25
Der Jeep war auf einer hochgelegenen Böschung geparkt, mitten in Goldraute und Wiesenkerbel in voller Herbstblüte. Walter trat auf die von Blättern bedeckte Holzabfuhrstraße, die zwischen den Bäumen über den Abhang führte, schaute in beide Richtungen und stieg in das Fahrzeug. Erschöpft von der Anspannung und der Anstrengung setzte sich Julia neben ihn.
„Was nun?“, fragte sie, als Walter den Jeep startete.
„Ich kenne einen Ort, wo sie uns vielleicht nicht finden.“
Sie berührte seine Hand, die den Schalthebel hielt. „Wieso hilfst du mir?“
Er schaute sie an. „Nun, sagen wir es so: ich habe eine Schuld zu begleichen.“
Walter lenkte den Wagen auf den Feldweg. Der Jeep federte in den Radspuren auf und ab. Ein paar Baumschösslinge hatten auf der Straße Wurzeln geschlagen und die Stoßstange des Jeeps drückte sie nieder. Die Spuren waren kaum sichtbar auf den feuchten Blättern.
Als der Jeep über eine Furche schlingerte, rutschte ein Buch unter dem Sitz hervor und stieß an Julias Fußgelenk. Es war eine Bibel. Walter bemerkte, wie sie einen Blick darauf warf.
„Ich habe jemanden, der mit mir im Auto sitzt”, sagte er. “Du solltest es auch einmal versuchen.”
„Ich bin nicht bereit, an etwas zu glauben“, sagte sie.
„Mit Ausnahme des Teufels?“
Sie nahm die Bibel auf und öffnete sie. „Ich bin stur, okay? Versuche ja nicht, mich zu retten.“
„Ich kann dich nicht retten. Das kannst nur du selbst tun.“
Die Bibel öffnete sich auf einer Seite, die mit einem Eselsohr markiert war. In der Kopfzeile stand „Lukas“ in fettgedruckter Schrift. Ein Abschnitt des Texts war mit Gelb hervorgehoben und Julia las ihn laut vor. „,Dir will ich alle diese ihre Macht und Herrlichkeit geben; denn mir ist sie übergeben, und ich gebe sie, wem ich will.‘“
„Lukas, Kapitel Vier, Vers Sechs. Der Teufel hat das zu Jesus gesagt. Ich verwende es, damit ich nicht vergesse, vorsichtig zu sein.“
Oder vielleicht, um nicht zu vergessen, wer der wahre Chef ist. 4:06?
Sie schloss das Buch und schob es wieder unter den Sitz. „Wir müssen die Polizei informieren.“
„Julia, diese Leute waren die Polizei.“
„Sie können nicht alle darin verwickelt sein. Das Büro des Sheriffs, die Autobahnpolizei, die Bundespolizei. Der Teufel kann sie doch nicht alle in der Tasche haben.“
„Vielleicht nicht, aber wie wissen wir, wer dazu gehört?“ Walter schaute wiederholt in den Rückspiegel. „Wir müssten beim ersten Mal die richtige Stelle erwischen, sonst sind wir in noch viel größeren Schwierigkeiten.“
Julia suchte in ihrer Tasche nach ihrem Mobiltelefon. „Können wir ihnen nicht einen anonymen Tipp geben?“
„Die haben an deinem Wecker und dem Videorecorder herumgebastelt, ohne dass ich herausfinden konnte, was sie getan haben. Glaubst du, die können keinen Telefonanruf zurückverfolgen? Es würde mich nicht wundern, wenn sie meinen Jeep mit GPS überwachen.“
Julia warf einen Blick auf das Handy und sah, dass keine Verbindung existierte. „Tot.“
„Hier draußen gibt es kaum Sendemasten.“
Die Holzabfuhrstraße wurde breiter und fiel weniger steil ab. Der Wald wurde zu goldenen, roten und braunen Farbklecksen, als der Jeep die Fahrt beschleunigte. Julia legte den Sicherheitsgurt an und hielt sich am Überrollbügel fest, um nicht hin und her geworfen zu werden. Walter fuhr einen Moment etwas langsamer, schaltete auf Vierradantrieb und erhöhte dann die Geschwindigkeit, als sie die schlammige Straße hinunter fuhren.
Die Bäume wurden dünner und sie kamen an einer mit Stacheldraht eingezäunten Weide vorbei. Dort grasten einige Kühe, die sich beim Wiederkäuen nicht stören ließen. Der Jeep fuhr über einen seichten Bach, der die Straße kreuzte.
„Sie haben mich in Memphis verfolgt“, sagte Julia über den Motorlärm hinweg.
„Bei deiner letzten Reise?“ Walter hielt den Blick auf die Straße gerichtet.
„Nein. Bevor ich hierher zog. Ich weiß es erst seit kurzem.“
„Was wollen sie von dir?“
„Ich bin nicht sicher. Entweder mich zum Schweigen bringen oder die Sache zu Ende führen.“
„Welche Sache?“
„Mein Vater war einer von ihnen. Eines der Ungeheuer. Als ich vier Jahre alt war . . .“
Sie wollte die Geschichte nicht wieder erzählen. Sie wollte sie ungestört im Keller ihres Kopfes lassen, damit sich Staub und Spinnweben ansammeln konnten, bis sie isoliert und für immer im Schatten verschwunden wäre. Es war schlimm genug gewesen, die Geschichte Dr. Forrest zu erzählen. Aber jemanden darüber aufzuklären, den sie erst seit wenigen Tagen kannte, war unmöglich. Sie wollte nicht, dass Walter sie für übergeschnappt hielt.
Aber auch Walter hatte Narben. Er hatte seinen eigenen Verlust erlitten und musste mit seiner eigenen Trauer fertig werden. Er hielt noch immer etwas zurück und es wurde ihr klar, dass der Glaube nichts mit Logik zu tun hatte. Sie musste ihm entweder vertrauen oder aus dem Jeep springen und allein das Risiko auf sich nehmen. Und zweite Chancen gab es für sie keine mehr.
„Was ist geschehen, als du vier Jahre alt warst?“, fragte Walter.
Sie betrachtete sein Gesicht. Er schob entschlossen das Kinn vor, als ob er ein Mann mit einer Mission wäre. Er hatte schon Opfer für sie gebracht. Wenn sie nur einmal im Leben den Mut hätte, jemanden an sich heran zu lassen. Und ihm als Gegenleistung vielleicht helfen könnte.
Walter trat auf die Bremse und der Jeep kam zu einem abrupten Halt. „Was ist los?“
Julia hielt die Hände vors Gesicht. „Du würdest es doch nicht verstehen.“
Walter ergriff ihr Handgelenk und zog ihre Hand von ihrem Gesicht weg. „Hör zu, verdammt noch mal. Ich weiß nicht, in was ich mich hier eingelassen habe. Womöglich ende ich mit einer Kugel im Kopf. Ich bin durch die Hölle gegangen, um dich dem Teufel zu entreißen, und nun fahren wir weiß Gott wohin. Sag mir bitte nicht, dass ich es nicht verstehe.“
Julia versuchte, seinem Blick auszuweichen und die wellförmigen Hügel zu betrachten, die mit Scheunen bespickten Weiden und den Wald, der sie umgab. Sie konnte sich jedoch der magnetischen Kraft seiner Wut nicht entziehen. Sie atmete tief ein.
„Sie haben den Ring genommen“, gelang es ihr zu sagen.
„Ring? Das klingt nach Fantasieliteratur oder sowas.“
„Sie haben mich Satan gegeben“, sagte Julia schließlich. Sie verlor die Fassung und brach in Tränen aus. Aber die Panik verflüchtigte sich bald und wurde zu etwas Neuem, eine reinigende Wut. „Mein Vater übergab mich den Widerlingen, damit sie mich als Blutopfer aufschneiden und mit meinem Körper ein Fest veranstalten konnten. Jedenfalls glaube ich das.“
Nun war Walter an der Reihe, den Blick abzuwenden.
„Mein Vater verschwand in derselben Nacht“, fuhr Julia fort, bevor Walter sie wie alle anderen für hoffnungslos wahnsinnig halten würde. „Die Polizei hat den Fall nie gelöst. Meine Verletzungen wurden als Folge meines Versuchs, durch das zerbrochene Schlafzimmerfenster zu steigen, abgetan. Ich verbrachte die folgenden zehn Jahre bei verschiedenen Pflegefamilien und versuchte mir einzureden, dass nie etwas geschehen war. Dann hatte ich das Glück, als Teenager von einem liebevollen, ziemlich begüterten Ehepaar adoptiert zu werden. Sie starben bei einem Autounfall, als ich neunzehn Jahre alt war, hinterließen mir jedoch genug Geld, damit ich mein Studium am College beenden konnte und mir keine Sorgen um meine Existenz machen musste.“
Julia war überrascht, dass ihr die Geschichte so leicht von der Zunge ging. Es hatte zwei Jahre gedauert, bis sie Dr. Lanze so viel über ihre Vergangenheit erzählen konnte. Dr. Forrest hatte ihr solche Details in wenigen Monaten entlockt. Walter hatte es innerhalb von zwei Minuten geschafft, obwohl sie es ihm nicht sagen wollte.
„Wir sollten wohl besser weiterfahren“, sagte Julia.
Walter nickte; er war anscheinend dankbar, dass er durch etwas abgelenkt wurde. Er legte den Gang ein und fuhr den Feldweg entlang. Der Wagen roch nach Schmierfett und Gummi. Aus den Schlitzen in den Vinylsitzen ragte Schaumstoff heraus und die Windschutzscheibe war voller zerquetschter Insekten.
„Ich lernte Mitchell Austin während des ersten Jahrs am College bei einer Sommerparty im Country Club meiner Adoptiveltern kennen“, sagte sie. Ihr wurde bewusst, dass diese so genannte bessere Gesellschaft das pure Gegenteil von Walters Landleben war. „Ich weiß, langweilige alte Käuze, die Krocket spielen und trinken. Klingt eher nach einem Gefängnisaufenthalt als nach einem Urlaub. Aber Mitchell war –“
Sie suchte nach dem richtigen Wort, versuchte es mit „angenehm“, „vertrauenswürdig“ und fand dann den passendsten Begriff: „Zuverlässig. Er tröstete mich, als meine neuen Eltern starben. Er blieb in Verbindung, während ich mein Studium an der Memphis State Universität absolvierte, und bat mich dann, ihn zu heiraten. Das war etwa zu der Zeit, als meine ... kleinen Probleme begannen.“
„Probleme“, sagte Walter. Es war keine Frage, aber auch kein Urteil.
„Schlaflosigkeit. Gereiztheit. Vergesslichkeit. Müdigkeit abwechselnd mit manischer Aktivität. Dann wurde es schlimmer. Ich hatte Schweißausbrüche, wenn ich mich in kleinen Räumen befand oder mitten in einer Menschenmenge stand. Ich hatte Angstzustände, bei denen sich mein Puls verdoppelte. Ich hatte Ohrensausen und so große Atemnot, dass ich glaubte zu ersticken.“
Julia lachte. Nach all dem Geben und Nehmen, dem sorgfältigen Herauslocken, den strategischen Fragen in der Psychotherapie hatte Julia beinahe vergessen, wie es war, ganz einfach mit jemandem zu reden. Mit einem wirklichen Menschen. Sie hatte so wenig zu verlieren, dass sie diese Art der Kapitulation direkt umarmte.
„Panische Störung“, sagte er und hielt seinen Blick starr auf die Straße gerichtet. „So etwas wie Ausflippen?“
„Was weißt du darüber?“
„Meine Frau litt darunter. Bevor sie –“
Seine Frau. Die bei Nacht und Nebel vom Erdboden verschwunden war, genau wie Julias Vater.
Julia wollte ihn nach seiner Frau fragen, trotz des traurigen Ausdrucks in seinen Augen. Da riss Walter das Steuerrad nach rechts. Ein Polizeiwagen kam die Straße hochgefahren, ohne Sirene, aber mit blinkenden Lichtern.
„Verdammt“, sagte Walter. „Sie haben uns den Weg abgeschnitten.“
Er steuerte den Jeep in ein offenes Feld. Der Wagen federte auf dem unebenen Gelände auf und ab und Julia hielt sich fest, während Werkzeuge im hinteren Teil klapperten. Sie schaute durch die Rückscheibe und sah, dass der Polizeiwagen am Rand der Straße angehalten hatte.
„Zum Glück haben die keinen Vierradantrieb“, sagte Walter.
„Glaubst du, dass das ganze Revier daran beteiligt ist?“
Er zuckte mit der Schulter und steuerte auf ein Wäldchen auf der gegenüberliegenden Seite der Wiese zu. „Tut nichts zur Sache. Snead kann eine Fahndungsausschreibung durchgeben und die gesamte Mannschaft mobilisieren.“
Sie fuhren in das Wäldchen hinein und der Polizeiwagen war nicht mehr zu sehen. Der Jeep fuhr eine steile Böschung hoch und einen beängstigenden Moment lang befürchtete Julia, dass sich der Wagen überschlagen würde. Dann kamen sie auf dem Grat des Hügels an und erreichten den Bach, den sie vorhin überquert hatten. Hier war er jedoch breiter und die Strömung langsamer.
„Sie haben vermutlich die Hauptstraße blockiert“, sagte Walter. „Aber sie kennen das Hinterland nicht so gut wie ich. Halt dich fest und sag ein Gebet, falls du eines kennst.“
Er steuerte den Jeep in das Wasser und fuhr flussaufwärts. Die Räder kämpften sich über die feuchten Steine, das Wasser selbst war jedoch nur einige Zentimeter tief. „Das hab ich von Clint Eastwood gelernt“, sagte Walter mit gespieltem Ernst. „Nur hatte der ein Pferd.“
„Du solltest noch an deinem verkniffenen Ausdruck arbeiten.“
Walter warf ihr einen finsteren Blick zu, was in ihr ein manisches Kichern auslöste.
„Gott, ich muss tatsächlich verrückt sein“, sagte Julia. „Wir werden womöglich von unzähligen Ungeheuern und Polizisten verfolgt, und du schneidest alberne Grimassen.“
„Es ist normal, verrückt zu sein“, sagte Walter. „Wenn du nicht spinnst, dann stimmt etwas nicht mit dir.“
Sie fuhren weiter im Flussbett entlang, bis sie zu einer Brücke kamen. Walter wich auf das niedrige Ufer aus. Die Straße war leer und Walter ließ den Motor aufheulen und beschleunigte die Fahrt in Richtung Osten.
„Wohin fahren wir?“, frage Julia.
„Ich glaube, dass wir beruhigter sein können, sobald wir Sneads Zuständigkeitsgebiet verlassen haben. Er könnte behaupten, dass wir uns der Verhaftung widersetzt haben, aber ich glaube kaum, dass er so weit gehen wird.“
„Du hast keine Ahnung, wie sehr er mich in seine Hände bekommen will.“
„Doch, langsam wird es mir klar.“
„Snead war bei der Polizei in Memphis. Er bearbeitete das Verschwinden meines Vaters. Er leitete auch mehrere Verstümmelungsfälle, die nie gelöst wurden. Es gab Anzeichen auf rituelle Aktivitäten.“
„Du meinst satanische Morde?“
„Das hast du gesagt, nicht ich. Ein Kollege bei der Courier Times glaubt auch daran.“
„Die Leiche, die sie letzte Woche im Fluss gefunden haben?“
„Ja. Und was ist mit dem Mädchen, das Hartley umgebracht hat?“
Walters Hände waren weiß vom Umklammern des Steuerrads. „Es gibt etwas, dass ich dir nicht gesagt habe. Etwas, das ich noch nie jemandem erzählt habe.“
Geheimnisse. Der Asphalt summte unter dem Jeep. Auf den Wiesen standen einige Farmhäuser mit verwitterten Scheunen und rostigen Traktoren.
„Meine Frau war schwanger, als sie verschwand.“
„Es tut mir leid“, sagte Julia, während ihr klar wurde, dass andere das Geheimnis erraten hatten. „Das muss schrecklich gewesen sein.“
Walter wischte sich mit einer seiner narbenbedeckten Hände über die Augen. „Ich sollte wohl mittlerweile darüber hinweg sein. Es geschah vor sieben Jahren.“
Julia berührte sanft seinen Arm. „Du kannst der Vergangenheit nicht entkommen. Sie lebt in dir. Du musst sie herauslassen, um sie zu entschärfen.“
Du lieber Himmel, jetzt klinge ich bald wie Dr. Forrest.
Walter nickte, als ob er sie kaum gehört hätte. „Die Knochen unter deinem Haus ... glaubst du, dass es menschliche Knochen waren?“
„Wenn Hartley tatsächlich rituelle Opfer ausgeführt hat, dann könnte er dies mehrere Male getan haben. Ich weiß nicht, wie oft diese Irren glauben, ihrem idiotischen Meister dienen zu müssen.“
Ein Pick-up kam ihnen entgegen, den ein Mann mit einer grünen Baseballmütze lenkte. Er winkte, als er vorbeifuhr. Eine Ziege befand sich auf der Ladefläche und kaute am Seil, mit dem sie an der Heckklappe befestigt war. Julia starrte auf die gekrümmten Hörner, den zerzausten Bart und die schwarzen Augen, bis der Wagen hinter einer Kurve verschwand.
„Wir befinden uns nun außerhalb der Stadtgrenze“, sagte Walter. „Sie werden bestimmt auch mein Haus überwachen. Aber ich wette, dass sie nichts vom Grundstück in den Bergen wissen, das meinem Cousin gehört.“
„Glaubst du, dass wir dort sicher sind?“
„Ich weiß es nicht. Ich bin nicht einmal sicher, wovor wir fliehen.“
Julia dachte, dass Mitchell hier gelogen hätte. Mitchell hätte sein Kinn vorgeschoben und gesagt, „Mach dir keine Sorgen, ich passe auf dich auf.“
Ja, er hat tatsächlich auf mich aufgepasst. Mit seinen Fäusten.
Sie fuhren drei weitere Meilen auf der kurvigen Straße bergabwärts, bis sie zu einer kleinen Tankstelle kamen. Walter parkte hinter dem Gebäude, damit der Jeep von der Straße aus nicht zu sehen war. „Ich rufe das Büro des Sheriffs an“, sagte er. „So können wir schnell herausfinden, ob Snead sich schon gemeldet hat.“
„Das Münztelefon befindet sich auf der Vorderseite“, sagte Julia. „Hier kennen dich mehr Leute als mich. Ich bin hier ein Niemand. Lass mich anrufen.“
Walter öffnete den Mund, als ob er protestieren wollte, nickte dann aber. „Komm aber sofort zurück, wenn du etwas Verdächtiges siehst.“
„Mach ich“, sagte Julia und hing sich die Tasche über die Schulter. Ihre Beinmuskeln schmerzten vor Anspannung, als sie aus dem Jeep kletterte. Sie ging mit steifen Beinen zum Telefon und betrachtete die alten, abgeblätterten Schilder, die an der vorderen Seite des Ladens hingen. Ein Mann in einem Arbeitsoverall trat aus dem Laden, nickte ihr zu und ging wieder hinein. Es befand sich nur ein Auto an den Zapfsäulen, ein großer Chevy aus den Zeiten, zu denen Benzin noch billig war.
Julia blätterte im Telefonbuch und stellte erleichtert fest, dass die Seiten nicht herausgerissen waren. Sie fand den Eintrag, schob eine Münze in den Schlitz und wählte die Nummer. Eine Frau antwortete, deren Stimme klang, als ob sie soeben aufgewacht wäre. „Büro des Sheriffs.“
„Hallo“, sagte Julia. „Ich möchte ... einige Knochen melden.“
„Knochen? Haben Sie ‚Knochen‘ gesagt?“
„Ja.“
„Was für Knochen?“ Die Frau gähnte.
„Ich glaube, dass es menschliche Knochen sind.“
„Ist das einer dieser Schülerscherze? So einer, bei dem Sie diese lange Erklärung abgeben und ich dann sage ‚So, und wo befinden sich die Knochen?‘ und Sie sagen ‚Auf dem Friedhof‘ und lachen sich dämlich.“
„Das ist kein Scherz“, sagte Julia.
„Aha? Okay, ich falle darauf herein. Wo sind die Knochen?“
„Unter meinem Haus.“
Die Frau lachte. „Unter Ihrem Haus?“
Julia kaute an ihrem Daumen. Der Mann im Arbeitsoverall trat an das Fenster des Ladens und starrte sie an. „Ich heiße Julia Stone und ich wohne –“
„Stone. Sie sind die Hure Judas Stone?“
„Was?“ Unsichtbare Finger umklammerten ihren Hals.
„Er besitzt dich, du Hure, also gib ihm, was ihm gehört.“
Julia ließ den Telefonhörer fallen. Sie lehnte sich gegen die Telefonzelle. Ihr Kopf schwirrte und ihre Brust verengte sich. Das war einer dieser großen Panikanfälle, eine tintenschwarze Flutwelle, ein Erdbeben unter ihren Füßen.
Er besitzt dich.
Die Worte rasten durch ihr Gehirn, erklangen in der Stimme der Frau am Telefon, im schwachen Rumpeln außerhalb ihres Fensters in der letzten Nacht, in der drohenden Stimme während der Nacht der schwarzen Messe.
Nimm diese Hure, Judas Stone.
Es kam ihr vor, als ob sie schwebe, sie fühlte sich disloziert, außerhalb ihres Körpers, und rang nach Luft.
Lauf zum Jeep. Geh weg von hier.
Nur –
Egal, wohin du gehst, du nimmst alles mit. Es gehört zu dir. Und er BESITZT dich.
Sie versuchte, sich zu entspannen und langsam von Zehn aus rückwärts zu zählen. Aber sie fand die Zehn nicht, konnte ihre Finger nicht leicht wie Ballons machen, konnte sich nicht genügend konzentrieren, um die Gedanken loszulassen. Nur ein Mensch konnte ihr nun helfen. Sie wühlte in ihrer Tasche herum und suchte nach weiteren Münzen, drückte die Gabel nieder und warf die Münzen ein, während sie die altbekannte Nummer eintippte.
Dr. Forrest antwortete, ehe der erste Klingelton zu Ende war. „Wo sind Sie, Julia?“
„Es hat mich erwischt.“
„Beruhigen Sie sich, Julia, atmen Sie tief.“
„Ich kann nicht.“ Ihr Herz war nahe daran zu explodieren.
„Sie vertrauen mir doch, nicht wahr?“
Julia lehnte sich an die Wand des Ladens. Ein Fahrzeug flitzte auf der Hauptstraße vorbei, aber Julia schaute nicht einmal hin, um zu sehen, ob es die Polizei war. „Warum war Snead in Ihrem Büro?“
„Sie haben ihn gebeten, dort zu sein. Erinnern Sie sich nicht?“ Dr. Forrests Ton wechselte von besorgt zu strafend. „Sie haben mich gestern Nacht angerufen.“
„Nein, Sie haben angerufen.“ Während sie es aussprach, kamen Julia Zweifel auf.
„Julia, Sie benötigen Hilfe. Sie brauchen meine Hilfe.“
„Sie haben über die Zeichnung des Pentagramms gelogen.“
„Julia, wollen Sie geheilt werden?“ Der Satz baumelte wie ein Leckerbissen vor einem gescholtenen Hündchen.
Julia schlug mit der Faust gegen die Wand. „Geheilt wovon?“
„Geheilt von Ihrem Widerstand. Lassen Sie es heraus, lassen Sie sich von ihm in Besitz nehmen. Er besitzt sie, aber sie waren ein sehr böses Mädchen. So schwierig.“
Julias Atem gefror in ihrer Lunge. Ihre Augen füllten sich mit Tränen.
„Julia, wir haben alle versucht, Ihnen zu helfen. Lanze, Lucius, Ihr Vater, alle. Das ist alles, das wir je gewollt haben. Dass Sie ihn aufnehmen, dass Sie die Hure Judas Stone werden.“
Julia konnte den Hörer nicht von ihrem Ohr wegziehen. In jenem schrecklichen, dunklen Augenblick erkannte Julia, dass Dr. Forrest sie genauso besaß wie Dr. Lanze damals. Sie alle wollten, dass sie sich an jene Nacht erinnerte. Sie machten das Ungeheuer zur Wirklichkeit.
„Julia?“
„Ja.“ Das Wort kam mit einem Atemzug und einem Teil ihrer Seele über die Lippen.
„Wo sind Sie jetzt?“
„Ich weiß es nicht.“
„Wir wollen Ihnen helfen. Er liebt Sie, Julia.“
„Julia?“
Die letzte Stimme kam nicht durch das Telefon. „Walter?“
Er rannte auf sie zu, hielt sie bei den Schultern und drehte sie zu sich herum. „Beruhige dich. Es ist alles okay. Sie können dich hier nicht erwischen.“
Er nahm ihr den Telefonhörer aus der Hand und hängte auf. Eine Tür schlug zu. Der Mann im Arbeitsoverall schaute sie prüfend an und verzog den Mund. „Ist alles in Ordnung?“
„Atme“, flüsterte Walter. „Es geht ihr gut. Nur ein Schwindelanfall“, rief er dem Mann zu.
Der Mann nickte, als ob er ihnen nicht glaubte, und ging in den Laden zurück.
„Hör zu, Julia.“ Walters Gesicht war so nahe, dass sie seinen Atem spürte und die braunen, grünen und goldenen Tupfen in seinen Augen sah. „Du stehst auf Wolken, die Sonne scheint, du lachst und spielst. Weiches, goldenes Licht schimmert am Himmel. Mach dir keine Sorgen. Öffne dein Herz und –“
„Dieser Mann – er ruft wahrscheinlich die Polizei. Er gehört dazu. Er ist einer von ihnen.“
„Ganz ruhig. Schau in die Ferne, dort wo sich die Berge mit dem Himmel treffen. Dort oben, wo die Wolken sind. Werde ein Berg. Selbst der Teufel kann einen Berg nicht zerstören.“
Julia schaute zu den Wolken, die über dem Berggipfel hingen und auf die starken und zeitlosen Hügel, die gegen das Flusstal abfielen. Sie können einen Berg nicht zerstören. Dumm, aber es half. Vielleicht spürte Walter, dass sie noch nicht zu einem Sinneswandel bereit war und vielleicht hielt er sich mit seiner Verkaufsmasche für Jesus noch zurück. Jetzt jedoch war er ein Anker, so solide wie sein metaphorischer Berg.
Als sie schließlich wieder atmen konnte, führte Walter sie um den Laden herum und half ihr in den Jeep, bevor er in den Fahrersitz kletterte.
„Er besitzt mich“, sagte Julia.
„Satan besitzt dich nicht.“ Walter legte den Gang ein und fuhr den Jeep auf die Straße und in Richtung der blauen Berge. „Nicht, solange ich lebe.“
Als sie die Straße entlang rasten, jedoch zu langsam fuhren, um die Vergangenheit hinter sich zu lassen, wunderte sich Julia, ob Satan bereits Meister der gesamten Zukunft war, egal, welche Route sie verfolgten.