Kapitel 5

 

»Wie sehr brauchen Sie das Geld?«

Janey Mays lehnte sich in ihrem rissigen Lederstuhl zurück, eine Zigarette baumelte zwischen ihren Lippen. Das Büro war nebelig vom Rauch, und auch wenn die Eigentümer bestrebt waren, eine Nichtraucher-Vorschrift durchzusetzen, hatten die das übergroße Plumpsklo doch erst vor sechs Monaten gekauft. Und da sie in Florida lebten und Janey sich in vierzig Jahren von der Wäschemagd zur Direktorin emporgearbeitet hatte, fühlte sie sich den Bedürfnissen des Hotels stärker verbunden und auch eher in der Lage dazu, Grundregeln festzulegen.

»Es geht um ein paar Tausender«, sagte Violet und rutschte nervös auf der Kante des Klappstuhls aus Metall hin und her.

Janey legte Wert darauf, dass sich die Angestellten in ihrem Büro unwohl fühlten. Das war nicht allzu schwierig, denn der Philodendron war schon vor längerer Zeit erstickt und das Farn war zusammengerollt und braun. Das Büro war hinter der Rezeption versteckt wie ein geheimes Grabgewölbe, fensterlos und mit einer einzigen kahlen Birne als Beleuchtung. Zwei verrostete Aktenschränke waren mit zerfallenden Gästeregistern vollgestopft und ein Turm von veralteten Speisekarten drohte, von ihnen herabzustürzen. Auf Janeys Schreibtisch befand sich ein Computer, dessen Speicher kaum dazu ausreichte, einen Brief zu schreiben, aber der Monitor warf einen krankhaften grünlichen Schimmer auf ihre runzelige Haut – ein optischer Effekt, der es wert war, das Gerät zu behalten.

»Ein paar Tausend«, sagte Janey. »Nicht gerade eine Kleinigkeit.«

»Bitte«, sagte Violet.

Violet Felkerson war eine von den hübschen. Hausdamen hatten es leichter, wenn sie hübsch waren; die Gäste fanden sich eher mit kaltem Wasser, schmutziger Bettwäsche und überteuertem Zimmerservice ab, wenn die Entschuldigungen über anziehende, lächelnde und demütige Lippen kamen. Und Janey genoss diesen Teil ihres Jobs mehr, wenn sie attraktiv waren. Sie hatten es verdient, das hässliche Innere kennen zu lernen.

»Normalerweise bedeutet ein Ausrutscher den Abschied«, sagte Janey. »Dieses Hotel beruht auf Tradition, Hingabe und Ehrlichkeit, und jemand, der damit nichts am Hut hat, hat im White Horse nichts verloren.«

Violets dichte Wimpern senkten sich und zuckten. Sie würde gleich zu weinen beginnen. Janey hatte mit ihren Worten eine geschickte Wahl getroffen, denn sie wirkten nur bei denen, die es sich nicht leisten konnten zu gehen.

»Ich muss meinen Ruf wahren«, sagte Janey. »Man nennt mich nicht umsonst die ›Streitaxt‹.«

Tatsächlich war »Streitaxt« nur einer ihrer Spitznamen. Sie hatte auch »Pferdearsch«, »Madam Mayflower« und »Gefängnisleiterin« gehört, und bestimmt hatten im Laufe der Jahre noch andere, weitaus vulgärere, die Runden gemacht.

Sie zog an ihrer Zigarette und ließ den Rauch aus ihrem Mund über Violets blinzelndes Gesicht strömen. »Ich sag Ihnen was. Ich denke, wir können es abdecken, indem wir Geld vom Reparaturbudget rüberschieben. Vielleicht ein unerwartetes Leck im Warmwasserkreislauf. Chad und Stevie werden das schon schlucken.«

Violet lehnte sich noch weiter vor, mit gefalteten Händen, als sei Janey der Geist von Mutter Teresa. Janey stopfte sich ihre Zigarette in den Mund, um ein Schmunzeln zu unterdrücken.

»Danke«, sagte Violet. »Ich kann es in sechs Wochen zurückgeben.«

»Sie werden es niemandem sagen?«

Sagte die Spinne zu der Fliege.

Violet stotterte fast. »Werden Sie?«

Janey drückte ihre Zigarette im überquellenden Aschenbecher aus, wodurch eine der mit Lippenstift beschmierten Kippen herausrollte und auf den Boden fiel. »Ich denke, wir werden eine Lösung finden.«

Ein paar Tausend hatte Violet gesagt. Nach Janeys Berechnung belief sich der tatsächliche Umfang der Veruntreuung auf ungefähr viertausend Dollar, plus-minus ein paar hundert. Janey hatte es bemerkt, weil sie ständig berechnete, wie viel sie selbst stehlen konnte. Schließlich musste man sich als Frau zu helfen wissen. Wenn einen das Aussehen im Stich ließ, blieb nur noch die List. Das war eine Erkenntnis, zu der Violet erst in zwei Jahrzehnten kommen würde.

Chad und Steve würden die geplünderte Kasse niemals bemerken. Sie hatten das Hotel als eine »Investition« gekauft, die in Wirklichkeit als Steuerabschreibung dazu dienen sollte, die Millionen auszugleichen, die sie mit ihren Eigentumswohnungen in Palm Beach verdienten. Bei dem einzigen Mal, das sie bislang zu Besuch gewesen waren, hatten sie lieber ein Zimmer im Courtyard by Marriott im benachbarten Boone gebucht, als unter ihrem eigenen undichten Dach zu schlafen. Deshalb war Janeys Buchhaltung wie das Geschäft einer Hure in einer Hafenstadt – mit der Flut kam das Geld, doch nachdem es versickert war, folgte die Ebbe.

Violet sah so überschwänglich glücklich aus, dass sich Janey wünschte, sie noch ein wenig länger hingehalten zu haben. Aber Janey hatte einen zu hohen Verschleiß, und mit dem neuen Image als »das verspukteste Hotel in den Blue Ridge Mountains« wurde Violets Position immer schwieriger zu besetzen, und das trotz der Rezession und der Nebenleistung gelegentlicher kostenloser Getränke an der Bar.

»Wir können ein paar zusätzliche Leistungen auf Wayne Wilsons Rechnung setzen.« Janey stand, der Stuhl ächzte mit metallener Brüchigkeit, die dem Ruf des Hotels gerecht wurde. »Eine Einrichtungsgebühr hier, einen Wartungszuschlag da. Wir geben ihm das Hotel für das ganze Wochenende, also sollte er sich über ein paar Überraschungen nicht wundern.«

Janey vollführte einen langsamen, würdevollen Gang durch den Raum, was schwierig war, weil der Boden mit Reisemagazinen, einem Elektroheizer, einer kaputten Lampe und einem Putzeimer mit Wischmopp einem Hindernisparcours glich. Sie öffnete feierlich die Tür, die sich mit einem Quietschen bedankte. Sie hatte dem Hausmeister die Anweisung gegeben, auf das Schmieren der Türangeln zu verzichten. Sie hatte auch zusätzliche Spiegel in den Korridoren aufhängen lassen und schwächere Glühbirnen einsetzen lassen. Alles, um Atmosphäre zu schaffen.

Ein Geniestreich, das Hotel als Ausflugsziel für Geisterjäger zu vermarkten. Lasst uns die Spinnweben hochjubeln. Das ist leichter als Staubwischen.

»Stellen Sie sicher, dass Mr. Wilson das bekommt, was er braucht«, sagte Janey. »Er redet davon, dass er das zu einer jährlichen Veranstaltung machen möchte.«

»Er ist ein wenig unheimlich«, sagte Violet.

»Spielen Sie mit. Tun Sie so, als ob Sie Angst hätten. Lassen Sie ihn glauben, was er glauben möchte.«

»Er hat mich gefragt, ob ich hier jemals ›Erfahrungen‹ gehabt hätte.«

»Eine kleine harmlose Lüge hat noch nie jemandem geschadet«, sagte Janey und genoss die Ironie. Sie hatte Violet wegen Unterschlagung hochgehen lassen, aber nun förderte sie Unehrlichkeit als ausgesprochen guten Geschäftssinn.

Als Violet in einem Hauch aus Lavendel und Apfel hinausging, lächelte Janey, wobei das Pergament ihrer Wangen faltig wurde. Das Vergnügen stand noch immer auf ihrem Gesicht geschrieben, als das Telefon läutete. Handys funktionierten hier auf der Kruste der östlichen kontinentalen Wasserscheide nur selten, ein weiterer Pluspunkt für den neuen Marketingansatz. Die nervenaufreibenden Telefone und rauschende Leitungen trugen zum geheimnisvollen Nimbus bei.

»Janey, hier ist Stevie.«

»Hi, gute Neuigkeiten. Wir sind für die Konferenz ausgebucht.«

»Gut«, sagte Stevie, wobei sein Tonfall nicht wirklich überzeugte.

»Ist was nicht in Ordnung?«

»Das ist nicht einfach für mich. Du weißt, wie sehr ich das Hotel mag.«

Janey fiel nicht darauf herein. Stattdessen verkrampfte sich ihr Magen in schlechtem Vorgefühl.

»Chad und ich haben ein Angebot bekommen.«

»Ein Angebot? Ich wusste nicht mal, dass ihr verkaufen wollt–«

»Zwei Millionen pro Morgen. Für Eigentumswohnungen. Sie werden ein wenig von den Abrisskosten verrechnen, aber sie wollen das Geschäft so schnell wie möglich machen, wegen der guten Zinssätze. Das konnten wir uns nicht entgehen lassen, schon allein wegen der Verluste, die das Hotel macht.«

»Wann?«, fragte Janey. Ihre Haut kribbelte in der Hoffnung, dass ihr noch ein gutes halbes Jahr bleiben würde, um die Kasse zu plündern. Es gab Schlimmeres als Vorruhestand.

»Sonntag.«

Sonntag. In zwei Tagen.

»Ich weiß nicht–«

»Wir kommen nächste Woche, um alles zu regeln. Keine Angst, Janey, du wirst eine prächtige Abfindung bekommen. Chad und ich sind keine Monster.«

»Was ist mit den Angestellten?«, fragte Janey, obwohl ihr das völlig egal war. Sie spielte auf Zeit, um ihrem in Panik geratenen Geist die Gelegenheit zu geben, sich zu beruhigen.

»Sag noch nichts, damit sie nicht einfach abhauen. Sorgt dafür, dass die Geisterjäger auf ihre Kosten kommen. Ein letzter Schwanengesang für das White Horse, oder?«

Darauf kannst du deinen süßen kleinen Arsch wetten, Stevie.

»Mach’s gut, Teure.« Stevie legte auf.

Das Hotel war ihr Leben, ihre Identität, ihr Spielplatz. Sie hatte sich ausgemalt, dass sie ihr Zimmer im ersten Stock behalten würde, bis man sie in einem Plastiksack hinausbeförderte. Janey hielt das totenstille Telefon in ihren Händen, unfähig, der Leere ins Auge zu blicken, die sich vor ihr auftat.

»Zwei Tage.«

Hatte sie das laut gesagt?

Sie hatte das intensive Gefühl, dass sie beobachtet wurde.

Janey drehte sich um. Nichts.

Verfolgungswahn.

Aber das hieß nicht, dass sie sie nicht beobachteten.

Sie fragte sich, ob sie gelauscht hatten.

Zwei Tage.

Dunkle Zeiten: Die ultimative Thriller-Collection
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