Kapitel 26

 

»Der Springer ist beeindruckend«, sagte Duncan.

Ann verstand ihn zuerst nicht. Sie war nach dem hastigen Liebesakt eingeschlummert, damit sie ihre Batterien aufladen konnte und für die nach-mitternächtlichen Touren hellwach sein würde. Sie öffnete ihre Augen in der Annahme, dass sie sich in Duncans Apartment befanden, ein beengtes Apartment in einem Haus ohne Fahrstuhl, zwei Blocks vom Campus entfernt. Der Geruch von Kaffee ließ sie Sonntagmorgen vermuten und sie lächelte beim Gedanken an die faulen Stunden, die vor ihr lagen, ohne Unterricht, ohne Verpflichtungen und ohne irgendwo anders sein zu müssen. Duncan hämmerte auf der Tastatur seines Computers, wie üblich als erster aus dem Bett und bereits damit beschäftigt, seine Lieblingsinternetseiten aufzurufen.

So sollte eine Frau aufwachen. Das Einzige, was fehlt, ist Frühstück im Bett.

Sie hatte vom Reiten geträumt, eine Aktivität, die sie in ihrer Jugend ausgeübt hatte, bis die hohen Unterhaltskosten ihre Familie dazu gezwungen hatten, ihr Pony zu verkaufen. Die metaphorische Verbindung war so offensichtlich, dass sie schlagartig hellwach wurde und sich daran erinnerte, dass sie sich im White Horse Inn befand.

Duncan, der nicht gemerkt hatte, dass sie eingeschlafen war, sagte: »Diese Aufnahmen sind so gut, dass ich ihnen fast auf den Leim gegangen wäre. Wer hat sie für dich gemacht?«

»Welche Aufnahmen?«

»Der Springer. Der Kerl, der sich am Laternenpfahl aufspießt. Ich dachte, du hattest keine Zeit gehabt, das vorzubereiten.«

Sie strampelte die Bettdecke von sich und griff nach ihrer Bluse. »Alles, was ich aufgenommen habe, ist die Verschmähte Braut.«

»Komm schon, Ann. Ich bin keiner von den Idioten, die alles glauben, was du sagst.«

Sie schnappte sich seine Kaffeetasse und nahm einen Schluck des kalten, bitteren Gebräus. »Wir haben bereits all unser Filmmaterial aufgebraucht. Ich habe dir gesagt, dass wir auf Wiederholungen setzen müssen.«

»Na, dann weiß ich nicht, wie das hier auf die Festplatte gekommen ist.«

Duncan gab den Blick auf den Bildschirm frei, auf dem unscharfe, pixelige Bewegungen zu sehen waren. Sie kniff die Augen zusammen und erkannte das Zimmer. Es war 312, wo die Vorhänge eine kunstvolle Bordierung hatten, die in Kontrast zu den Möbeln stand. Das Zimmer schien mit Resten eingerichtet worden zu sein und wies nachgemachte Stühle im Queen-Anne-Stil, handgearbeitete Tische, eine bauchige Art-déco-Vase mit Blumen und ein impressionistisches Gemälde, das einen von Wald umgebenen See andeutete, auf. Obwohl die Ansicht schwarzweiß war, konnte ihr Gedächtnis die herbstliche Farbzusammenstellung des Raums ergänzen.

»Wir haben keinen Projektor in 312«, sagte Ann. »Erinnere dich, wir hatten keine Zeit mehr.«

Duncan prüfte seine Notizen mit gerunzelter Stirn. Sein Gesicht sah im Lampenlicht starr und abgezehrt aus. »Bist du sicher, dass das 312 ist?«

»Dieses hässliche Gemälde. Ich habe eine Bemerkung über einen Flohmarktfund gemacht.«

»Ja«, sagte Duncan und drückte mehrere Tasten. »Lass mich den Clip nochmal starten.«

In der unteren Hälfte des Bildschirms erschien ein Fenster mit einem Videobearbeitungsprogramm. Mit seiner Maus führte er die Anzeige bis zum Anfang zurück, dann drückte er auf »Play«. Der Clip begann. In den ersten zehn Sekunden war nur der leere Raum zu sehen, aber dann betrat ein Mann den von der Kamera eingefangenen Bereich. Er riss die Vorhänge so weit auf, dass sie in der hastigen Bewegung fast von der Vorhangstange gerissen wurden. Er trug eine Fliege und hatte pomadiges Haar und Tränensäcke unter den müden Augen. Er öffnete die Verriegelung des Fensters und schob die untere Scheibe nach oben, während er von Schluchzern oder Wut geschüttelt wurde.

»Sieh dir die Kleidung an«, sagte Duncan. »Izod-Hemd und LL Bean-Karohose. Absolut achtziger Jahre.«

Ann nickte. Das war die Art von Details, auf die sie zurückgegriffen hätte, wenn sie die Zeit gehabt hätte, noch ein Filmchen mit falschen Aufnahmen zu produzieren. Der Selbstmörder war 1981 gestorben, am Anfang der Reagan-Ära.

Der Springer trat mit einem Fuß das Fliegengitter los und kletterte auf das Fensterbrett. Er blickte ein letztes Mal elend und hoffnungslos zur Kamera zurück, dann warf er sich in die Nacht außerhalb des Fensters. Die Vorhänge bewegten sich hin und her, dann nahmen sie wieder ihre gewohnte Stellung ein und es rührte sich nichts mehr im Zimmer.

»Das hab ich noch nie im Leben gesehen«, sagte Ann.

»Es ist auf der Festplatte, die Datei heißt ›Springer‹.«

Ann blickte auf die anderen kleinen Videobilder in der Ecke des Monitors. »Mach den Kontrollraum größer«, sagte sie.

Duncan vergrößerte eines der Rechtecke, wodurch der Kontrollraum sichtbar wurde, in dem mehrere SSI-Mitglieder um einen Computer versammelt waren. Der gutaussehende, langhaarige Skater-Punk bediente die Tastatur und lenkte die Aufmerksamkeit seiner Kollegen auf den Bildschirm. Ein Gestell mit verschiedenen Messgeräten, Equalizern und Videoausrüstung thronte auf dem Tisch neben ihm. Wie auch immer es um die Fähigkeiten des Jünglings bestellt war, er hatte genug technisches Spielzeug, um eine Show abzuziehen.

»Der kleine Wichser muss uns gehackt haben«, sagte Ann.

»Unmöglich«, sagte Duncan. »Wir haben eine doppelte Firewall. Außerdem hat er einen Mac.«

»Und wie kannst du es sonst erklären?« Tatsächlich gab es noch eine andere Erklärung: Aus irgendeinem Grund inszenierte Duncan ein Ablenkungsmanöver. Er musste das Filmchen hochgeladen haben, als sie nicht da war, und spielte nun das »Was zum Teufel?«-Spielchen.

»Gucken wir es nochmal an«, sagte er und startete die Videodatei erneut. Die Szene lief genauso ab wie zuvor, nur dass der Springer nun ein leichtes Lächeln auf dem Gesicht hatte. Der Unterschied war raffiniert genug, um Ann davon zu überzeugen, dass er Teil des Schwindels war, den Duncan veranstaltete.

Nachdem der Mann durch das Fenster verschwunden war, sagte Ann: »Nochmal.«

Sie verstand nicht, warum Duncan sich solche Umstände machte, nur um sich zu rächen. Sie hatte ihn wiederholt gewarnt, dass ihre Beziehung das Ende des Semesters nicht erleben würde und dass sie ihre Liebschaften niemals zu lange andauern ließ.

Vögle niemals einen Skorpion. Sie haben immer ihren Giftstachel bereit, wenn man auf sie tritt.

Während Duncan mit der Maus hantierte und die Datei an den Anfang zurückbrachte, entschloss sich Ann, mitzuspielen anstatt ihn zur Rede zu stellen. Der Springer wiederholte seinen missmutigen Gang durch das Zimmer, pausierte am Fenster und hob dieses Mal seine Hand leicht wie zu einem Gruß.

»Hast du das gesehen?«, fragte Duncan.

»Seine Hand.«

»Ich schwöre dir, dass es die gleiche Datei ist. Hier läuft etwas sehr Seltsames ab.«

»Vielleicht ist das nur ein weiterer verwunschener Computer.«

»Der Kerl hat uns gehackt.«

Der Springer ging zum Fenster und absolvierte erneut seinen Selbstmordsprung. Duncan ließ den Clip weiterlaufen, bis die Vorhänge wieder zur Ruhe gekommen waren.

»Denkst du, die vom SSI würden Spielchen mit uns spielen, wenn sie uns auf die Schliche gekommen wären?«, sagte Ann. »Würden sie uns nicht eher damit konfrontieren, anstatt so viele Ressourcen zu vergeuden?«

»Vergiss nicht, wie viel Zeit und Energie wir mit dem Aufdecken von Blödsinn verschwendet haben«, sagte Duncan. »Wenn man eine Mission zu erfüllen hat, bleibt der gesunde Menschenverstand auf der Strecke.«

»So oder so«, sagte Ann, als der Clip noch einmal ablief. Diesmal hielt der Mann am Fenster inne und kletterte nicht auf das Fensterbrett. Etwas an dem Bild war anders.

Die Vorhänge.

Die Vorhänge waren nun aus dünner, weißer Baumwolle, dünn genug, um lichtdurchlässig zu sein. Wie die Vorhänge in ihrem Zimmer.

Ann und Duncan drehten sich gleichzeitig zum Fenster um. Der Springer winkte kurz mit einem verzweifelten Lächeln, dann sprang er aus dem Fenster. Aus dem geschlossenen Fenster.

»War das eine Videodatei oder Echtzeit?«, fragte Ann.

»Keine Ahnung.«

»Sieh nach, ob ich in dem Clip auftauche.« Ann ging zum Fenster. Dabei hielt sie ihre Hand vor sich gestreckt, so als ob sie den Springer wie Spinnengewebe zur Seite wischen wollte.

»Nichts«, sagte er. »Alles, was man sieht, ist das Fenster.«

»Ist es ein Standbild?«

»Nein, die Vorhänge bewegen sich.«

»Vielleicht habe ich ihn verjagt«, sagte Ann, als sie das Fenster erreichte. Sie blickte nach unten, wo das Licht einer Laterne einen weiten gelben Kreis auf den sterbenden Rasen warf. Der Springer stand auf dem Rasen und blickte zu ihr hoch.

Unfreiwillig trat sie einen Schritt zurück. »Er ist da unten.«

Duncan ging vom Laptop zu ihr, aber kurz bevor er das Fenster erreichte, zeigte der Springer über Ann und trat in die Dunkelheit zurück. Wobei sie sich nicht sicher war, dass er wirklich einen Schritt zurück gemacht hatte. Er konnte auch einfach geschwebt sein oder sich aufgelöst haben.

»Ich sehe nichts«, sagte Duncan.

»Ich wette, dafür ist SSI verantwortlich«, sagte Ann. »Die machen das Gleiche wie wir, sie platzieren Bilder und Clips, um die Geisterjäger in Ekstase zu versetzen. Und sie sind noch einen Schritt weiter gegangen und haben einen Schauspieler engagiert.

»Ich kann mir nicht vorstellen, wie sie unser System gehackt haben«, sagte Duncan. »Ich habe den Laptop kaum aus den Augen gelassen, und wir sind in keinem Netzwerk, also gibt es keinen Zugang.«

»Entweder  das, oder wir müssen zugeben, dass wir ein übernatürliches Erlebnis hatten.«

»Ich gebe gar nichts zu.«

»Wer immer das auch war, er hat über meinen Kopf gezeigt.«

Duncan neigte sich zurück und blickte sie prüfend an. »Scheiße.«

»Was?«

Er wedelte mit seiner Hand über ihrem Kopf, als ob er eine Fliege verscheuchen wollte. »Dein schwarzer Heiligenschein.«

Ann langte mit ihren eigenen Händen über ihren Kopf. »Das ist jetzt nicht die Zeit für–«

Sie sah ihr eigenes verzerrtes Spiegelbild im Fenster, und da war er, ein paar Zentimeter über ihrem Kopf schwebend. Außerhalb des Fensters hing der Springer aufgespießt auf halber Höhe des Laternenpfahls. Das Lampengehäuse war zersplittert, aber strahlte immer noch ein kränkliches gelbes Licht aus. Als sie versuchte, genug Atem zu sammeln, um zu sprechen, rutschte der Springe den Pfahl hinunter und löste sich dann von ihm. Er tätschelte ihn, als ob er sagen wollte: »Er ist da, wenn du ihn brauchst.«

»Hol Wayne Wilson«, sagte Ann.

Duncan öffnete den Mund, um zu protestieren, aber Ann verzerrte ihr Gesicht zum Zickenmodus. Er nickte und machte sich auf den Weg.

Nachdem er die Tür geschlossen hatte, ging Ann in das Badezimmer und prüfte sich im Spiegel. Der Heiligenschein sah so fest aus wie geschmiedeter Stahl. Sie griff danach, ohne zu wissen, was sie tun würde, wenn sie ihn fasste, aber ihre Finger glitten durch ihn hindurch. Ihre Augen funkelten vor Furcht, aber ihr Gesichtsausdruck blieb im Zickenmodus, egal wie sehr sie sich auch bemühte, durch Bewegen ihrer Kiefern den Ausdruck zu verändern.

Widerwillig musste sie zugeben, dass der Heiligenschein eine nette Ergänzung zum Zickenmodus war.

Es musste eine wissenschaftliche Erklärung geben, auch wenn ihr Gehirn sich selbst mit Toxinen überschüttete und ihre Wahrnehmung beeinträchtigte.

Als Forscherin wusste sie, dass die einfachste Erklärung in der Regel die richtige war.

Und in diesem Fall bedeutete das, dass sie höchstwahrscheinlich eine teuflische Zicke war, von der ein Höllenwesen Besitz ergriffen hatte.

Und das war gar nicht mal so übel.

Ein Lächeln fand seinen Weg auf ihr Zickenmodus-Anlitz.

Dunkle Zeiten: Die ultimative Thriller-Collection
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