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Julia kam nach Einbruch der Dunkelheit nach Hause. Beim Heranfahren überfluteten die Schweinwerfer des Subarus das Haus. Die Nachbarswohnungen waren hell erleuchtet und die Laterne auf der Veranda von Mabel Covington brannte. Eine Flottille von Nachtfaltern auf der Suche nach Wärme umschwirrte sie. Obwohl sich der Wald dunkel und dicht hinter dem Haus erhob, war Julia entschlossen, keine Angst zu haben.
Aus einer der unteren Wohnungen ertönte Musik – Sympathy for the Devil von den Rolling Stones. Wenn jemand Sympathie oder Mitleid brauchte, dann war es Mick Jagger. Er hinkte auf die Bühne mit seinem Stock und Hörgerät, jedoch immer noch in Spandex gekleidet und mit einer Federboa auf dem Kopf. Offensichtlich hatte der Teufel seinen Teil des Vertrags nicht eingehalten.
Ein brauner Boxer bellte sie vom unebenen Vorplatz der Wohnung an. Der Hund war gutmütig, hatte jedoch die üble Angewohnheit, kleine, stinkende Geschenke vor Julias Tür zu hinterlassen. Sie war hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, ihn zu verscheuchen und dem Verlangen, ihn mit kleinen Snacks zu füttern. Am Ende hatten sie einen brüchigen Waffenstillstand geschlossen. Julia tätschelte dem Hund den Kopf, anstatt ihm Speckstücke zu geben, und Fido verrichtete sein Geschäft am Rande der Einfahrt.
Rick hatte versucht, sich zu einem Schlaftrunk bei ihr zu Hause einzuladen. Julia hatte abgewehrt, indem sie beifällig ihren Verlobten erwähnte und auf all die Arbeit hinwies, die sie zu erledigen hätte. Nun jedoch, als sie das dunkle, stille Haus betrat, wünschte sie sich beinahe, sie hätte seinen Vorschlag angenommen, unter der Voraussetzung, dass er seine Hände in seinen Taschen behielt. Vielleicht würde eine platonische Freundschaft ihr Gefühl der Isolation etwas lindern.
Sie wollte jedoch die Furcht allein bekämpfen. Auch wenn ihr Dr. Forrest half, konnte letztendlich nur ein Mensch ihr geistiges Haus säubern. Nur eine Person konnte diese Räume betreten, die Spinnennetze wegwischen, die Rollladen hochziehen und das Licht hereinlassen. Nur eine Person besaß den Schlüssel.
Sie schaltete das Licht im Wohnzimmer ein, schloss die Tür und unterbrach die Rolling Stones mitten in ihrem endlosen „Wu-hu“. Es warteten keine Holzklötze mit kryptischen Nachrichten auf sie. Sie legte ihre Tasche auf den Couchtisch und schaute sich kurz im Zimmer um, um sicherzustellen, dass sich alles an seinem Platz befand. So weit, so gut. Kein Problem. Kein Widerling.
Nun kam jedoch der entscheidende Test. Wagte sie es, den Flur entlang bis in ihr Schlafzimmer zu gehen? Konnte sie die Uhr anschauen?
Klar kannst du das.
Obwohl du nun weißt, dass es mindestens EIN Monster in Elkwood gibt. Ein Monster, das die Hände und Füße seines Opfers fesselte, ehe er es aufschlitzte. Ein Ungeheuer, das genau wusste, wie man ein Messer handhabte. Ein Ungeheuer, das langsam vorging und dafür sorgte, dass das Opfer die größtmögliche Menge Blut verlor und die höchsten Qualen erlitt. Ein Ungeheuer, das stolz auf seine Arbeit war.
Rick hatte es genossen, ihr während des Abendessens die grausigen Einzelheiten mitzuteilen. Er wusste, dass sie sich beim Commercial Appeal mit Verbrechen beschäftigt hatte, und wollte sie beeindrucken. Sie musste zugeben, dass er Originalität besaß. Er war der erste Mann, der versuchte, sich mithilfe von satanischen Mordtheorien Zugang zu ihrem Bett zu verschaffen.
Ihr Bett war jedoch unter Umständen bereits besetzt. Genau dieser mordlustige Widerling lag womöglich gerade in diesem Moment unter ihrer Wolldecke und seine scharfen Spielzeuge waren sorgfältig auf dem Kissen ausgebreitet wie die Blumen eines Liebhabers. Vielleicht hatte er schwarze Kerzen in einem Kreis aufgestellt, zum Anzünden bereit. Möglicherweise war ein rotes Pentagramm auf den Boden gemalt und ein Dämon mit übelriechendem Atem wartete darauf, gerufen zu werden.
Zum Teufel damit, dachte sie und lachte. Ihr Lachen klang jedoch eher wie das Husten eines Pferdes. Sie konnte sich vorstellen, dass Gott existierte, etwas Höheres, das hinter allem stand. Im Haus ihres Kopfes räumte sie Gott ein kleines Fach im Schrank ein. Der Gedanke jedoch, dass das Böse außerhalb des menschlichen Geistes existierte, nun, zu einem solchen Glaubensbekenntnis war sie noch nicht bereit. Sie war nur verrückt, nicht total durchgedreht.
Aber denk an das, was Dr. Forrest sagte. Du bist nicht verrückt. Du leidest nur an einer „Verhaltensstörung“, an etwas mit einem sicheren, praktischen Etikett wie „wahnhaft“ oder „emotional instabile Persönlichkeitsstörung“ oder „unspezifische Angst“ oder wie auch immer Dr. Forrest es bezeichnete.
Und letztendlich hatte sie die Kontrolle über ihr eigenes Verhalten. Sie konnte in ihr Schlafzimmer gehen, das Licht einschalten, die Uhr anschauen, es hinter sich bringen und ihr Leben weiterführen. Das Heraufbeschwören satanischer Sekten wirkte sich nicht eben positiv auf ihren Seelenfrieden aus.
Sie ließ das Pfefferspray in ihrer Tasche zurück. Sie würde es allein fertig bringen, wie Dr. Forrest ihr geraten hatte. Sie ging den Flur entlang; bei jedem Schritt durchbrach ein leichtes Knarren des Bodens die Stille des Hauses. Die Schlafzimmertür war offen. Sie streckte ihre Hand aus und knipste den Lichtschalter an.
Das Zimmer war leer, das Bett ordentlich gemacht. Die Digitaluhr zeigte 22:13 Uhr an. Sie verglich die Zeit mit ihrer Armbanduhr. Auf die Sekunde genau. Sie wollte soeben das Zimmer verlassen, als ein Luftzug die Vorhänge bewegte. Gedämpfte Musik drang von der anderen Straßenseite ins Zimmer ein.
Das Fenster war offen. Warum hatte Walter das Fenster nach dem Überprüfen der Schlösser nicht geschlossen? Diese Bergbewohner erwarteten, dass alle Menschen ständig frische Luft einatmen mussten, selbst bei niedrigen Temperaturen.
Julia runzelte die Stirne und zog die Vorhänge auf. Es gab keinen Hinterhof. Der Wald reichte bis an das Haus. Die herbstlichen Baumkronen waren so dicht, dass das Licht der Straßenlampen die Bäume nicht durchdrang. Der Tau brachte den Geruch von Tonerde und feuchtem Holz. Sie schloss und verriegelte das Fenster. Dann sah sie den schmutzigen Fußabdruck auf dem Boden.
Es war der Abdruck eines Absatzes. Ein kleines, zertretenes Eichenblatt steckte darin. Der Abdruck musste von Walter stammen.
Weshalb hatte er dann nicht im ganzen Haus Spuren hinterlassen? Und er hatte sich die Schuhe gut abgewischt, als er das Haus betrat. Sie erinnerte sich daran.
Julia kniete nieder und berührte den Abdruck. Der Dreck war feucht.
Kalte Angst kroch ihr den Rücken hoch.
Jemand war im Haus gewesen.
Das hier war eine Tatsache, keine Täuschung.
Und das Ungeheuer könnte noch hier sein.
Sie griff nach dem Telefon auf dem Nachttisch, drückte auf die Neun, dann auf die Eins und war gerade dabei, die zweite Eins zu drücken, als sie auf ihre Schuhe herunterblickte. Am Absatz klebte Lehm.
Nein, kein Lehm.
Fido hatte das Friedensabkommen verletzt. Julias übelriechende Spur reichte bis ins Wohnzimmer.
„Oh, Scheiße“, stöhnte sie und legte den Telefonhörer auf die Gabel zurück. Sie hätte sich beinahe zum Affen gemacht. Die Polizei wäre auf ihre Einbruchsmeldung hin eingetroffen. Sie konnte es sich lebhaft vorstellen.
Erster Polizist: „Würden Sie diese Spur genau untersuchen, Lieutenant?“
Zweiter Polizist: „Natürlich. Habe sie bereits ausgemessen.“
Erster Polizist: „Warten Sie mal. Das ist kein Lehm.“
Zweiter Polizist: „Pfui. Riecht wie Hundekacke. Was ist das an Ihrem Schuh, Fräulein?“
Julia wischte den Schmutz weg und legte eine CD von Natalie Merchant auf. Wenn Natalie Merchant über Mutterschaft und Dankbarkeit sang, konnte nichts Böses geschehen. Julia las ihre E-Mails. Es waren einige Spam-Witze ihrer Mitarbeiter dabei und einige Mitteilungen der Newsgruppe zum Baseballteam der St. Louis Cardinals. Es stand mal wieder schlecht um die Cardinals.
Sie löschte die Nachrichten, da eines der Mitglieder der Newsgruppe die Ereignisse des Spiels vom frühen Abend verbreitete. Julia hatte das Spiel auf Video aufgenommen und wollte es anschauen, ohne das Resultat im Voraus zu kennen. Sie setzte sich aufs Sofa und spulte per Fernbedienung das Videoband zurück. Sie drückte den Knopf zur Nachrichtenwiedergabe auf dem Anrufbeantworter und starrte auf den leeren Fernsehbildschirm.
Die einzige Nachricht stammte von George Webster, der ihr mitteilte, dass Walter Triplett ihre Schlösser überprüfen werde. Sie setzte den Anrufbeantworter zurück und wunderte sich, ob Rick wohl anrufen würde.
Das war kein Rendezvous, sagte sie sich. Das war definitiv nur ein Zusammensitzen unter Freunden. Ich hoffe, dass er sich darüber im Klaren ist.
Sie wollte nicht ihre gesamte Bürozeit damit verbringen, Annäherungsversuche abzuwehren. Andererseits war es immer schmeichelhaft, beachtet zu werden. Rick war anders als Mitchell. Er war nicht so aggressiv, er respektierte ihre Meinungen, er hatte auch andere Interessen als Geldverdienen –
Nun mal langsam, Mädchen. Wenn du anfängst, den Mann, den du heiraten willst, mit anderen zu vergleichen, dann versaust du dir eine glückliche Zukunft. Das ist fast genauso schlimm, wie Therapeuten miteinander zu vergleichen.
Und ihre Zukunft würde glücklich sein. Sie würde in das dreistöckige Haus in Colliersville einziehen, das Mitchell gehörte, sie würde einem Tennisclub beitreten, vielleicht ehrenamtlich in einer Bibliothek arbeiten. Gesellige Abende mit Mitchells Anwaltsfreunden, bei denen die Männer über das Geschäft redeten, die wenigen Anwältinnen versuchten, hie und da zum Wort zu kommen, und die Ehefrauen Ferienangebote miteinander verglichen. Sie würde Perlen und hohe Absätze tragen und die Modezeitschriften durchblättern, um festzustellen, welche Parfumhersteller die ausgefallensten Werbekampagnen durchführten. Mit der Zeit würde sie nachgeben und Makeup tragen, um die Spuren des Alters und der Schwerkraft zu verschleiern.
Mitchell würde ihr erlauben, ihre Therapie weiterzuführen, vorausgesetzt, sie nähme sie nicht zu ernst. Sein Freundeskreis würde es lediglich als zusätzliche Nebenleistung des Wohlstands betrachten, als Zeitvertreib, ähnlich wie das Besuchen von Kunsthandwerkskursen. Mitchell würde mit Vierzig eine Affäre haben, vielleicht sogar mehrere, wenn sich die ersten grauen Strähnen bemerkbar machten und er das Gefühl hätte, in seiner Jugend etwas verpasst zu haben. Julia würde seine Flirts akzeptieren, sich einer Gesichtsstraffung und Botoxspritzen unterziehen, vielleicht auch einer Schönheitsoperation, um ihre Brüste zu heben, damit Mitchell sie weiterhin stolz vorzeigen konnte.
Sie würden zwei der Ferienhäuser von Mitchells Eltern erben. Die restlichen gingen an Mitchells Schwester. Er würde Santa Monica wählen und Julia zuliebe Marthas Vineyard übernehmen. Julia würde im Herbst am Strand sitzen, Margaritas und Rumpunsch schlürfen. Sie trank derzeit nicht viel Alkohol, würde es sich jedoch zur Gewohnheit machen, da alle in Mitchells Bekanntenkreis tranken. Vielleicht würde sie sogar zur Alkoholikerin werden, ein beliebter Zeitvertreib für Ehefrauen von ehrgeizigen Männern. Die neue Krankheit würde womöglich die alte übertrumpfen.
Und wäre das so schlimm? Die Angst würde sich langsam in einem grauen Nebel auflösen, die Erinnerungen würden verblassen und sich immer weiter entfernen. Die Vergangenheit würde weggewaschen anstatt untersucht, aufgewühlt, gesammelt und analysiert zu werden. Die Vergangenheit wäre einfach Vergangenheit. Sie hätte nichts zu tun mit der unsicheren, verschwommenen Gegenwart, die bei der kalten Schärfe des Schnapses endete, und die angenehme Amnesie wäre nur ein Schluck weit entfernt.
Ein metallisches Klicken und Surren brachte Julia zum leeren Fernsehbildschirm zurück; das Band war fertig zurückgespult. Tränen brannten in ihren Augen. Sie wischte sie weg und drückte den Knopf auf der Fernbedienung. Der Bildschirm flackerte auf und das Band startete. Julia hielt den Finger auf der Schnellvorlauftaste und war soeben dabei, die Ansage vor dem Spiel zu überspringen.
Das Spiel war nicht auf dem Band. Stattdessen war der Bildschirm mit dem glattrasierten Gesicht eines Mannes mit leuchtenden, fiebernden Augen gefüllt. Der Mann zeigte auf die Kamera, als ob er mit dem Kameramann wie auch mit dem Publikum schimpfte. Durch das schnelle Vorspulen wirkte der Mann komisch. Er machte wilde Handbewegungen wie Charlie Chaplin in alten Stummfilmen.
Julia war überzeugt, dass sie die Aufnahme auf ESPN2 programmiert hatte. Sie überprüfte das Fernsehprogramm, das geöffnet auf dem Kaffeetisch lag. Dort stand es: Cardinals gegen Astros, 16:00 Uhr, TV-Kanal 27. Das Programmieren von VCRs war bekanntermaßen kompliziert. Julia hatte jedoch die ganze Saison über problemlos viele Spiele aufgenommen.
Es sei denn, ihr Gedächtnis hätte ihr beim Programmieren einen Streich gespielt, einen weiteren Trick, um ihr Angst einzujagen. Und logen sich Menschen mit Wahnvorstellungen nicht selbst an?
Nein. Ich habe die Holzklötze am Morgen nicht auf dem Tisch verteilt und ich habe dieses . . . dieses WAS IMMER ES AUCH IST nicht aufgenommen.
Sie stoppte das Band und spielte es mit normaler Geschwindigkeit ab. Das Gesicht des Mannes reichte bis an den Rand des Bildschirms; die Großaufnahme war so intensiv, dass sie die Speicheltropfen sehen konnte, die beim Sprechen aus seinem Mund sprühten. Die manische Stimme des Mannes donnerte los, als sie den Fernseher mit der Fernbedienung lauter stellte.
„Und Satan kam in die Welt, die Welt, die Satan gehört, die Welt, die er Gott gestohlen hat“, sagte der Mann. „Und Satan verbreitete seinen Reichtum, verbreitete seine Lust, verkleidet als Liebe, seine Habsucht, verkleidet als Notwendigkeit; er verbreitete seinen Krieg, getarnt als Rechtschaffenheit. Satan streckte seine Finger nach der Welt aus und berührte jeden Mann, jede Frau und jedes Kind.“
Der Mann zeigte auf die Kamera, auf Julia, und seine Stimme wurde sanfter. „Er berührte dich.“
Ah, ja? Der Teufel hat mich im KOPF berührt. Besten Dank. Nun habe ich eine Entschuldigung. Ich hätte beinahe die Verantwortung für mein kleines Problem übernommen und nun kommst du daher und zeigst mir die größte Ausrede aller Zeiten. Ich bin nur ein Opfer. Natürlich. Wieso habe ich das nicht schon früher erkannt?
Der Prediger machte eine dramatische Pause. „Diese Welt gehört dem Teufel. Es steht gerade hier im Lukasevangelium. Gott hat es eigenhändig geschrieben. ‚Dir will ich alle diese ihre Macht und Herrlichkeit geben‘, sagte der Teufel zu Jesus, als sie auf dem Berg standen und die Wunder der Welt betrachteten. ‚Denn mir ist sie übergeben, und ich gebe sie, wem ich will.‘ Der Herr konnte der Versuchung widerstehen, aber Ihr würdet sofort zugreifen, nicht wahr? Ihr würdet alles an euch reißen und immer noch mehr wollen.“
„Und ich mache euch nicht einmal einen Vorwurf“, fuhr der wild dreinblickende Mann fort und wischte sich den Schweiß weg, der sich infolge der Scheinwerfer und der Anstrengung auf seinem Gesicht angesammelt hatte. „Ich mache euch keinen Vorwurf, dass ihr in den Apfel beißt, in diesen roten, glänzenden, süßen Apfel. Auch ich habe davon gekostet, wir alle haben es getan. Wie können wir widerstehen?“
Julia schaltete beinahe den Fernseher aus, doch etwas an der Masche dieses Fernsehevangelisten faszinierte sie. Sein Haar war glatt und perfekt frisiert und mit Frisiergel zu einem Wirbel aufgebauscht, der einem Orkan standgehalten hätte. Seine Zähne funkelten stärker als himmlische Perlen, seine Kiefermuskeln verzogen sich vor Verzückung. Julia zweifelte nicht an seiner Aufrichtigkeit.
„Wie können wir widerstehen?“, wiederholte er. Die Kamera wich zurück, damit die weit geöffneten Arme des Mannes sichtbar wurden, mit denen er entweder Jesus oder die nächsten UFOs zu begrüßen schien. „Wir sind leere Gefäße und wenn wir nicht Gott in uns aufnehmen, dann strömt der Teufel in uns hinein“ – der Mann wölbte seine Arme, als wollte er in einen See tauchen – „und ertränkt uns mit Sünde, ertränkt uns mit Leid. Er stiehlt unseren Atem mit falschen Versprechungen. Er bringt uns zu Fall und wir werden uns nicht einmal dagegen wehren. Wir umarmen ihn und danken ihm.“
Der Mann schritt vor den vornehmen, violetten Vorhängen und den Blumenarrangements, die als Bühnenbild dienten, ruhelos hin und her. Auf einem Transparent leuchteten die großen, goldenen Ziffern einer Spendentelefonnummer.
„Aber der Herr wird kämpfen“, sagte der Mann mit erhobener Stimme und schüttelte die Faust. „Der Herr wird Satans Augen ausbrennen, der Herr wird unsere Liebe als Waffe benutzen, ein mächtiges Schwert, mit dem er ins Feuer schlägt“ – er machte eine Schneidebewegung mit der freien Hand – „und Satans gierige Finger durchschneidet und seine böse Zunge zum Verstummen bringt, die uns solch süße Lügen zuflüstert. Lügen über alle Vergnügungen, die wir haben könnten, wenn wir uns von Gott abwenden würden.“
Pause. Close-Up. Der Mann senkte den Kopf in Trauer und Ehrfurcht. Ein perfekt geplanter Augenblick.
Er zeigte wieder auf die Kamera. „Satan will euch haben“, sagte er und sah dabei beinahe wie eine Karikatur des patriotischen „Uncle Sam wants you“-Posters aus. „Er besitzt euch.“
Julia zeigte mit dem Finger auf ihn. Ihre Faszination verwandelte sich in Langweile. „Nein er leiht mich nur aus.“
Sie würde lieber den Cardinals beim Verlieren zuschauen. Der Videorekorder hatte irgendwie die Aufnahme übersprungen, sich ausgeschaltet und das Programm verloren. Zuerst die Uhr und nun auch noch das. Sie musste George Webster anrufen, damit er Walter beauftragte, die elektrischen Leitungen zu kontrollieren.
Natürlich, mach ein mechanisches Versagen statt einen Fehler des Betreibers dafür verantwortlich. Oder den Wahnsinn des Betreibers. Gott sendet Nachrichten, in lächerlicher Verpackung eingewickelt.
Julia schaltete den Fernseher aus. Der Ton verklang und das Gesicht des Fernsehpredigers verschwand sofort im Dunkeln. Nachdem sie das Schloss der Haustür überprüft hatte, ging sie ins Badezimmer, um zu duschen. Es gelang ihr, sich die Haare zu waschen, ohne ein einziges Mal aus der Duschkabine hinauszuschauen. Keine Schurken, keine Anthony Perkins-Möchtegerns, keine Gucklöcher in der Wand, nichts außer feuchter Beschlag an den Kacheln.
Bevor sie das Badezimmer verließ, betrachtete sie ihre Figur im Ganzkörperspiegel an der Tür. Im beschlagenen Glas verblassten die langen Narben beinahe, die sich vom Bauch bis unter die Wölbung der Brüste erstreckten. Außer den Narben sah sie mit ihren siebundzwanzig Jahren nicht schlecht aus. Mitchell jedenfalls war zufrieden.
Sie ging zu Bett und las in einem Buch von Jefferson Spence. Sie ließ sich wegtragen in ein Land, in dem die Protagonisten sich immer auf ihre inneren Kräfte verließen, um böse Hindernisse zu überwinden. Der Wecker funktionierte noch immer und sie stellte ihn für den nächsten Morgen ein. Als sie das Licht ausschaltete, ging sie im Gedächtnis eine Prüfliste durch.
Türen abgeschlossen. Fenster verriegelt. Vorhänge zugezogen. Pfefferspray im Wohnzimmer. Baseballschläger unter dem Bett, der Louisville-Schläger, den ihre Adoptiveltern ihr zum sechzehnten Geburtstag geschenkt hatten.
Alles dicht.
Nichts als Dunkelheit und Ruhe, die sich über das Haus senkte. Die Blätter an den Bäumen flatterten leicht und streiften gelegentlich das Fliegengitter vor dem Fenster. Die Nachbarn hatten die Musik leiser gestellt. Sie waren ziemlich rücksichtsvoll mit Ausnahme der Partys an den Wochenenden.
Julia lag im Dunkeln und dachte an ihre Paranoia-Episode am Morgen, an die hölzernen Klötze, die Sitzung bei Dr. Forrest, die satanischen Morde, an Rick, an Dr. Forrest. An etwas während der Hypnose. Eine Erinnerung, die aus dem Schlummer kroch, Finger, die aus der feuchten Dunkelheit des Kellers griffen und sich einen Weg an die Oberfläche kratzten.
Die bösen Menschen um sie herum, die sie berührten und sie verletzten.
Nein.
Diese Erinnerung gehörte in das Sprechzimmer von Dr. Forrest, wo sie von den Wänden in Schach gehalten wurden. Nicht hierher, in Julias Haus, wo sie sich aus den Ohren schleichen und unter das Bett schlüpfen konnte, um dort auf sie zu warten. Die Erinnerung wartete, bis sie einschlief, eingewickelt in die Laken des Alptraums. Dann würde sie Julia am Fußgelenk packen und ihren schmierigen Rachen öffnen und –
Sie richtete sich auf und knipste die Nachttischlampe an.
Die Digitaluhr bewegte sich, zählte die Zeit aus der Vergangenheit oder in die Zukunft, von welcher Seite man es auch betrachtete. Julia schaute der Uhr eine Weile zu und griff dann nach dem Buch. Sie las bis nach Mitternacht. Mittlerweile ärgerte sie sich über die allzu perfekte Heldin in Spences Roman und über seine libertäre Weltansicht, ganz abgesehen vom Hund, der von Zeit zu Zeit schnaufend auf den Seiten auftauchte, sowie dem gelegentlich aufgeblasenen, pompösen Prosastil. Das Buch hatte ihr jedoch dabei geholfen, ihre Probleme zu vergessen. Darauf konnte sie sich bei Spence verlassen.
Sie legte sich auf das Kissen zurück.
Es fühlte sich nicht schlecht an. Sie war beinahe bereit, im Dunkeln zu schlafen, entschied sich jedoch, das Licht eingeschaltet zu lassen. Einmal mehr würde nicht schaden.
Sie dachte an das Videoband und versuchte sich an die Programmierung des Videorecorders zu erinnern. Sie konnte sich erinnern. In Gedanken sah sie, wie sie die Tasten gedrückt hatte, Kanal 27. Und trotzdem war der pomadenbeschmierte Prediger aus der Hölle aufgetaucht.
Na, ja, wir machen alle mal einen Fehler.
Ihre Gedanken verloren sich im Unsinn. Ricks Gesicht, der See beim Club, wo sie Mitchell getroffen hatte, ihre toten Adoptiveltern, ein Lehrer aus der sechsten Klasse, der grüne Hosenträger getragen hatte, Mickey Mouse – Bilder flitzten schneller und schneller auf dem Vorschaubildschirm der Träume vorbei.
Sie war beinahe eingeschlafen, als sie vor dem Fenster ein Geräusch hörte, das Knacken eines feuchten Zweigs, der zerbrach.
Sie hielt den Atem an, drückte das Gesicht gegen das Kissen und lauschte.
Ein Krabbelgeräusch an der Außenwand. War der Baseballschläger in der Nähe?
Es ist nichts, Julia. Höchstwahrscheinlich der Hund des Nachbarn, der dir ein übelriechendes Geschenk für morgen hinterlässt. Oder ein Waschbär. Du wohnst direkt neben dem WALD. Hier gibt es Tiere, nicht vergessen.
Ein Schwappen am Gitter vor dem Fenster. Ein Hund konnte nicht so weit reichen.
Es ist ein Widerling.
Sollte sie so tun, als ob sie nichts bemerkt hätte, das Licht ausschalten und vorgeben, sie lege sich schlafen? Im Dunkeln konnte sie unbemerkt nach dem Baseballschläger greifen. Sie konnte sich erheben und neben dem Fenster warten, bis der Widerling hereinkam und dann –
Was dann? Den Schläger schwingen, wie es ein mit Steroiden vollgepumpter Mark McGwire in seinen besten Jahren getan hatte?
Nein. Sie konnte die Polizei anrufen.
Die Polizei.
Erster Polizist: „Siehst du was?“
Zweiter Polizist (lässt den Strahl seiner Taschenlampe über den Boden unterhalb des Fensters gleiten): „Hmm. Sieht ganz nach Tierspuren aus.“
Erster Polizist: „Welche Art Tierspuren?“
Zweiter Polizist: „Verdammt. Ich bin soeben in Hundekacke getreten.“
Manchmal ist eine Zigarre eben einfach nur eine Zigarre.
Manchmal sind Geräusche einfach nur Geräusche.
Sie löschte das Licht, ohne zum Fenster zu schauen.
Erneutes Schwappen am Fliegengitter.
Sie musste einfach hinsehen.
Augen.
Nur schwach erleuchtet von der entfernten Straßenlampe zwischen den Vorhängen.
Aber Augen.
Und dahinter ein Gesicht?
Sie ließ die Hand langsam vom Bett sinken; sie bereitete sich darauf vor zu schreien, nach dem Baseballschläger, dem Telefonhörer oder sonst was zu greifen.
Die Augen waren weg.
Sie lag schweißgebadet da und versuchte sich zu überzeugen, dass sie sich die Augen nur eingebildet hatte, dass sie sicher war. Dr. Forrest hatte sie davor gewarnt, ihre Fantasiewelt in die Realität eindringen zu lassen. Dr. Forrest hätte es gar nicht gerne, wenn sie ihr von nicht existierenden Augen am Schlafzimmerfenster erzählen würde.
Die hölzernen Bauklötze waren echt gewesen. Wenn sie jedoch die Augen schloss, konnte sie sich vorstellen, sie hätte sie im Spielwarengeschäft ausgesucht, bei der Kassiererin bezahlt, nach Hause gebracht und die Buchstaben auf dem Tisch ausgebreitet. Und es dann vergessen hätte, damit sie sich später selbst Angst einjagen konnte.
Das klang nach Wahnsinn, nach multipler Persönlichkeit, nach durchgedreht. Aber sie würde niemals verrückt werden. Dr. Forrest würde es nicht zulassen. Es war besser vorzugeben, dass die Klötze nie existiert hatten. Kein Ungeheuer hielt sie zum Narren, außer dem in ihrem Kopf.
Julia würde diesen Teil nicht im Tagebuch vermerken, mit dem sie morgen anfangen wollte. Und wenn sie keine imaginären Augen am Fenster sehen wollte, wäre es das Beste, die Augen zu schließen und die Fantasiefilme hinter ihren Augenliedern anzusehen.
Einen Augenblick lang wünschte sie sich, Mitchell im Bett neben sich zu haben. Lieber den Teufel, den du kennst.
Zu Beginn der zweiten imaginären Filmrolle fiel sie in einen ruhelosen Schlaf.