichernd auf seinem Bett. Aus dem Kleiderschrank ertönt ein anderes Kichern. Jacob steckt mit dem Kopf unter dem Kissen und wähnt sich in erstickender Sicherheit.
Stufe. Mutter oben auf der Treppe, ihre Beine zittern, ihre Augen starren angstvoll an die Decke.
Stufe. Jacobs Comicsammlung liegt auf dem Boden verstreut. Bei den Cartoonfrauen ist die Stelle zwischen den Beinen fein säuberlich ausgeschnitten.
Stufe. Ein Arm langt unter dem Bett hervor, die Finger schimmern blass im Mondlicht.
Stufe. Vater verschließt die Schranktür und droht, dass er die Jungs erst als Skelette wieder rauslässt, wenn sie nicht endlich lernen, sich zu benehmen.
Stufe. Flüchtiger Schwefelgestank, dann eine kleine Flamme, die die Bettdecke hinauf züngelt.
Stufe. Joshua ringt ihm das Versprechen ab, niemals jemandem davon zu erzählen, und es bei seinem Leben zu schwören.
Stufe. Der Arzt beugt sich über ihn, er riecht nach süßer Verwesung, sein rundes Gesicht strahlt vor Freundlichkeit.
Stufe. Mutter mit dem Silbertablett, diesmal bringt sie Tabletten und ein Glas Wasser.
Stufe. Der Klang von Münzen, die gegen den Schrank aus Nussbaumholz fliegen. Joshua mit drei ganzen Dollars, weil er Vaters Liebling war.
Stufe. Jacob wühlt in Joshuas Wäsche und probiert das rote Lieblingshemd seines Bruders an. Es passt perfekt, viel besser als seine eigenen Sachen.
Stufe. Jacob mit seinem Kopf unter dem Kissen. Die Schranktür öffnet sich knarrend.
Stufe. Der Arzt erzählt ihm, es war nur ein Traum, und Träume können gruselig sein, nicht wahr? Aber schau, jetzt ist alles wieder gut.
Stufe. Mutter oben auf der Treppe.
Stufe. Vater oben auf der Treppe.
Stufe. Ein Knallen, Knochen sind weicher als Holz, sie hatte einfach nicht genügend Fleisch auf den Rippen.
Stufe. Versprich, nie jemandem davon zu erzählen.
Stufe. Jacob oben auf der Treppe.
Er zwinkerte und schaute sich um. Der Staub war wie ein fein gesponnener silbergrauer Teppich, seine Fäden schimmerten fast übersinnlich im Sonnenlicht. Die geschlossenen Türen im kirschbaumgetäfelten Gang wirkten wie undurchdringliche Platten der Dunkelheit. An der Decke entlang verliefen Risse, krumm wie Spinnenbeine.
Die letzte Tür rechts führte zu dem Zimmer, das er sich mit Joshua geteilt hatte, als sie Kinder waren. Obwohl das Haus so groß war, hatte Mutter immer darauf bestanden, dass die beiden Jungen so viel wie möglich zusammen sind. Das Schlafzimmer ihrer Eltern war zwei Türen weiter. Im Nachbarraum standen erst die Gitterbettchen, später diente er als Gästezimmer. Erst als Jacob und Joshua zwölf waren, bekam jeder sein eigenes Zimmer. Doch immer, wenn Jacob an das Haus dachte, dachte er nicht an »sein« Zimmer. Er dachte immer an ihr gemeinsames Zimmer. Für ihn war der Raum in der Ecke des Hauses mit dem Blick auf die Scheune und das Feld am Fluss das Zuhause seiner Kindheit.
Und dorthin trugen ihn seine Füße nun. Die Dielen knarrten vor Altersschwäche. Noch immer vermied er unbewusst die knarzende Stelle, durch die seine Eltern damals darauf aufmerksam geworden waren, dass er schlafwandelte. Wie oft war er wohl über diesen verschossenen Teppich gelaufen? Wahrscheinlich noch viel öfter, als er es in Erinnerung hatte.
»Fein gemacht!«, sagte Joshua. »Kämpf einfach nicht mehr dagegen an.«
Dann musste ihn seine Erinnerung kurz verlassen haben. Das nächste, was Jacob aktiv wahrnahm, war, dass er zwischen den beiden Betten stand, die an den gegenüberliegenden Wänden des Zimmers standen. Das Bett seiner Kindheit erschien im plötzlich viel zu klein. Wie konnte er hier nur all diese Ängste und Zerrüttungen ausgestanden haben? Die Tür des Schrankes am Fußende des Bettes stand offen. Jacob beobachtete aufmerksam den dunklen Winkel, ob er nicht doch ein Zeichen der Bewegung entdeckte.
Joshua setzte sich auf sein Bett und streckte sich. »Da kommen viele Erinnerungen hoch, was?«
»Nicht wirklich«, log Jacob. »An meine Kindheit erinnere ich mich nur ganz verschwommen. Warum sollte ich mich auch daran erinnern wollen?«
Joshua setzte sich auf, die Bettfedern knarrten laut. »Weil ich es will, mein lieber Bruder. Das waren die besten Zeiten meines Lebens, und die hätte ich gerne zurück.«
Jacob schüttelte die Übelkeit ab, die ihn umfangen hatte. »Hasst du mich etwa deswegen? Weil ich endlich mal ein bisschen glücklich war? Weil ich Erfolg hatte, und du nur einen schlecht bezahlten Job in Tennessee? Weil ich eine Frau hatte, die mich liebte, und Kinder, während du mit irgendeiner Schlampe zusammengehaust hast? Weil ich all das hinter mir gelassen hatte und du aber Tag für Tag so weiterleben musstest, weil du nichts anderes hattest? Ist das der Grund, warum du mich hasst?«
Joshua lächelte, seine Lippen sahen aus wie die der Zombiepuppenköpfe, die an seinem Rückspiegel hingen. »Ich hasse dich nicht. Ich liebe dich. Würde ich mir sonst den ganzen Stress hier antun?«
»Du hast keinen Stress. Du hast ein Riesenglück. Zufällig tauchst du gerade dann auf, wenn ich am Boden liege.«
»Du hast doch ein schönes, weiches, grünes Kissen, das dich auffängt.«
Jacob schaute in Joshuas Augen, in diese tiefen, seelenlosen, haselnussbraunen Löcher, die alles Licht verschluckten. Er fragte sich, ob seine Augen auch so aussahen. Im Spiegel hatte er sich nie als gnadenlos betrachtet. Aber wie sahen ihn andere? Konnte man dem Fluch seiner Gene überhaupt entkommen?
»Ich bin nicht wie du, Joshua. Ich ergötze mich nicht an den Schmerzen anderer.«
»Und wie! Du bist genau wie der Alte. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. So sehr, wie wir ihn gehasst haben – es sieht so aus, als ob er zuletzt lacht.«
»Du hast ihn doch überhaupt nicht gekannt. Zumindest hatte er am Ende noch so viel Seele in sich, dass er seine Sünden erkannt und um Vergebung gebeten hat. Aber du denkst ja nicht mal daran, irgendetwas wiedergutmachen zu wollen. Du gräbst das Loch immer tiefer, und mit jeder Schaufel kommst du der Hölle ein Stück näher.«
»Was für mächtige, schöne Worte aus dem Mund unseres Möchtegern-Dichters. Aber wenigstens bringe ich meine Kinder nicht ins Grab.«
Joshua griff in das Wandregal über seinem Bett. Es hütete die Erinnerungen an eine verlorene Kindheit. Ein zerkuschelter Teddy lehnte zusammengesunken an einem Baseball-Handschuh, ein beinamputierter Plastiksoldat wachte über einen Stapel Baseballkarten, der von einem Gummiband zusammengehalten wurde. Ohne hinzusehen, berührte Joshua einen Zauberwürfel und einen verbeulten Riesenkipper. Er stieß die Spielsachen zur Seite und zog ein verstaubtes Buch aus der hinteren Ecke des Regals hervor.
Jacob erkannte es sofort, obwohl er es seit mehr als zehn Jahren nicht mehr gesehen hatte. »Mein Tagebuch! Woher hast du das?«
»Es ist auch die Geschichte meines Lebens, Jakie. Ich hätte es für dich geschrieben haben können, wenn ich nicht so faul gewesen wäre.«
Jacob fuhr auf. Die Vergangenheit war versiegelt in einem tiefen Keller, das Gestern war der Stoff, der Särge füllte, Erinnerungen waren nur für jene, die nicht die Kraft hatten, sie zu begraben. Leichen versteckte man nicht im Keller, Skelette nicht im Kleiderschrank – man sollte sie mit dem Hammer in tausend kleine Knochensplitter zerschlagen und in alle vier Winde verstreuen. Staub zu Staub. Keine Beweise.
Keine Beweise …
»Gib es mir.« Jacobs Blut war wie gefrorene Lava.
Joshua lehnte sich gegen ein verblichenes Kissen, schlug das Buch irgendwo in der Mitte auf und begann zu lesen. Sein ländlicher Dialekt war auf einmal wie weggeblasen.
»›17. Januar. Kalt und grau. Sieht aus, als ob es bald schneien würde. Joshua hat mir heute in der Schule ziemlichen Ärger eingebrockt. Er hat über meine Hausaufgaben geschmiert und nackte Mädchen gezeichnet. Er hat eine Eins gekriegt und ich musste zum Direktor.‹«
Joshua schaute ihn über das Tagebuch hinweg an und grinste wie ein frecher Junge. »Hey, das hatte ich schon vergessen! Gut, dass du's aufgeschrieben hast, sonst wäre es gewesen, als wäre es nie passiert! Was hast du denn sonst noch so über mich zu berichten?«
»Das geht dich nichts an. Gib mir das Buch.«
Joshua blätterte ein paar Seiten weiter, das Papier knisterte wie die Lungen eines Sterbenden. »Ooh, der hier ist auch gut: ›3. Februar. Beim Mittagessen saß ich neben Cynthia Chaney. Bei mir gab's Erdnussbutter- und Marmeladenbrot. Sie bekommt das Mittagessen kostenlos, weil ihre Eltern so arm sind. Cynthia hat erzählt, dass sie Angst hat vor Joshua, weil er die Mädchen auf dem Klo beobachtet.‹ Mensch, Bruder, du solltest das Immobiliengeschäft aufgeben und nach Hollywood gehen. Mit dem Zeug, was du dir ausdenkst, wärst du dort ein echter Knaller.«
»Das ist wirklich so gewesen. Es ist alles wahr.«
»So ein Scheiß. Ich hab mit Cynthia Chaney Mittag gegessen. Und dann hab ich sie nach Hause gebracht. Hinter den Büschen hinter der Wohnmobilsiedlung hab ich sie gekachelt. Sie hatte die verrückte Idee, dass ich sie heiraten würde und sie aus ihrem erbärmlichen Leben retten würde. Dumme Nuss.«
»Cynthia war eine Nette. Sie konnte auch nichts dafür, dass ihr das zum Verhängnis wurde.«
»Sentimentaler Scheiß! Alle Weiber, die ihre Beine breit machen, wenn du ihnen ›Ich liebe dich‹ ins Ohr säuselst, haben nichts anderes verdient.«
»Nach der Abtreibung musste sie nach Florida ziehen.«
»Wenn du glaubst, was all die anderen Schlampen erzählt haben. Ich wette, sie hat nur nach einer Ausrede gesucht, um die Schule zu schmeißen. Da hat sie sich das ausgedacht, weil ihr dann niemand die Schuld geben konnte. Die Menschen sind wirklich gut darin, sich die Wahrheit so zurechtzulegen, dass sie ihnen ins Bild passt. Außerdem war ich nicht der Einzige, der auf diesem kleinen Pony geritten ist ...«
»Am nächsten Tag …« Jacob schaute aus dem Fenster, und mit der Wut wich auch die Kraft aus ihm. »… dachte Cynthia, dass ich du wäre. Sie kam hinter der Turnhalle zu mir und küsste mich auf den Mund. Ich sollte mich beim Mittagessen mit ihr treffen und Pläne schmieden, wie wir zusammen abhauen könnten.«
Joshua lachte. »Hab doch gesagt, dass sie eine dumme Schlampe war. Sie hat dir bestimmt leid getan. Du warst ja damals total durch den Wind. Mensch, ich hab's schon Jahre vor den Ärzten gewusst. Ich musste nicht erst auf die Uni gehen, um die lockeren Schrauben in deinem Schädel rasseln zu hören.«
»Gib mir das Tagebuch.«
»Wart mal. Jetzt kommt das Beste: ›3. März. Ich würde gern mal wissen, wie es ist, Joshua zu sein. Man sagt ja, dass Zwillinge oft eine seelische Verbindung haben, die über das hinausgeht, was man über die Gene erklären kann. Ich habe in einem Buch gelesen, dass Zwillinge, die bei der Geburt getrennt werden, oftmals erstaunlich gleiche Lebenswege haben.‹ Das ist echt gut! ›Eine seelische Verbindung.‹ Glaubst du diesen Mist wirklich, oder ist das die Scheiße, die die Ärzte dir erzählt haben?«
»Wir sind uns in vielen Dingen sehr ähnlich. Und zwar auf eine Weise, für die ich mich schäme. Aber Vater dachte immer, dass ich derjenige bin, der Schwierigkeiten macht. Es ist schon was dran an der Theorie, dass man immer das sieht, was man sehen will.«
Die tief stehende Sonne warf ihre Strahlen durchs Fenster und beleuchtete den verstaubten Krimskrams unter Joshuas Bett. Die Sache mit dem Monster unterm Bett, das seine Krallen ausstreckt, um die Kinder in die dunkle Unterwelt zu entführen, war nichts weiter als eine Geschichte. Und doch, als die Schatten im Raum bedrohlicher wurden und Jacob so auf dem Bett in seinem Kinderzimmer saß, hätte er seine Füße am liebsten hochgenommen und unter seinen Knien versteckt. Die Monster waren längst verschwunden, und die Macht, die sie auf ihn ausgeübt hatten, war verschlossen in den toten Winkeln der Kleiderschränke und leeren Spielzeugschachteln.
Joshua blätterte ein paar Seiten weiter, da fiel ein zerknittertes Foto aus dem Tagebuch. Joshua hob es auf, schaute es an und warf es dann zu Jacob, als wäre es eine Frisbeescheibe. Jacob fing es auf. Das Polaroidfoto zeigte ihn und Joshua im Alter von etwa sieben Jahren in identischen blauen Matrosenanzügen. Es musste Sommer gewesen sein, denn sie trugen beide keine Schuhe. Jacob brauchte einen Moment, bis er erkannt hatte, dass er der Rechte der beiden war. Er hielt ein kleines Segelboot in den Händen. Jacob hatte dieses Segelboot geliebt. Immer, wenn er schlief, stand es auf dem Fensterbrett am Kopfende seines Bettes.
Eines Tages hatte ihm Joshua das Boot aus den Händen gerissen und es auf dem Fluss losgelassen. Es hüpfte durch die tosenden Fluten und steuerte direkt auf einen schäumenden Wasserfall zu. Jacob war hinter dem Boot her gerannt und wäre fast in den Fluss gesprungen, um es herauszuholen, aber er konnte nicht schwimmen und das Wasser war schlammig und braun vom Regen. Er rannte am Ufer entlang, das dornige Gestrüpp ritzte Striemen in seine Arme und Beine. Zu guter Letzt blieb er stecken und musste hilflos mit ansehen, wie das Segelboot gegen einen hervorstehenden Stein knallte und zersplitterte. Übrig blieben nur bunte Holzstücke und Stofffetzen.
»›11. April‹«, las Joshua. »Mutter ist wieder mal krank. Sie lag den ganzen Tag im Bett und ich musste ihr Suppe bringen. Sie konnte nichts Festes zu sich nehmen. Nur Arznei und Wein. Sie ist blass und ihre Haare sind in den letzten Wochen irgendwie grau geworden. Vater sitzt immer unten in seinem Arbeitszimmer. Joshua versteckt sich, wenn es an der Zeit ist, Mutter Essen zu bringen. Vielleicht sollten wir uns um eine Pflegerin für sie kümmern.«
Joshua knallte das Tagebuch zu. »Du warst ja immer Mamas Liebling.«
»Es war ein Unfall«, sagte Jacob und schaute aus dem Fenster. Vor seinem geistigen Auge sah er das Segelboot. Holzsplitter im Schaum.
»Unfälle gibt es nicht. Wir bekommen das, was wir verdienen.«
»Nein.« Der Fluss bäumte sich auf, dunkle Tiefen mit weißen Zähnen.
»Du hast sie gestoßen, Jacob.«
»Nein.« Der Fluss öffnete sich wie ein riesiges Maul, die kalten Ströme rauschten verheißungsvoll.
»Du hast deine eigene Mutter getötet.«
Jacob drückte seine Fäuste auf die Augen und versuchte das Bild des zerbrochenen Bootes aus seinem Hirn zu verbannen. Irgendwo, weit weg von hier, liegt das Wrack des Segelboots jetzt auf stillem Meeresgrund.