9. KAPITEL

 

Jacob verließ das Gebäude und lief schnell am Spielplatz vorbei, aus Furcht, wieder Matties Geisterbild zu begegnen. Immer wenn die Halluzinationen kamen, zerbröckelte die sorgfältig errichtete Mauer in seinem Kopf, Stück für Stück. Schon jetzt blitzte die Dunkelheit durch die Ritzen. Würde der Spalt größer, könnten all die Sachen, die dort im Dunkeln verborgen lagen, hervorstoßen.

Es war ein Fehler gewesen, zu der Psychologin zu gehen. Seit seiner Jugend hatte sich nichts verändert. Man kann ihnen nicht trauen. Man kann ihr nicht trauen.

Er ging um die Ecke und lief die Buffalo Trace Lane herunter. Historiker behaupten, dass diese Straße einst ein Büffelpfad war, wo die Herden im Sommer zu den höher gelegenen Weiden zogen. Hier jagten die Cherokees und Catawba-Indianer, schlugen ihre Zeltlager auf und zogen hinunter ins Tal, wenn der Frost kam. Büffel lebten hier heute keine mehr. Sie wurden abgeschlachtet, um Straßen wie diese zu bauen, die ihren Namen trug.

Jacobs Kehle war rau vom Erbrechen. Die Luft schmeckte nach alten Münzen. Die Leuchtuhr einer Bank zeigte 16:37 Uhr. In seinem früheren Leben hätte Jacob jetzt wahrscheinlich irgendeinen Termin gehabt, mit einer Immobiliengesellschaft oder einem Mieter, vielleicht auch mit einem Kreditvermittler. In seinem alten Leben käme er bestimmt mal wieder zu spät.

Renee würde jetzt bestimmt in Rheinsfeldts Büro sitzen und heulen. Rheinsfeldt mit ihrem Helfersyndrom würde ihr alles glauben, und Jacob wäre wieder mal das »Problemkind«. Jetzt, wo er weg war, konnten sie sich gegen ihn verbünden. So wie immer.

Renee liebte die Geschichte über die Nacht, in der Mattie entstanden war. Er war betrunken gewesen. Ohne ihre Hilfe hätte er sich gar nicht mehr an alles erinnert. Doch nachdem sie ihm erzählt hatte, wie es gewesen war, hatte sich die Geschichte für immer in sein Hirn gebrannt. Mattie ist daraus hervorgegangen, und jetzt war sie verbrannt.

Auch für immer.

Er brauchte Geld. Sein Kreditkartenlimit war fast erreicht. Da er keinen Wohnsitz hatte, konnte er auch keine neue Karte beantragen. Die Banken und Geldinstitute waren heutzutage so vernetzt, dass man einfach kein Schlupfloch finden konnte, wenn man verschuldet war.

Wie Schmutzwasser auf dem Gehweg ließ er sich ins Herz von Kingsboro treiben. Die Stadt, an deren Aufbau sein Vater einen großen Anteil trug, erstarrte unter all dem bedrohlichen Beton. Die alten dreistöckigen Gebäude schirmten die umgebenden Berge ab. Der Eisenwarenladen, wo sein Großvater einst Nägel und Werkzeuge gekauft hatte, verkaufte jetzt Vogelplanschbecken aus Plastik und Schilder mit Sprüchen wie »Keine Angst vor dem Hund – aber Vorsicht vor dem BESITZER!« Vor der Tür saß ein Mädchen, Kingsboros Version eines Gothic-Girls. Ihre Brust zeige winzige Schwellungen des Erwachsenwerdens, das Handy an ihrem Ohr hatte den schwarzen Lippenstift verschmiert. Als sie Jacob sah, verdrehte sie die Augen, als ob er zu einer fremden, gefährlichen Gattung gehörte.

Da hatte sie Recht.

Vor der Apotheke standen drei Männer, einer rauchte. Sie lachten, ein entspannter Nachmittagsplausch. Sie standen im Schatten und spielten mit den Händen in den Hosentaschen. Jacob erkannte den Mann in der Mitte, es war ein Dachdecker, mit dem M&W manchmal zusammengearbeitet hatte. Er trug den Arm in einer Schlinge. Jacob hätte gern gewusst, ob er wegen der Verletzung einen seiner Kollegen aus der Baubranche auf Schmerzensgeld und Schadenersatz verklagt hatte.

»Hallo Jacob«, rief der Dachdecker. Jacob ging die Namensliste in seinem Kopf durch, in der Hoffnung, den richtigen Eintrag zu finden. Sein Vater hatte ihm beigebracht, dass es die Produktivität steigerte, wenn man den Arbeitern Interesse entgegenbrachte. Und am Ende steigerte man dadurch seinen Gewinn. Die Philosophie von Warren Wells besagte, dass jeder Mensch eine Funktion in seinem Imperium erfüllte.

»Hallo Jungs«, sagte Jacob und schloss einfach alle in seine Begrüßung ein. Er sprach im heimischen Dialekt, wie ein Junge aus den südlichen Bergen. Als er jung war, hatte er diese Fähigkeit perfektioniert, obwohl es ihm nie so leicht gefallen war wie Joshua. »Schöner Nachmittag, nicht wahr?«

»Ja«, sagte der Mann mit der Armschlinge. »Wir haben dich in der Kirche vermisst.«

Der Dachdecker war im Kirchenchor. Vor seinem geistigen Auge musste Jacob ihn nur kurz rasieren, kämmen und in einen Anzug stecken, dann sah er ihn vor sich, wie er Loblieder auf den Herrn sang. Wie er sein Heim gegen ein Haus im Himmelreich tauscht, ein feste Burg ist unser Gott, würdig ist das Lamm, Gottes Gnad und Huld ist viel größer als die Sünde, wenn Friede mit Gott meine Seele durchdringt, alles will ich Jesus weihen. Auch das Blut. So viele Lieder von Städten, auf die das Feuer vom Himmel herabfiel, gläserne Meere mit Feuer vermengt, Ozeane voller Blut, der Tag des jüngsten Gerichts steht in der Dunkelheit geschrieben, finstere Wolken brauen sich am Himmel zusammen.

»Ich weiß«, sagte Jacob. »Mir hat's auch gefehlt.« Pfarrer Rose hatte ihn mehrmals im Krankenhaus besucht. Zuerst wollte Jacob nicht mit ihm reden, dann stellte er dem Priester die Frage, auf die es keine Antwort gab. Warum ließ Gott die Unschuldigen leiden? Als dann die Standardantwort kam, dass man Gott vertrauen müsse und dass alles in seinen gesegneten Händen lag, war Jacob so wütend geworden, dass er den alten Mann am liebsten erwürgt hätte. Er hatte ihn angeschrien und verflucht, bis die Schwester kam und Jacob eine Beruhigungsspritze verpasste. Als Jacob aus der dunklen Grotte wieder auftauchte, war der Pfarrer gegangen. Jacob wusste, dass Pfarrer Rose diesen Zwischenfall vor der Kirchgemeinde nicht erwähnt hatte. Wahrscheinlich hatte er die Gemeinde einfach ersucht, dafür zu beten, dass sich Jacob und Renee mit ihrem schweren Verlust abfinden können.

»Gott heilt die, die zerbrochenen Herzens sind«, sagte der Dachdecker.

Doch der Herr hatte zu viele Helfer, die ihn bei der Heilung unterstützten. Das war das Problem. Dr. Masutu, Rheinsfeldt, Pfarrer Rose – sie alle würden Jacob wieder auf die Beine helfen, komme was wolle. Wahrscheinlich brauchte Gott bald ein eigenes Wohngebiet, damit er all diese himmlischen Helfer unterbringen konnte. Auch die Immobilienwirtschaft folgte dem universell gültigen Gesetz von Angebot und Nachfrage. Stieg der Wert, konnten sich nur noch die Reichen ein Haus leisten.

»Es wird langsam wieder«, sagte Jacob zum Dachdecker. Seine Brust schmerzte und er hatte Durst.

»Furchtbar, wenn man sein Kind verliert.«

»Der Herr hat gegeben, der Herr hat genommen.« Jacob war sich gar nicht sicher, ob diese Worte wirklich so in der Bibel vorkamen. Vielleicht war es ja einfach wie mit den meisten religiösen Sprüchen: Man sagte sie so lange, bis sie ihre Bedeutung verloren und zum sinnentleerten Mantra wurden. Ein mündliches Zugeständnis von Hilflosigkeit und Resignation.

»So ist es«, sagte der Mann mit der Zigarette. Ein Windhauch kam auf und die amerikanische Flagge am Mast vor dem Rathaus flatterte laut. Eine Frau kam aus der Apotheke, sie trug eine orange-weiß gestreifte Medikamententüte. Auch sie war Mitglied des Kirchenchors, erinnerte sich Jacob. Ihr Gesicht war entstellt, als ob sie von einem Pferd getreten worden war. Sie nickte Jacob zu und stellte sich neben den Mann mit der Armschlinge.

»Wir beten für Sie, Mr. Wells«, sagte sie. »Für Sie und Ihre Frau.«

»Das kann nicht schaden«, sagte Jacob.

Nichts konnte mehr schaden. Er hatte eine neue Haut und sein Herz war emotional vernarbt. Weder Gebete noch Pfeile konnten es durchdringen. Er schaute auf sein Handgelenk, als ob er einen Termin hätte, sagte »Macht's gut« und ging schnell fort. Vorbei am Rathaus aus Backstein, in dessen Lobby ein Porträt seines Vaters hing. Neben dem Rathaus stand die Feuerwache. Von weitem sah er sein Spiegelbild in der Glastür – ein kränklicher Mann, krumm und gebeugt.

Die Tür flog auf und Davidson, die Feuerwehrchefin, kam heraus. Sie hatte ihren Gürtel viel zu eng geschnallt, so dass ihr Bauch gegen ihren Hosenbund drückte. Ihre kräftigen Oberarme pressten sich in ihr kurzärmeliges blaues Hemd. Unter ihren Achseln hatten sich dunkle Schweißflecken gebildet.

»Mr. Wells, ich habe schon die ganze Zeit versucht, Sie mal an die Angel zu kriegen«, sagte sie.

»Ich versuche auch die ganze Zeit, mich wieder einzukriegen.«

»Der Bericht von der Untersuchungsbehörde ist da. Ich war beim Brand direkt vor Ort, und mir ist nichts Ungewöhnliches aufgefallen. Aber wenn dabei ein Mensch ums Leben kommt, müssen wir genauer hinschauen. Die Abplatzungen und die Tiefe der verkohlten Überreste legen nahe, dass das Feuer in der Nähe der Schiebetür bei Ihrem Computer ausgebrochen ist.«

»Das hat mir meine Frau schon erzählt.«

»Dann war da noch die Frage, warum sich das Feuer so schnell ausbreiten konnte. Das Labor hat eine Gasanalyse gemacht, konnte jedoch keine Spuren eines Brandbeschleunigers finden. Wenn ein Haus in weniger als zwanzig Minuten komplett vernichtet wird, dann geht man in der Regel davon aus, etwas zu finden – eine leicht brennbare Flüssigkeit, Benzin oder ganz simpel die Spuren eines Streichholzes.«

»Sie reden von Brandstiftung.«

Davidson nickte beflissen. »Darum haben wir gefragt, ob Sie Feinde haben, Probleme auf Arbeit oder so etwas. Und dann war da ja noch die Autopsie …«

Jacob drehte sich um und schaute auf den Horizont, die geteerten Dächer, eine silbern schimmernde Antenne auf einem Hügel in der Ferne. Er wollte sich nicht vorstellen, wie Mattie kalt auf einem Edelstahltisch lag, mit schwarzer Haut, die von ihr abpellte wie von einem verkohlten Marshmallow, und wie Fremde mit scharfen Klingen in ihren verbrannten Organen herumstocherten.

Einfacher war es, sie sich als zwei Kilo Asche, Staub und Knochenstückchen in einer Keramikurne in Renees Wohnung vorzustellen. Sie war jetzt ein Teil des Himmels, versuchte er sich weiszumachen, dort oben im Himmelreich der Katholiken, wo man von festen Burgen und würdigen Lämmern singt.

»Es tut mir leid, Mr. Wells. Aber wir mussten untersuchen, ob in ihren Lungen tatsächlich Rauch nachzuweisen war.«

»Ich habe Ihnen doch erzählt, dass sie noch lebte, als ich zu ihr kam. Und ich konnte sie verdammt noch mal nicht retten!«

»Wir haben keinen Grund für irgendwelche Verdächtigungen. Die Untersuchung hat bestätigt, dass sie noch atmete, als das Feuer ausbrach. Manchmal versucht man, durch Brandstiftung einen Mord zu vertuschen, aber das funktioniert nicht. Manche Mörder glauben wohl, dass das Feuer ihre Sünden läutert.«

Jacob hätte die untersetzte Frau am liebsten bei den Schultern gepackt und sie gegen die Ziegelwand gedrückt. Sein linkes Augenlid zuckte und seine Lippen pressten sich an seine Zähne. Er zwang sich, tief durch den Mund einzuatmen, wie es die Selbsthilfeberater im Fernsehen vormachten. Die Luft war zum Schneiden dick, eine heiße Schlange, die seine Kehle hinabglitt, zerbrochenes Glas in seinen Lungen.

Kindesmord. Das war eine völlig andere Sache. Die Stimmung war vergiftet.

Davidson musterte ihn mit kalten Echsenaugen. »In meinem Bericht werde ich schreiben, dass es ein Unfall war. Unfallursache waren die Kabel. Es gab einen Kurzschluss in der Steckdose, vielleicht aufgrund einer Überspannung im Computer. Ein Funke flog auf das Papier neben dem Schreibtisch. Wahrscheinlich schmorte das Papier einige Minuten vor sich hin, bevor die Flammen ausbrachen. Daneben stand das Bücherregal, und das ganze Haus war fast komplett aus Holz gebaut – das erklärt die schnelle Ausbreitung.«

»Was ist mit den Brandmeldern?«

»Die Batterien waren leer. Der Kurzschluss, der den Brand ausgelöst hat, hat wahrscheinlich auch die Stromversorgung des Brandmelders lahmgelegt. Die Batterien stammten wahrscheinlich noch aus der Zeit, als das Gerät eingebaut wurde. Die meisten Leute denken nie daran, ihre Brandmelder zu überprüfen. Die kleine rote Testlampe ist ja immer an.«

»Das heißt also, dass Sie uns endlich glauben?«

»Hier geht es nicht um glauben oder nicht glauben«, sagte Davidson. »Es geht darum, nicht den geringsten Zweifel zuzulassen. Für uns alle.«

»Denken Sie vielleicht, dass ich Angst hatte, dass jemand mein Haus abfackeln würde? Dass jemand mich umbringen wollte und stattdessen Mattie erwischt hat?«

»Wir leben in einer brutalen Welt, Mr. Wells. Und dann ist da noch der unausweichliche Zufall, dass Ihr Haus für eine Million Dollar versichert war. Ihre Frau und Ihre Tochter waren bei Unfalltod ebenfalls mit einer Million versichert. Und Sie selbst mit fünf Millionen. Es hätte ein Acht-Millionen-Dollar-Feuer werden können.«

Jacob starrte in die bodenlosen Höhlen von Davidsons Augen. »Aber dann wäre niemand mehr dagewesen, der das Geld bekommt.«

»Irgendjemand hätte schon flugs auf der Matte gestanden, egal wie es ausgegangen wäre, glauben Sie nicht?«

»Und nun kommen wir zufällig in diesen Genuss.« Jacob leckte seine trockenen Mundwinkel. In der Feuerwache knarrte eine große Flügeltür und gab den Blick frei auf ein dunkles Loch. Die Aluminiumtüren öffneten sich quietschend und ruckelnd. Das Funkgerät an Davidsons Hüfte rauschte.

»Meine Frau kann den Brand nicht gelegt haben«, sagte Jacob. »Sie lag mit mir im Bett.«

»Als die ersten Feuerwehrleute kamen, stand sie draußen vor dem Haus.«

»Sie kennen Renee nicht.« Jacob kannte sie auch nicht.

»Ich bin darauf getrimmt, nach Beweisen zu suchen, Mr. Wells. Das ist nicht persönlich zu nehmen. Die Menschen tun verrückte Dinge, wenn's ums Geld geht. Auf jeden Fall ist sie besser davongekommen als Sie.«

Jacob schaute auf sein dreckiges Hemd. Am Ärmel fehlte ein Knopf. Die Knie an seinen Hosenbeinen waren abgewetzt, und die Spitzen seiner Schuhe klebten vor Schlamm. Er trug keine Socken. Selbst in seinen wildesten Studentenzeiten war er besser gekleidet gewesen als jetzt. Damals, als er manchmal auf irgendeiner unbekannten Couch aufwachte, mit pochenden Schläfen und verworrenen Erinnerungen wie in einem Opium-Traum.

»Sie war es nicht«, sagte er.

»Bleiben Sie ganz entspannt. Ich beziehe mich nur auf die Laborergebnisse. Aber wenn ich davon ausgehe, was ich gesehen und gehört habe, dann hat ihre Geschichte einfach keinen Halt.«

»Werden Sie sie bei der Polizei anzeigen?«

»Ich habe keine Beweise. Aber ich bin noch nicht fertig.«

Die Tür war jetzt vollständig geöffnet. Im silbernen Kühlergrill des Feuerwehrautos spiegelte sich die Nachmittagssonne. In der Feuerwache machte sich ein Mann mit gelber Gummihose daran, einen Schlauch zu entwirren. Der Verkehr wurde dichter. Jeder wollte vor fünf Uhr durch sein, um dem abendlichen Berufsverkehr zu entkommen. Ein Auto hupte, aber Jacob heftete seinen Blick fest auf Davidson.

»Sie hat ihr Kind verloren. Und was machen Sie? Schicken sie wieder durch die Hölle«, sagte Jacob. »Was sind Sie nur für ein Monster?«

»Ein hungriges, Mr. Wells. Denn ich gehe erst, wenn ich zufrieden bin.«

»Wir werden nur noch über unseren Anwalt mit Ihnen sprechen.«

»Das geht nur bei polizeilichen Befragungen. Ich bin offiziell befugt, die Brandursache zu ermitteln. Jenseits der Opfer und Versicherungen und persönlichen Sorgen. Mir geht es nur um die kalten, grauen Fakten.«

»Mögen Sie daran ersticken.«

»Die Polizei wird natürlich als Erste ein Exemplar meines Berichts bekommen.«

Jacob drehte sich um und stapfte den Gehweg hinunter. Seine Haut klebte kalt und feucht, und er war viel zu nüchtern. Die Fenster von Kingsboro spielten mit ihm. Sie zeigten ihm sein Spiegelbild und gaben dann wieder den Blick auf die Gesichter in den Geschäften frei. Er kam an einer Pfandleihe vorbei, im Schaufenster lagen Zimmermannswerkzeuge und alte Nintendo-Spiele. Dann kam ein Musikladen mit einem knallbunten Schild in Form einer Gitarre, dann ein Raumausstattergeschäft, das nach neuem Teppich roch. Fremde huschten an ihm vorbei, sie waren auf dem Weg zu Imbissstuben oder zu den Nachrichten im Fernsehen. Die meisten dieser Leute waren keine Alteingesessenen. Die Einheimischen vermieden die Innenstadt zur Rushhour. Sie standen früh auf und arbeiteten lange. Sie waren immun gegen den Krebs der Zeit.

Jacob bog um die Ecke und war froh, endlich nicht mehr Davidsons Blick auf seinem Rücken zu spüren. Renee würde so etwas nie tun. Dazu wäre sie einfach nicht in der Lage. Sie lag mit ihm im Bett, er war als Erster aufgewacht, er hatte den Rauch zuerst gerochen, er war als Erster bei Mattie. Selbst wenn Renee ihn hätte töten wollen, sie hätte niemals Matties Leben aufs Spiel gesetzt. Davidson hatte überhaupt keine Ahnung. Blöde Lesbe, die sich endlich mal einen Schwanz wünschte, jemanden, der es ihr richtig besorgte, wenn sie wieder mal einen der bösen Jungs von Kingsboro zur Strecke brachte.

Die Häuser wurden weniger, zwischen den Gebäuden lagen immer mehr leere Grundstücke und tote Gassen. Eine ehemalige Möbelfabrik, ein Opfer des steuerfreien Handels, duckte sich hinter den Absperrketten wie ein erlegtes Tier. Hinter der Fabrik lag ein Haufen brauner Dreck, zerfurcht von Wasser und Wind. Ein Immobilienprojekt, das weiter nach Süden gezogen war. Jacob lief schneller, der kühle Wind trocknete seinen Schweiß.

Er näherte sich gerade einer verlassenen Methodistenkirche, als er das wohlbekannte Rasseln der Killer-Rostlaube hörte. Der grüne Chevy mit den getönten Scheiben knatterte über den Parkplatz hinter ihm. Jacob bekam Panik und suchte nach einer Fluchtmöglichkeit. Er könnte umkehren und in das nächstgelegene Geschäft rennen. Es war ein Juwelier, der sich auf das Gravieren von Goldschmuck spezialisiert hatte. Doch irgendwie verlangten die Spielregeln dieses seltsamen Psycho-Showdowns, dass kein Fremder daran beteiligt sein durfte. Also rannte er auf das nächstliegende Grundstück und stieß sich dabei an der durchhängenden Absperrkette. Hier sollte ein neues Bankgebäude entstehen, ein weiterer Tempel der aufstrebenden Wirtschaft von Kingsboro.

Der Chevy gab Gas und legte die zwanzig Meter, die die beiden trennten, in Sekundenschnelle zurück. Die Reifen quietschten und knabberten am Gehweg, als der Fahrer einsehen musste, dass Jacob sich außerhalb der Reichweite seiner Stoßstange befand. Jacob versteckte sich zwischen einem Grabenbagger und einem Stapel Betonsteine. Der Chevy verließ den Parkplatz und fuhr auf die Baustelle. Ein paar Hilfsarbeiter aus Südamerika gossen gerade den Betonboden am anderen Ende des Gebäudes. Sie waren viel zu beschäftigt mit ihrem nassen Zement, um Jacob oder das Auto zu bemerken. Jacob duckte sich tief in den Schatten und wartete den nächsten Schachzug des Chevys ab. Der Wagen schoss vorwärts wie eine Katze, die eine Maus in die Enge getrieben hatte, geduldig und voll selbstbewusster Freude am Spiel.

Jacob maß mit den Augen die Entfernung zwischen seinem Versteck und der Stahlhülle des Gebäudes. Nein, er würde es niemals dorthin schaffen, bevor ihm der Chevy den Todesstoß versetzte. Zurück zum Parkplatz konnte er auch nicht rennen, ohne erwischt zu werden. Seine einzige Chance bestand darin, sich bis zum Ende des Grundstücks durchzuschlagen. Hier floss ein kleiner Bach hinter einer Reihe Strauchkiefern. Dort konnte ihn das Auto nicht kriegen – außer natürlich, es war eines dieser übernatürlichen Wesen, dem plötzlich Flügel wuchsen.

Er wühlte nach seinem Flachmann und zog ihn aus der Tasche. Evan Williams, sechsundachtzig Prozent. Seine Finger waren wie gefroren, seit er das Auto gehört hatte. Nun kämpften die tauben Finger mit dem Verschluss. Er schloss die Augen und ließ den Schnaps in seinen Magen laufen, wo er sich zu einer warmen Kugel formte.

Der Wagen stand ganz gelassen da und schnurrte wie ein riesiger Drache, der Asthma hat. Jacob wusste, dass er seine Beute niemals aufgeben würde. Selbst wenn er es bis zum Bach schaffen würde und in der Sicherheit des Unterholzes verschwand, würde ihn der Chevy wieder ausfindig machen. Jacob nahm noch einen tiefen Schluck, und die Wärme in seinem Inneren wuchs sich aus zu Wut und Frust. Welches Verhalten würde der Drache wohl am wenigsten von seinem Opfer erwarten?

Also stand er auf, schrie und rannte auf das Auto zu. Er riss die Schnapsflasche wie einen Streitkolben hoch in die Luft. Der Anblick, wie Jacob wie ein Selbstmordattentäter auf den Wagen zustürmte, muss den Fahrer wohl aus der Ruhe gebracht haben, denn anders als erwartet ließ dieser den Motor nicht voller Vorfreude auf die Schlacht aufheulen. Er griff nicht an und zog sich auch nicht zurück.

Jacob stand an der Fahrertür. Seine Finger umkrallten den Flaschenhals, der Schnaps tropfte heraus und lief an seinem Ärmel hinunter. Er hob die Flasche, um das Fenster einzuschlagen, doch dann sah er sein Spiegelbild in der getönten Scheibe. Er erkannte sich kaum wieder, so sehr hatte er sich während der letzten Wochen verändert. Angst und Wut verzerrten sein Gesicht. Ein irrer Fremder starrte ihn an, von seinen entblößten Zähnen tropfte Sabber, seine Haare hingen ihm wirr ins Gesicht, und um seine blutunterlaufenen Augen lagen dunkle Ringe. Er hielt in der Bewegung inne, Schock und Ekel stoppten ihn.

Der Fahrer ließ langsam die Scheibe herunter, und wieder einmal stand Jacob sich selbst gegenüber.

Dunkle Zeiten: Die ultimative Thriller-Collection
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