Kapitel 15
Sheila stand auf den Stufen zur roten Kirche und starrte sie an.
Nur ein Gebäude. Holz und Nägel und Steine und Glas. Ein bisschen heruntergekommen, das Dach vom Alter in der Mitte durchgebogen. Wände, die ein wenig ächzen, wenn der Wind weht, und wahrscheinlich tummeln sich Mäuse unter dem Fundament. Nichts als ein Gebäude.
Aber warum dann all die Gespenstergeschichten? Klar, die schottischen, englischen und irischen Siedler hatten ihre Volkssagen mit hierher in die Berge gebracht, etwas, womit man den Kindern Angst einjagen konnte, wenn man sich im Winter um das Feuer versammelte. Vielleicht waren Prediger immer ein beliebtes Fressen für Klatschmäuler gewesen und aus Klatsch wurden geflüsterte Legenden. Wenn Frank auf diesen »gehängter Prediger«-Unsinn hereinfallen konnte, war das ein Beweis für die Macht der Einflüsterung.
Sogar im Flachland hatte jede Stadt ein oder zwei Spukhäuser. Es gab eines in Charlotte, ein altes Backsteinhaus nur ein paar Blocks vom Haus ihrer Kindheit entfernt. Sie war mit dem Fahrrad ein paar Mal daran vorbeigefahren und hatte nach Bewegungen in der Dunkelheit hinter den zerbrochenen Fensterscheiben Ausschau gehalten.
An einem hellen Herbstmorgen hatte Sheila gesehen, wie sich etwas hinter einem Fensterladen bewegte. Sie hatte angehalten und vom Rande des verwilderten Gartens aus hochgeblickt. Etwas oder jemand beobachtete sie. Sie hatte zu zittern begonnen und war eilig davongeradelt. Sie hatte nicht geglaubt, dass es in dem Haus spukte, aber sie hatte auch nie bei den Halloween-Mutproben ihrer Freunde mitgemacht, das Haus zu betreten.
Nun, nach all ihrem Spott für die Geschichten Franks, zögerte sie an der Kirchentür. Natürlich war dieser Ort für Frank mit Schrecken verbunden. Sein Bruder war hier gestorben, während Frank zusah. Die Erinnerung daran würde jedem zu schaffen machen. Aber erklärte das, warum sich die Härchen auf ihrem Unterarm aufrichteten, wenn sie den Türgriff berührte?
Sheila blickte über den Friedhof. Frank befand sich am Waldrand und suchte den Boden ab. Abgesehen vom Geräusch seiner Bewegungen im Gestrüpp war der Hügel still. Obwohl die Sonne herunterbrannte, fror sie im Schatten des riesigen alten Hartriegels. Seine Äste lauerten über ihr, lange knochige Finger, die sich streckten, streckten...
Unsinn. Du bist nur dabei, dich mit der Verrücktheit anzustecken, die alle anderen in Whispering Pines infiziert hat. Für dich dreht sich alles um Fakten, vergiss das nicht.
Sie ging hinein. Die Vorhalle war dunkel, weil es dort keine Fenster gab. Sie blinzelte und schritt in Richtung Altarbereich. Die handgearbeiteten Kirchenbänke waren ordentlich an beiden Seiten aufgereiht, auch wenn sie sich ein wenig in der Höhe unterschieden. Storie bewunderte die Verarbeitung der Holzbalken und des geschnitzten Geländers, das das Podium abtrennte. Vor langer Zeit hatte jemand viel Liebe in diese Kirche investiert.
In der Kirche roch es nach Heu und ihre Nase juckte vom Staub. Die Kirche war als Scheune benutzt worden, hatte Frank gesagt. Seit dem Mord an Houck war die Kirche einer planlosen Reinigung unterzogen worden. Sie fragte sich, ob die Absicht gewesen war, Beweise verschwinden zu lassen, und bedauerte, dass sie keine Anordnung gegeben hatte, die Kirche mit gelbem Plastikband abzusperren. Aber Frank hatte gemeint, dass er die Kirche gründlich abgesucht hatte.
Sie näherte sich der Kanzel und war sich bewusst, dass ihre Schritte und ihr Herzschlag die Stille der Kirche störten. Sie war nicht religiös, aber sie respektierte Gotteshäuser. Und beim christlichen Gott ging es letztendlich doch um die Wahrheit, oder? Also würde Jesus vielleicht nichts dagegen haben, wenn sie ein wenig herumschnüffelte.
Sie konnte nichts Ungewöhnliches im Altarbereich entdecken und ein kurzer Blick in die Sakristei offenbarte nur Spinnweben und dunkle Ecken. Sie ging über das Podium und stand am Pult, von wo aus sie über die Bänke blickte und sich vorstellte, wie es wäre, zu einer Gemeinde zu sprechen. Wenn sie Archer McFalls Motive verstehen wollte, musste sie sich in seine Lage versetzen. Alle Mörder hatten ein Motiv, wie unsinnig es auch in den Augen normaler Menschen erscheinen mochte.
Ein Prediger als Hauptverdächtiger? Das ist ungefähr so durchgeknallt wie ein mordender Geist.
Sie legte die Hände auf das Pult und bemerkte, dass ihre Handflächen schwitzten. War dies die Macht, die McFall aus Kalifornien hierher zurückgelockt hatte, die ihn dazu gebracht hatte, ein Leben in der Sonne und im Reichtum aufzugeben, um in diesen kalten Bergen zu predigen? Hatte McFall einen Erlöser-Komplex? Nein, damit nahm sie ihn zu ernst. Der einzige Grund, warum er überhaupt ein Verdächtiger war, war, dass ihr nichts Besseres einfiel.
Sie prüfte das Podium noch einmal, und bei diesem zweiten Durchgang sah sie den Fleck. Er war alt und braun, in die Bodendielen aus Eichenholz eingetrocknet. Er sah aus wie ein Blutfleck, aber er war zu alt, um von Boonie Houcks Ermordung zu stammen. Sie kniete sich hin und fuhr mit ihrem Finger an seinem Rand entlang.
Der Fleck hatte eine bestimmte Form. Sie erhob sich und starrte ihn an. Wenn man genau hinguckte, konnte man sich vorstellen, dass es sich um einen Engel handelte, mit Flügeln und...
Sie lächelte über sich selbst. Nun war sie bei ihrem eigenen Rorschach-Test durchgefallen. So viel über ihren Kurs in Kriminalpsychologie. Es war an der Zeit nachzusehen, ob Frank etwas gefunden hatte.
Sie berührte das Geländer, als sie vom Podium trat, und etwas blieb an ihrer Hand kleben. Zuerst dachte sie, dass es sich um Staub handelte, aber sie hielt die Hand in das Licht, das durch die Fenster fiel. Rostfarbene kleine Stückchen glänzten auf ihrer Haut. Getrocknetes Blut.
Sheila beugte sich vor und betrachtete das Geländer, wobei sie sich wünschte, eine Taschenlampe mitgebracht zu haben. Ein paar Stückchen getrockneten Bluts waren auf dem Holz verteilt. Wie hatte Frank sie übersehen können? Sie dachte sich, dass sie die Dinge, die Frank sagte, vielleicht besser hinterfragen sollte. Schließlich glaubte er an Gespenster.
Zumindest hatte sie nun endlich einen brauchbaren Hinweis, etwas, mit dem das Labor arbeiten konnte. Sie konnten herausfinden, ob es sich um das Blut von Houck oder, wenn sie Glück hatte, um das des Mörders handelte. Sie fragte sich, wie viele Fingerabdrücke es wohl in der Kirche geben mochte. Auch wenn sie von über fünfzig verschiedenen Leuten stammten, würde sie wenigstens eine Gruppe von Verdächtigen haben.
Sheila ging durch das Kirchenschiff zurück und prüfte den Boden auf weitere Blutflecken. Kein Glück.
Sie ging durch die Vorhalle und konnte nun besser sehen, weil sich ihre Augen an das Halbdunkel gewöhnt hatten. An einer Wand war eine Garderobe angebracht, hölzerne Haken standen ab wie ein Hirschgeweih. Sie stieß an das Glockenseil und es schwang mit einem leisen Geräusch gegen ihre Jacke. Das Seil kam aus dem Glockenstuhl herab.
Moment mal. Frank hat gesagt, dass es kein Glockenseil gibt. Warum würde er bei sowas lügen? Und worüber hat er dann noch gelogen?
Nun, zumindest erklärt das, warum die Zeugen angegeben haben, in den Mordnächten Glockenläuten gehört zu haben. Wahrscheinlich haben irgendwelche Kids hier Blödsinn gemacht.
Sie eilte aus der Kirche, um Frank die Neuigkeit mitzuteilen. Sie wollte sein Gesicht sehen, wenn sie ihn mit seinen Lügen konfrontierte. »Hey, Sheriff«, rief sie.
Er trat aus einem Lorbeergestrüpp. Er sah jetzt ein bisschen besser aus, auch wenn seine Augen noch blutunterlaufen waren und sein Haar ungekämmt. »Ich habe nichts finden können«, sagte er mit einem Schulterzucken.
Was für eine Überraschung.
»Nun, ich schon. Blutflecken.«
»Blutflecken?«
»In der Kirche.«
Franks Augenbrauen hoben sich. »Ich fass’ es nicht.«
»Dachte ich mir. Und noch was. Erinnern Sie sich an das Glockenläuten, von dem Sie sprachen?«
»Ja?«
»Nun, ich hab eine einfache Erklärung dafür.«
»Wie einfach?«
»Kommen Sie.«
Sie trottete zu den Stufen an der Kirche und wartete auf Frank. »Hier drin. Ich dachte, Sie hätten gesagt, dass es kein Glockenseil gäbe, wegen–«
»Richtig. Seit mehr als 130 Jahren gibt es kein Glockenseil mehr. Weil die Leute die Sache mit dem gehängten Prediger vergessen wollten.«
Klar. Und deshalb ist die Legende heute noch quicklebendig, oder? Weil sie so erfolgreich mit dem Vergessen waren?
Sie lächelte in sich hinein, als sie hinter Frank die Stufen hochging. Der wird Augen machen.
Sie blinzelte. Das Seil war verschwunden.
Sie starrte nach oben in das kleine Loch, das in den Glockenstuhl führte. Nichts. Hatte es jemand hochgezogen? Falls ja, musste die Person noch immer da oben sein. Sie hätten es bemerkt, wenn jemand aus der Kirche gerannt wäre.
Frank hatte seine Hände an den Hüften und blickte sie an.
»Ich schwöre. Da war ein Seil.«
»Ha ha. Sehr witzig.«
»Ich meine es ernst. Helfen Sie mir da hochzuklettern.«
Der Sheriff schüttelte den Kopf. »Nicht um alles in der Welt, Sheila. Als ich das zuletzt gemacht habe, habe ich einen Bruder verloren. Ich werde Sie nicht auch noch verlieren.«
Sie ballte die Hände zu Fäusten. »Verdammt, ich habe ein Seil gesehen. Wollen Sie mir einreden, dass es einer Ihrer Geister an die Glocke gebunden hat?«
»Es gibt kein Seil.«
»Glauben Sie, ich habe es mir nur eingebildet? Dass ich mich mit dieser Verrücktheit, die sich hier ausbreitet, angesteckt habe?«
Der Sheriff seufzte. »Hören Sie, vielleicht war es dumm von mir. Vergessen Sie den Blödsinn mit den Geistern. Wenn ich wirklich an Geister glauben würde, warum würde ich mir dann die Mühe geben, den Fall zu untersuchen?«
»Weil Sie der Sheriff sind. Sie müssen so tun, als ob Sie wüssten, was Sie tun.«
»Sie werden nicht in den Glockenstuhl hochklettern.«
»Sie passen da auf keinen Fall durch. Und einer von uns muss nachsehen. Wir können uns nicht einfach zurücklehnen und ducken, während Leute ermordet werden.«
Sheila packte zwei der Garderobenhaken und zog sich hoch, dann stellte sie einen Fuß auf den Türgriff. Wenn der Mörder dumm genug war, blöde Streiche zu spielen, verlangte er geradezu danach, gefasst zu werden. Sie fragte sich, ob sie ihren Revolver ziehen sollte, aber ihre Hände waren nicht frei. Wenn der Mörder mit einer Waffe wartete...
Sie streckte ihren Kopf in den Glockenstuhl. Ihre Wut gab ihr Kraft trotz des schlechten Halts, den sie am Holz hatte.
Nichts.
Nichts im Glockenstuhl außer einer kalten, matten gusseisernen Glocke. Ein paar Blätter wurden vom Wind umher gewirbelt, sie waren seit dem letzten Herbst hier oben gefangen. Sonst nichts.
Nach einem kurzen Moment sprang sie hinunter, der Aufprall schmerzte in ihren Knien. Frank griff nach ihr und half ihr, das Gleichgewicht wiederzugewinnen. Bei der Berührung trafen sich ihre Augen und beide wandten den Blick ab.
»Zufrieden?«, fragte der Sheriff.
»Ich schwöre Ihnen, dass ich ein Seil gesehen habe«, sagte sie, wobei sie nicht einmal sich selbst davon überzeugen konnte. Hatte sie es gesehen?
Nun, zumindest war da das Blut. Das war wirklich genug. Sie konnte sich plastisch an die Beschaffenheit der geronnenen Stückchen erinnern. Ein gutes, festes gerichtsmedizinisches Beweisstück, ohne die Probleme, die durch von Gespenstern heimgesuchte Zeugen verursacht wurden.
Sie drückte sich an Frank vorbei und eilte zum Geländer. Das Blut war verschwunden.
»Also, wo ist das Blut?«, fragte Frank, als er sie eingeholt hatte.
Sie starrte ihre Hand an und dachte an das Shakespeare-Drama. Weg, du verdammter Flecken, weg. Hatte sie ihn sich nur eingebildet, wie Lady Macbeth?
»Es war genau hier«, flüsterte sie.
»Vielleicht war es Geisterblut.«
Durch die Fenster strömten Sonnenstrahlen in die Kirche. Goldener Staub wirbelte langsam in der Luft. Holz und Nägel und Steine und Glas. Das Gebäude, die Wände, sie warteten.
»Sind Sie bereit, die Landesbehörde hinzuzuziehen?«, fragte Frank nach einem peinlichen Moment der Stille.
»Warum? Damit die mich für genauso verrückt erklären wie jeden anderen in diesen Bergen?«
Sie ging nach draußen und setzte sich auf die Kirchentreppe, allein in ihrer Verwirrung.
Linda fuhr den schmalen Feldweg entlang, der zu Mama Bets Haus führte. Die Zufahrt war in einem überaus schlechten Zustand, weshalb sie neben dem Zaun hinter den anderen Autos parken musste. Sie ging die letzten einhundert Meter zu Fuß, den Hügel hoch zu einer kleinen Schlucht im Wald. Sie hörte die Musik, bevor sie das Haus sah. Es hörte sich an, als ob eine Geige und eine Gitarre »Fox on the Run« spielten.
Mama Bets Haus war eines der ältesten Gebäude in Whispering Pines und Generationen von McFalls waren hinter seinen windschiefen grauen Mauern zur Welt gekommen, gealtert und gestorben. Es war der perfekte Ort für eine gute, altmodische Erweckung, außer Sichtweite der herumspionierenden Polizisten und der Arschkriecher von Barkersville. Es war nur naheliegend, dass sich die Mitglieder der Kirchengemeinde hier versammelten. Schließlich war Mama Bet, abgesehen von Archer, die letzte ihrer Familie. Auch wenn Linda immer gedacht hatte, dass die alte Frau komisch war, ein bisschen hochnäsig und selbstgerecht.
Lester Matheson war mit seinem allradgetriebenen Truck bis direkt ans Haus gefahren. Der Truck parkte unter einem halbtoten Apfelbaum. Zwei der Buchanan-Schwestern saßen auf den Seitenteilen der Ladefläche, mondgesichtig und blödäugig. Die ältere trug eine rote Haarspange aus Plastik in ihrem fettigen Haar.
Eine Ziege war am Apfelbaum festgebunden und graste am Ufer des Bachs. Sie starrte Linda mit dunklen Augen an, die wissend und kalt waren. Die Ziege schnupperte in die Luft. Ihr Maul bewegte sich seitwärts, dann schüttelte sie die Fliegen aus ihren Ohren und senkte den Kopf wieder ins Gebüsch.
Jim Potter und Stepford Matheson fuhren damit fort, ihre gegenläufige Melodie auf Gitarre und Geige zu spielen. Vivian, Lesters Frau, saß in einem Schaukelstuhl neben ihnen und wippte mit dem Fuß im Takt. Rudy Buchanan stand am Ende der Veranda und nickte mit dem Kopf, obwohl er dem Rhythmus ungefähr einen halben Takt hinterherhinkte.
Sonny Absher stand an einen Eckpfosten gelehnt und rauchte. Seine Augen bewegten sich zum Wald hinter dem Haus und fixierten dann Linda. »Du kommst spät«, sagte er. Rauch stieg durch seinen struppigen Schnurrbart empor, während er sprach.
»Ich bin so bald gekommen, wie ich konnte.«
»Der Pastor mag es nicht, wenn man sich verspätet.«
»Archer sagt ›Alles zu Gottes Zeit‹, Bruder«, antwortete sie.
Die Abshers waren ein Haufen inzüchtiger Idioten und Sonny war der Schlimmste von ihnen. Das war eines der Dinge, mit denen ihre Nachbarn sie auf die Palme brachten: Sie befanden sich hier in Archers Bergen auf der Schwelle zum Himmel, aber anstatt in dieser Herrlichkeit zu schwelgen, lebten sie von Lebensmittelmarken, Alkoholschmuggel und dem gelegentlichen Verkauf von Mastrind. Aber Archer würde sie reinigen. Linda konnte es kaum erwarten.
Sie betrat das Haus, ohne anzuklopfen. Mama Bet saß in einem dick gepolsterten Sessel mit einem Schal über ihrem Schoß. Unter dem Saum ihres Kleids waren ihre dickadrigen Unterschenkel zu sehen. Die Frau roch nach Rauch und Salz, wie geräucherter Schinken.
»Hi, Mama Bet.« Linda beugte sich vor und küsste sie auf die Wange.
»Hey, Liebling. Wie steht es mit deinem Mann?«
»Nicht sehr gut. Ich hatte gehofft, dass er das Licht der Wahrheit sehen und verschont bleiben würde, aber–«
Die alte Frau brachte sie mit einem festen Blick zum Schweigen, ihre Augen trüb vom grauen Star. »Es liegt nicht an uns, darüber zu entscheiden.«
Linda senkte ihren Kopf.
»Nur Archer kennt den richtigen Zeitpunkt und den richtigen Ort für den Tod eines jeden Menschen«, fuhr Mama Bet fort. »David ist nicht wegen dir zum Sünder geworden, oder? Du hast David nicht in die Baptistenkirche geschleppt, als er noch ein Kind war und zu jung, um es besser zu wissen. Also ist Jesus dafür verantwortlich, dass David vom rechten Weg abkam, nicht du.«
»Amen«, verkündete Nell Absher. Ihr Ehemann Haywood nickte in feierlicher Zustimmung. Ihre Tochter Noreen ging zum Fenster und blickte hinaus auf die wolkenverhangenen Berge.
»Da kommen Hank und Beulah«, sagte Noreen.
»Gut«, sagte Mama Bet. »Sind dann alle da?«
Becca Faye Greene kam aus der Küche mit einer Tasse Kaffee in der Hand. Sie gab sie Mama Bet und blieb neben dem Sessel der alten Frau stehen. Linda schenkte sie ein selbstgefälliges Lächeln.
Becca Faye war eine gebürtige Potter, aber sie hatte geheiratet und den Namen Greene behalten, nachdem ihr Ehemann nach Minnesota durchgebrannt war. Damals in der Highschool war sie ein Teil der Gruppe um Archer gewesen, aber als Archer sie gebeten hatte, beim Aufbau des Tempels in Kalifornien zu helfen, hatte sie kalte Füße bekommen. Seit Archer zurückgekehrt war, tat Becca Faye alles ihr Mögliche, um die Gunst des Predigers zu gewinnen, vielleicht um ihren früheren Verrat wiedergutzumachen.
Oder vielleicht aus einem anderen Grund. Becca Fays Bluse war tief ausgeschnitten und sie präsentierte genug Ausschnitt, um eine ernsthafte spirituelle Reinigung angebracht erscheinen zu lassen. Linda hatte beobachtet, wie sich Becca Faye während des Gottesdiensts letzte Nacht an Archer herangeschmissen hatte. Sie fragte sich, ob diese Schlampe mehr Glück gehabt hatte als Linda damals in Archers geparktem VW-Bus.
Eifersucht. Eine der allergrößten Sünden. Vergib mir, Archer.
»Ruft sie herein«, sagte Mama Bet. Sie führte die Kaffeetasse an ihre runzeligen Lippen und nahm einen Schluck.
Einer der Mathesons ging nach draußen und die Musik hörte auf. Die anderen kamen herein, stille Potters, Abshers, Mathesons, Buchanans und zwei Greggs, beide Cousinen von Linda. Eine von ihnen begegnete Lindas Blick und wandte sich dann beschämt ab.
Linda wollte rufen: Große Prüfungen werden kommen, Cousine. Archer sagt, dass Opfer der wahre Test des Glaubens sind. Donna bedurfte der Reinigung ebenso wie jeder andere.
Aber sie schwieg. Worte würden Donna nicht von den Toten zurückbringen. Außer vielleicht die von Archer.
Etwa 30 Personen befanden sich im großen Wohnraum, aufgereiht vor dem Steinkamin und dem Eckschrank sowie in der Tür zur Küche. Einige der Mathesons hielten sich im Flur versteckt und sahen über Lesters Schultern in den Raum. Mama Bet ließ ihren Blick über die Wartenden wandern. Ihr Mund bewegte sich billigend.
»Ihr wisst alle, warum wir hier sind«, fing sie an. »Es ist fast soweit. Wir haben für seine Rückkehr gebetet und nun ist er zurückgekehrt. Wir haben alle gesündigt und sind der Herrlichkeit des Himmels nicht würdig. Unsere Vorfahren kamen in diese Berge, um in Frieden Gott anzubeten, aber dann wurden ihre Herzen hart und kalt und wandten sich Jesus zu. Wir dachten, dass die alten Sünden verschwinden würden, wenn wir ›Es tut mir leid‹ sagen.«
Die Versammelten wurden still, als der widerliche Name »Jesus« erklang. Lindas Magen zog sich aus Wut zusammen. Mama Bet nickte in Anerkennung ihres Abscheus, dann fuhr sie fort.
»Wir entfernten uns von all den guten Dingen, die wir anbeteten«, sagte sie. »Wir kamen vom einzig rechten Weg ab. Wir bedurften der Rückkehr des Messias, der uns von dem Bösen erlöst. Deshalb hat Gott Archer in die Welt von uns Sterblichen geschickt. Und Gott bestrafte uns, indem er unsere Samen vertrocknen und unsere Familien aussterben ließ, er bestrafte die Sünder bis in die vierte Generation.«
»Amen«, sagte Lester und einige der anderen schlossen sich seiner Meinung an.
»Wir sind Sünder«, sagte Mama Bet.
»Amen«, sagten Haywood und Nell gleichzeitig. Haywood richtete den Knoten seiner roten Seidenkrawatte.
»Wir haben den Zorn Gottes verdient«, verkündete die alte Frau. Ihre Stimme zitterte, als sie lauter wurde.
Becca Faye hob ihre Hände und warf den Kopf in den Nacken: »Große Prüfungen werden kommen.«
Die Brüste der Frau schwollen gegen den Stoff ihrer Bluse, als sie ihren Rücken durchbog. Linda grinste höhnisch und fragte sich, für wen sich dieses Flittchen so zur Schau stellte. Archer war nicht hier und Gott war es völlig egal.
Die Luft im Raum war elektrisch aufgeladen, durchdrungen von Schweißgeruch und Spannung. »Einige von uns haben Verlust erlitten«, sagte Mama Bet.
Linda blickte zu ihren Cousinen. Sie senkten die Köpfe. Die Potters sahen sich auch gegenseitig an. Die alte Alma Potter, Zebs Schwester, unterdrückte ein Schluchzen.
»Aber trauert nicht um die, die gegangen sind«, sagte Mama Bet, die ihren Rhythmus fand. »Opfer sind die Währung Gottes. Sie sind Teil der Arbeit Archers. Wir müssen alle Opfer bringen, bevor es vollbracht sein wird.«
Aus Mama Bets Augen flossen Tränen. Archer war ihr Sohn, der letzte der McFalls. Linda wusste, dass alle Familien Verluste zu ertragen hatten. Aber die Verluste waren gerechtfertigt, denn alle von ihnen, die Greggs, Abshers, Buchanans und Mathesons, waren von der Sünde befleckt. Sie alle hatten an der Ermordung von Wendell McFall mitgewirkt.«
»Was machen wir mit dem Sheriff?«, fragte Lester. Es wurde still im Raum.
Mama Bet ergriff die abgenutzten Lehnen ihres Sessels. Ihre Finger krümmten sich, so als ob sie einen Krampfanfall hätte. »Archer wird sich um den Sheriff kümmern.«
»Es gibt noch andere, die gegen die Kirche sind«, sagte Becca Faye und starrte Linda an.
Linda errötete aus Wut und Scham. »Er ist mein Ehemann. Das Alte Testament sagt, dass man seinen Gatten ehren soll.«
Nicht, dass du wissen würdest, wie man einen Gatten ehrt. Das Einzige, das DU verehrst, sind die freigiebigen Cowboys, die dich Freitagabend aus dem Gulpin’ Gulch abschleppen.
»Was ist mit deinen Jungs?«, fragte Becca Fraye, deren Augen aus Freude über Lindas Unbehagen halb geschlossen waren. Die anderen Mitglieder der Gemeinde sahen mit Interesse zu. Ronnie und Tim waren die jüngsten Nachfahren der Familien, die vor mehr als einem Jahrhundert den Gottesmord begangen hatten.
Linda blickte aus dem Fenster auf die grünen Bäume im Sonnenschein, auf die dunklen Gebirgszüge, auf den Bach, der sich zwischen den Abhängen zum Fluss schlängelte. Sie wünschte sich, in Kalifornien geblieben zu sein. Dann wären Ronnie und Tim niemals geboren worden. Aber sie konnte sich ein Leben ohne sie nicht vorstellen, auch wenn es ein Leben in Archers göttlichen Armen wäre.
»Ich bete für Archers Gnade«, sagte Linda schließlich. Becca Faye wusste keine Antwort auf diese einfache Bitte.
Sonny Absher beendete die Stille: »Sie müssen zahlen wie jeder andere auch.«
»Aber sie sind unschuldig«, sagte Linda nun schon wütend.
»Niemand ist unschuldig.«
Vor allem du nicht, dachte Linda, aber sie sollte sich kein Urteil über einen Bruder in der Sünde erlauben. In den Augen Archers waren alle gleich. Sie waren alle gleich schuldig und würden alle den gleichen Preis bezahlen müssen.
Nein, nicht genau den gleichen Preis. Sonny würde nur sein eigenes schäbiges Leben verlieren. Linda war mehr als bereit dazu, Archer ihr eigenes Leben zu schenken, wenn das für die heilige Sache nötig war. Sie verstand auch, dass David sterben musste, wenn er nicht aufhörte, sich einzumischen. Aber die Jungs...
Die Jungs sollten nicht für Sünden bezahlen müssen, die sie kaum berührten. Ihr Blut war fast rein. Aber auch Isaaks Blut war rein gewesen und trotzdem hatte ihn Abraham auf den Altar legen müssen.
Mama Bet versuchte aufzustehen und sank zurück in ihren Sessel. Zwei der Potter-Brüder traten zu ihr, um ihr auf zu helfen. Sie schwankte leicht, während sie sie festhielten.
»Gelobt sei Archer«, sagte sie. »Und jetzt geht. Wir sehen uns heute Nacht in der Kirche.«
»Gelobt sei Archer«, sagte Haywood Absher. Er war einer der letzten gewesen, die den Schoß der Baptistengemeinde verlassen hatten, aber er hatte sich Archers Heilsbotschaft so sehr verschrieben wie alle anderen. Oder zumindest gelang es ihm sehr gut, den Gläubigen zu spielen.
Linda stimmte mit den anderen in ein abschließendes »Amen« ein.
Die Familien begannen, mit gesenkten Köpfen das Haus zu verlassen. Linda dachte, dass sie voller Freude sein müssten, aber stattdessen waren sie um ihr eigenes sterbliches Fleisch besorgt. Der Tod war nicht das Ende: der Tod war der Anfang eines neuen Lebens im Reich der Herrlichkeit. Die bevorstehende Erlösung war eine Zeit des Feierns und der Begeisterung, nicht der Bestrafung. Gott hatte sie gesegnet, indem er Archer geschickt hatte, sein heiliges Schwert zu führen.
Aber warum scheute sie sich dann so sehr davor, ihre Jungs wegzugeben?
Linda wartete auf der Veranda, bis sich die Menge aufgelöst hatte. Becca Faye eilte an ihr vorbei und hinterließ die Duftspur eines Billigparfüms. Sonny Absher präsentierte sein aus vier Zahnen bestehendes Grinsen und nickte zum Abschied, dann nahm er Becca Fayes Arm. Er begleitete sie zu seinem rostigen Chevrolet Chevelle, in dem sie wahrscheinlich den Nachmittag über auf der Rückbank sündigen würden.
»Kommst du heute Abend früher zur Kirche?«, fragte Lester.
Linda kaute an ihrem Daumen. »Wenn es Archers Wille ist.«
»Mach dir keine Sorgen um deine Jungs. Meine sind vor Jahren zu Gott gegangen und ich habe gelernt, es zu akzeptieren.« Lester kaute nervös seinen Tabak.
»Was ist, wenn Vivian das nächste Opfer ist? Wie würdest du dich dann fühlen?«
»Sünden müssen bezahlt werden.«
»Warum genügt es nicht, wenn wir für unsere eigenen Sünden bezahlen?«
Mama Bet hörte ihnen von der Fliegengittertür aus zu. »So geht das nicht, Kind. Opfer sind der wahre Test des Glaubens. Erinnerst du dich an die Lektion für Abraham? Es ist kein Opfer, solange man nicht etwas verliert, das einem teuer ist.«
»Und was verlierst du, Mama Bet?«
Die alte Frau blickte hinaus über die Berge und kniff dabei ihre milchigen Augen zusammen. Ein leichter Wind wehte von Tennessee herüber und brachte den Geruch von Sauerbaumblüten und Kiefern mit sich.
»Fleisch und Blut«, sagte Mama Bet schließlich. »So wie jeder andere.«