Kapitel 17

 

»Was ist los?«

»Schhh.« Ronnie presste seine Backe gegen das Brett, damit er durch das Astloch sehen konnte. Die Luft war voller Staub. Er fragte sich, was mit der Tamponade in seiner gebrochenen Nase passierte, wenn er niesen musste. Konnte er überhaupt niesen, wenn er nichts riechen konnte?

Dad stiefelte zurück zu seinem Ranger und ließ Mom und den Sheriff auf der Veranda stehen. Als Ronnie das Gewehr sah, stolperte sein Herz in seiner Brust. »Nein«, flüsterte er.

»Was?«, fragte Tim.

Dad ging ins Haus. Mom sagte dem Sheriff etwas, das Ronnie nicht hören konnte. Der Sheriff stieg in seinen Trooper und fuhr davon. Mom blickte sich um, dann ging sie auch ins Haus.

Ronnie trat zur Seite, damit Tim durch das Astloch sehen konnte. Tim stand auf einem umgedrehten Eimer, damit er auf Augenhöhe mit dem Loch war.

»Ich seh nichts«, sagte Tim.

»Sie sind im Haus.«

»Ist es schlimm?«

Tim ist nicht dumm. Er weiß, was los ist. Wahrscheinlich kommt jetzt der Teil, wo ich »mutiger großer Bruder« spielen muss.

Ronnie versuchte, lässig zu klingen: »Dad ist hier, oder? Wie schlimm kann es sein?«

»Ich hab Angst.«

»Jetzt ist Tag«, sagte Ronnie, obwohl ihn die Schatten, die staubigen Spinnweben und die knarzenden Bretter in der Scheune nervös machten. »Monster schnappen einen nicht bei Tageslicht.«

»Nein, ich meine, dass ich Angst um Mom und Dad habe.« Tim stieg vom Eimer und setzte sich auf einen Heuballen.

Ronnie starrte zu der Reihe von Holzboxen am anderen Ende der Scheune. Sie hielten keine Kühe mehr. Dad sagte, dass die Preise für Rindfleisch so niedrig waren, dass es billiger war, es im Supermarkt zu kaufen, als selber zu züchten. Ronnie vermisste beinahe, dass er sich um die Tiere kümmern durfte, sie für die Nacht hereinbringen und im Winter dafür sorgen musste, dass sie genügend Heu hatten. Dad und Ronnie hatten auch Kühe geschlachtet, sie an einer Kette aufgehängt und aufgeschnitten, woraufhin Dampf aus dem Inneren der Tiere entwich. Diesen Teil vermisste Ronnie nicht.

»Mom und Dad werden sich versöhnen«, sagte Ronnie. »Sie müssen.«

»Und was ist, wenn nicht? Was ist, wenn sie ihn wieder wütend macht und er geht? Wer wird uns dann beschützen?« Tims Unterlippe zitterte.

»Hör zu. Ich hab dich vor Whizzer gerettet, oder? Du musst mir vertrauen.«

»Ja, klar. Und du wirst fähig sein, das Glockenmonster zu verprügeln?«

Ronnie musste vom Staub husten. »Ich werde mir was ausdenken.«

»Und überhaupt, wie tötet man einen Geist? Dad hat ihn erschossen, aber ich weiß, dass er zurückkommen wird.«

Ronnie hatte sich selbst schon die gleiche Frage gestellt. Warum wollte ein Geist Menschen umbringen? Das ergab keinen Sinn. Wenn der Geist verrückt wäre, dann vielleicht, aber ein einfacher, gewöhnlicher Geist?

Was auch immer los war, die rote Kirche hatte Schuld. Er hatte Bücher über Geistererscheinungen gelesen. Angeblich konnten in den Wänden »übersinnliche Abdrücke« zurückbleiben, wenn eine Person großer Aufregung ausgesetzt war. Ronnies Meinung nach war das irgendwie dämlich, aber das Glockenmonster war real. Was, wenn es sich beim Glockenmonster um den Geist des Predigers handelte, der dort gehängt worden war? Bestimmt würde das Gefühl eines Stricks um den Hals für große Aufregung sorgen.

Aber dann würde alles, was jemals starb, einen Geist hinterlassen. Denn welches Lebewesen hatte im Laufe seines Lebens keine Aufregung gehabt? Eine Menge Kühe waren hier in der Mitte der Scheune mit einem Schuss ins Gehirn getötet worden, dann wurden sie in Teile geschnitten und ihre Innereien mit einer Schubkarre weggekarrt. Aber man sah hier nirgendwo Geisterkühe herumhängen.

Vielleicht wollte Gott die Seele des Predigers in den Himmel holen, hatte aber auf halbem Weg beschlossen, dass der Prediger zu böse war, um ins Paradies einziehen zu dürfen. Vielleicht wollte der Teufel den Prediger ebenso wenig, weil der Prediger zu viele Bibelverse kannte und sie den anderen Leuten in der Hölle aufsagen würde. Vielleicht würde der Prediger versuchen, Leute zu retten, die bereits zum ewigen Höllenfeuer verurteilt worden waren. Der Teufel würde auf keinen Fall zulassen, dass so etwas passierte. Und deshalb war der Prediger in der Mitte stecken geblieben und er tötete Menschen, weil er einsam war und sich ein paar Geister als Gesellschaft wünschte.

Das war bekloppt. Er dachte wie ein Drittklässler.

»Man muss einen Geist nicht töten«, verkündete Ronnie schließlich. »Er ist schon tot. Das Problem ist, dafür zu sorgen, dass er tot bleibt

»Und wie macht man das?«

»Indem man ihm gibt, was er will.«

Sie blickten sich gegenseitig an. »Was er will, ist uns töten«, sagte Tim.

»Ja.« Ronnie seufzte. »Ein richtiger Tritt in den Hintern.«

»Ich will nicht sterben.«

Ronnie wollte das auch nicht – egal wie oft ihm Prediger Staymore zu erklären versucht hatte, dass Gott einen besonderen Platz für Kinder hatte. Der Prediger hatte ihn auch mit dem Umstand bekannt gemacht, dass man Sünden des Herzens begehen konnte. Es war schon schlimm genug gewesen, dass man einer bösen Tat wegen aus dem großen goldenen Buch gestrichen wurde. Nun hatte er gelernt, dass ihn schon das Denken an Böses in die Hölle bringen würde.

Er hatte Jesus alle paar Wochen gebeten, in sein Herz einzuziehen, genau wie es Prediger Staymore wünschte. Wie lange blieb das Herz rein, nachdem Jesus es von den Sünden gereinigt hatte? Was passierte, wenn man starb, während man einen bösen Gedanken hatte, und es keine Zeit mehr gab, um Vergebung zu bitten? Die ganze Angelegenheit war aus Ronnies Sicht ziemlich riskant.

Und er hatte keine Eile damit, sich endgültige Gewissheit darüber zu verschaffen.

»Du wirst nicht sterben, Tim«, versprach Ronnie in der Hoffnung, dass er überzeugender klang, als er sich fühlte. Er wollte gerade noch etwas sagen, als der Schuss ertönte.

 

Das Holiday Inn lag an der einzigen zweispurigen Autobahn durch Pickett County, gleich neben der Ausfahrt Barkersville. Sheila Storie fuhr auf den Parkplatz. Er war fast völlig leer. Touristen waren rar zwischen der Skisaison und dem Sommer, wenn Leute aus Florida kamen, um der Hitze dort zu entfliehen, und New Yorker, um New York zu entkommen.

Archer McFalls Zimmer befand sich im Erdgeschoss, gleich hinter dem leeren Swimmingpool des Motels. Sein schwarzer Mercedes war vor 107 geparkt. Storie stellte ihren Streifenwagen daneben ab und stieg aus. Sie sah auf die Uhr und fragte sich, wie wohl der Sheriff vorankommen mochte. Dann warf sie einen Blick durch das Seitenfenster auf der Fahrerseite des Mercedes. Der Innenraum war tadellos. Sie klopfte an die Tür von 107.

Ein großer Mann antwortete auf ihr Klopfen. Er war attraktiv, sah aber auch aalglatt aus, so wie ein Anwalt in einer Fernsehserie. Er hatte ausgeprägte Wangenknochen und ein breites Gesicht, das frisch rasiert war. Er lächelte sie an.

»Archer McFall?«, fragte sie.

»Ja, mein Kind. Wie kann ich helfen?«

Die Art, wie er sie »Kind« nannte, irritierte Storie. Er konnte nicht viel mehr als zehn Jahre älter als sie sein, etwa so alt wie Frank. Er verbreitete den leichten Geruch eines Männerparfüms und noch einen anderen, beißenderen Geruch, den sie nicht einordnen konnte. Das Zimmer hinter ihm war dunkel, die Jalousien waren geschlossen.

»Ich bin Detective Sergeant Sheila Storie von der Polizei von Pickett County«, sagte sie, ohne sich die Mühe zu machen, ihr Abzeichen aus ihrer Jacke hervorzuholen.

McFall blinzelte, aber sein Lächeln blieb bestehen. »Es freut mich, Sie kennenzulernen, Ma’am. Ihr Sheriff und ich kennen uns seit langem.«

Seit wie lange?

Storie blickte in seine Augen und versuchte, in ihnen zu lesen. Sie verrieten nichts. »Ich habe mich gefragt, ob Sie mir ein paar Fragen beantworten würden.«

»Oh, über Mr. Houck.« Seine Augen wurden kälter, dunkler. »Dieser arme, unglückliche Mann. Ich hoffe, dass Sie seinen Mörder schon gefasst haben.«

»Nein, Sir, aber wir haben ein paar Spuren.«

»Das freut mich. Was für eine Art perverser Eingebung verleitet jemand dazu, so eine Tat auf geheiligtem Boden zu begehen?«

»Nun, Sir, zu dieser Zeit wurde die rote Kirche als Scheune genutzt.«

McFall lachte, ein tiefes Geräusch, das aus seinem Bauch kam und seinen ganzen Körper schüttelte. »Das stimmt. Ohne Gemeinde ist eine Kirche nicht gerade eine Kirche, oder? Ohne Menschen und das, an was sie glauben–«

»Hat man in Kalifornien an Sie geglaubt?«, fragte Storie. Sie bedachte ihn mit ihrem »Sonnenbrillen-Blick«, die Art von lässigem Starren, zu dem einige ihrer Kollegen nur fähig waren, wenn sie sich hinter getönten Brillengläsern verstecken konnten.

»Die Menschen in Whispering Pines bedürfen des Gottesdienstes ebenso sehr wie alle anderen.«

»So sehr, dass Sie dazu gebracht wurden, das lockere Leben in Kalifornien aufzugeben?«

»Aber, Detective«, sagte er und zupfte an seiner Krawatte. »Ich glaube wirklich, Sie verhören mich.«

»Nicht wirklich. Ich bin nur für einen kleinen Plausch vorbeigekommen.«

»In diesem Fall kommen Sie bitte herein.« Er präsentierte seine überkronten Zähne und öffnete die Tür vollständig.

Storie ging hinein. Das Bett war tadellos gemacht, von Kleidung oder Koffern keine Spur. Eine offene Bibel lag auf dem Nachttisch. McFall schloss die Tür und öffnete die Jalousie. Das Licht der Nachmittagssonne fiel in Streifen in das Zimmer.

Sie setzte sich auf den Stuhl am Schreibtisch. McFall nahm am Rand des Betts Platz und sah aus, als ob er sich unbehaglich fühlte. »Also, warum sind Sie zurückgekommen?«

»Ich komme aus den Bergen. Mein Herz war immer hier zu Hause. Meine Mutter lebt noch in Whispering Pines, in einem kleinen Farmhaus am Fuß des Buckhorn Mountain.«

Storie nickte ihm zu, um ihn dazu zu ermutigen fortzufahren.

»Ich habe meine Berufung als Kind gespürt«, sagte er. »Wie Sie vielleicht wissen, besteht in meiner Familie eine lange Tradition, Gott zu dienen und die heilige Lehre zu verkünden. Bereits als Kind wusste ich schon, dass ich einmal ein Prediger werden würde.«

»Wie Ihr Ururgroßvater?«

McFall blickte aus dem Fenster, sein Unterkiefer zuckte. »Wendell McFall war ein unerquicklicher Zweig am Stammbaum der Familie. Trotzdem glaube ich aber nicht, dass er es verdient hatte, erhängt zu werden. Sie etwa?«

»Ich weiß nichts über ihn außer der Legende.«

»Oh, die sogenannte ›Gespenstergeschichte‹. Ich versichere Ihnen, dass der einzige Geist in der Kirche der Heilige Geist ist. Ich sollte es wissen. Ich habe als Jugendlicher viel Zeit dort verbracht und zu Gott gebetet, damit er mir den Weg weist.«

Storie rutschte auf ihrem Stuhl herum. »Erzählen Sie mir über Kalifornien.«

»Ich dachte, dass ich dort eine Kirche gründen könnte. Ein paar der Mädchen von hier sind mit mir gegangen. Wir waren eine gute Gemeinschaft, ohne einen sündigen Gedanken, mit Herzen, die so rein waren wie die Sonne. Wir wollten eine Kommune gründen und ein einfaches, asketisches Leben führen.«

»Sieben Mädchen sind mit Ihnen gegangen, habe ich gehört.« Storie hatte Nachforschungen angestellt. Von den sieben hatte man nur von Linda Gregg, nunmehr Linda Day, jemals wieder etwas gehört.

»Als wir dort ankamen, sind die meisten der Mädchen nach Los Angeles und San Francisco weitergezogen. Ich vermute, das Großstadtleben war verlockender als ein Leben, das dem Dienst an Gott gewidmet ist.«

»Und warum ist Ihre Kirche dort gescheitert?«

McFall lächelte sie an. »Sie ist nicht gescheitert. Der Tempel der Zwei Sonnen gedieh, dank der Hilfe Gottes. Ich hatte eine Fernsehsendung, mit der ich Tausende erreichte. Ich gründete einen Musikladen, einen religiösen Buchladen und andere Geschäfte. Aber trotz des Erfolgs und obwohl ich die Menschen berührte, fühlte ich eine Leere in meinem Herzen. Ich betete um Rechtleitung und Gott wies mich an, heimzukehren. Und nun bin ich hier.«

Storie beobachtete sein Gesicht aufmerksam. »Wenn Sie mir erlauben, das zu sagen, der Tempel der Zwei Sonnen ist ein ungewöhnlicher Name für eine Kirche, die von jemandem gegründet wurde, der aus dem Bibelgürtel stammt.«

»Viele Wege führen zu Gott. Der wahre Weg ist der, seinem Herzen zu folgen. Mein Herz sagt mir, dass das, was ich tue, richtig ist.«

»Zu welcher Konfession gehört Ihre Religion?«

»Zum Christentum, in gewisser Hinsicht. Natürlich haben jede Sekte und jeder Orden ihre persönlichen Merkmale. ›Zwei Sonnen‹ bezieht sich auf den Gedanken, dass Gott ein zweites Licht in die Welt schickt. Das ist eines von Gottes Versprechen, wissen Sie.«

»Sie haben nicht lange gebraucht, bis Sie hier eine Kirche am Laufen hatten«, sagte sie.

»Ich hatte das Glück, dass mich Lester Matheson das Objekt kaufen ließ und ich es wieder zum Besitz der Familie machen konnte. Und die Menschen von Whispering Pines öffneten ihre Herzen und hießen mich in ihrer Gemeinschaft willkommen.«

»Sie müssen zugeben, es ist ein seltsamer Zufall, dass die Morde genau zu dem Zeitpunkt anfingen, als Sie in die Gegend zurückkamen.«

»Ich bin gekommen, weil Gott mich gerufen hat.« Er beugte sich vor. »Er ruft uns alle. Er bittet darum, in unsere Herzen einziehen zu dürfen. Ist er in Ihrem?«

Storie rutschte auf ihrem Stuhl hin und her. »Das ist nicht wichtig.«

Sein Mund verzog sich. »Es ist die einzige Sache, die wichtig ist. Was ist in Ihrem Herzen?«

»Hören Sie, Mr. McFall–«

»Was ist in Ihrem Herzen?« Seine Augen waren hell, fiebrig.

Storie stand auf und ging zur Tür. Eine Hand senkte sich auf ihre Schulter. Sie schnellte herum und nahm instinktiv die Judo-Verteidigungsstellung ein, die sie auf der Polizeischule gelernt hatte. Für eine lange Sekunde erstarrten ihre Muskeln.

Sein GESICHT.

McFalls Kinn verlängerte sich und zwischen seinen weit geöffneten schwarzen Lippen wurden seine Zähne spitzer. Seine Augen waren so animalisch, so funkelnd gelb, dass sie vor seinem Gesicht zu schweben schienen. Seine Nase hob sich, als ob er knurren wollte.

Genauso plötzlich verschwand die Illusion wieder. McFall stand vor ihr und hatte die Hände entschuldigend gehoben. »Ich wollte dich nicht erschrecken, mein Kind«, sagte er mit ruhiger Stimme.

Großartig. Als ob das Sehen von Blutflecken und Seilen, die nicht existieren, nicht schon schlimm genug wäre, bilde ich mir nun auch noch ein...

Sie legte die Hand auf die Stirn. Stress, das war die Ursache. Drei Morde aufzuklären, bevor noch mehr Menschen starben. Ihre Menschen, diejenigen, die sie zu unterstützen und zu schützen geschworen hatte.

»Was bereitet Ihnen Sorgen, Detective?«

Seine Stimme beruhigte sie. Sie hatte plötzlich den Drang, sich diesem Mann, der ruhig durch die Probleme und Sorgen des Lebens ging, zu überantworten. Er war wie die Sonne auf der glatten Oberfläche eines Sees. Sein Gleichmut strömte in beinahe schon greifbaren Wellen von ihm aus.

»Es ist nichts, Pastor. Absolut nichts.«

»Sie müssen es nicht in Ihrem Innern verbergen«, sagte er und kam einen Schritt näher. Sie wich zur Tür zurück.

»Überlassen Sie Ihre Sorgen einer höheren Macht«, fuhr er mit seiner sanften, bestimmten Stimme fort. »Öffnen Sie Ihr Herz und vertrauen Sie Gott.«

Das hörte sich wie eine gute Idee an. Und in dem Moment, als ihr klar wurde, dass es sich wie eine gute Idee anhörte, leuchtete in ihrem Hirn ein Warnsignal auf.

Moment mal. Ich vertraue NIEMANDEM, schon  gar nicht einem Mann, der auf der Liste von Verdächtigen für eine Serie von drei Morden steht.

Aber sein Ton hatte irgendetwas, ebenso wie die Sanftheit und die Besorgnis in seinen dunklen Augen. Er war nahe genug, dass sie seinen nach Mundwasser mit Minzgeschmack riechenden Atem wahrnehmen konnte. Für einen Augenblick dachte sie, dass er sich vorbeugen und sie küssen würde, und das Schlimmste daran war, dass sie nicht dachte, dass sie in stoppen würde.

Stattdessen sagte er: »Hab keine Angst. Öffne dein Herz. Glaube.«

Sie blickte in seine Augen und ihre Haut prickelte mit sanfter Elektrizität. So viel Wärme, so viel Versprechen, so viel Frieden strahlte aus ihnen. So viel Menschlichkeit.

Oh ja. Sie hatte Vertrauen. Sie glaubte. Ihr Herz fühlte sich angeschwollen und warm in ihrer Brust an, wie ein Ballon an einem Sommertag.

Ich glaube. Sag mir nur, WAS ich glauben soll.

Das war Wahnsinn. Sie hätte Verstärkung anfordern sollen, der Einsatzzentrale melden sollen, wo sie hinfuhr. Der einzige Mensch, der wusste, was sie machte, war Frank. Sie versuchte, sich sein Gesicht vorzustellen, aber alles, was sie sehen konnte, war das goldene Licht, das Archer ausstrahlte.

Er berührte ihr Gesicht. Seine Finger waren heiß. Sie konnte den Blick nicht von seinen Augen abwenden, obwohl ein Teil von ihr sich übergeben, ihn schlagen, das Lächeln aus seinem Gesicht kratzen wollte.

»Der Glaube hat seinen Preis«, sagte er. »Alles was du tun musst, ist, mir alles zu geben. Aber der Lohn ist ebenfalls groß. Das Königreich des Himmels kann dir gehören, mit der ganzen Welt und mehr.«

Sie würde geben und geben und geben. Nein, das würde sie nicht. Sie diente nur den Steuerzahlern und gesetzestreuen Bürgern. Sie–

»Die Gemeinde muss ihr Abendmahl haben«, sagte er. »Ein Brot, ein Leib. Und Opfer sind die Währung Gottes. Alles, was ich von dir möchte, ist, dass du dienst.«

Sie nickte. Das konnte sie tun. Der Glaube verlangte gewisse Opfer, aber der Lohn war ewig, oder nicht?

»Bitte«, sagte sie und sank auf die Knie. Sie blickte hoch in dieses glückselige Gesicht. »Lass mich dienen.«

Er bedachte sie mit einem gütigen Nicken. »Du gehörst nicht zu den alten Familien. Aber du arbeitest gegen die Ziele Gottes.«

Ich habe versagt. Ich bin unwürdig. Ich verdiene Bestrafung.

Was konnte sie anbieten, das ihre Sünden aufwiegen würde? Was hatte sie? Sie konnte ihre Seele anbieten, aber die war fast wertlos. Sie hatte ihren Körper. Sie konnte ihn opfern und vielleicht so den Gott besänftigen, den sie so herzlos während ihres gesamten Lebens ignoriert hatte.

»Nimm mich«, sagte sie mit heiserer Stimme und feuchten Augen. Die Herrlichkeit Gottes war so ungeheuer groß. Und ebenso groß war die Herrlichkeit von Archer McFall. »Gebrauche mich auf jede Art, die dir von Nutzen ist.«

Archer warf den Kopf zurück, als ob er mit Gott kommunizieren würde und einem göttlichen Befehl lauschte, der ihr Schicksal bestimmen würde. Er kniete sich plötzlich hin und richtete sie auf, indem er sie an den Schulterstücken ihrer Jacke packte. Dann wischte er die Tränen aus ihren Augenwinkeln.

»Weine nicht, mein Kind«, sagte er.

Sie lächelte ihn an. Wie konnte sie die Glückseligkeit verbergen, die sie erfüllte und die überquoll, die Freude und Verzückung, die er ihr hatte zuteilwerden lassen?

Er zog sie von der Tür weg. »Erzähle niemandem davon. Heute Nacht wirst du dienen und dir deinen Platz im Schoß Gottes erwerben.

Oh, Herrlichkeit. Oh, wie gnädig ist Gott in seiner Weisheit! Sie würde das Opfer bringen, um sich ihren Platz zu verdienen, um Archer zu erfreuen, um für die Sünde des Stolzes zu bezahlen, die ihr Leben geprägt hatte.

»Komm heute Nacht zur Kirche«, sagte er, dann drehte er sich um, ging durch das Zimmer und setzte sich wieder auf das Bett.

Er brachte seine Krawatte in Ordnung und faltete sanft die Hände im Schoß, als es an der Tür klopfte.

»Würdest du bitte öffnen?«, sagte Archer.

Storie drehte sich um und mühte sich in ihrem Eifer zu dienen mit dem Türknauf ab. Sie öffnete die Tür, und Frank Littlefield stand vor ihr. Er hatte die Faust erhoben, bereit dazu, noch einmal zu klopfen.-

»Hi, Detective«, sagte Frank ohne jegliche Überraschung in seiner Stimme.

Sie blinzelte aufgrund des plötzlichen Überfalls von Sonnenlicht und war über sein Endringen in ihre geistige Gemeinschaft mit Archer verärgert. »Was machen Sie hier?«, fragte sie.

Er blickte an ihr vorbei zum Pastor. »Ich bin auf der Suche nach Antworten gekommen, genau wie Sie.«

»Kommen Sie herein, Sheriff. Wir haben Sie erwartet«, sagte McFall.

 

David senkte das Gewehr und lächelte.

Die Haustür wurde aufgerissen und David dachte, dass der Sheriff zurückgekehrt war, um sich an ihn heranzuschleichen und ihn zu überraschen. Er schwenkte das Gewehr zur Tür, den Finger fest auf dem Abzug. Ronnie stand in der Tür, Tim klein hinter ihm.

David schnupperte den behaglichen Geruch von Pulverdampf. Linda lag mit dem Kopf nach unten auf dem Wohnzimmerboden. Tim rannte zu ihr, kniete nieder, berührte ihre Haare und murmelte immer wieder »Mami«. Ronnie starrte David an. Seine Augen waren vom Schock aufgerissen, sein Gesicht war blass.

»Hast du ... hast du sie erschossen?«, fragte Ronnie.

David lehnte das Gewehr an den Couchtisch. »So verrückt bin ich nun auch wieder nicht.«

Linda stöhnte und Tim half ihr, sich aufzusetzen.

Ronnie ballte die Hände zu Fäusten, eine Träne lief an seiner Wange hinab. »Was zur Hölle ist los, Dad?«, sagte er, von Schluchzern geschüttelt. »Warum willst du sie umbringen?«

»Ich bin nicht derjenige, der sie umbringen will«, antwortete er, während er auf seine Frau hinabblickte. »Das will dieser verdammte Archer McFall.«

»Archer McFall ist ein Prediger. Prediger gehören zu den guten Menschen.«

»Du solltest nicht alles glauben, was sie dir in der Sonntagsschule erzählen, mein Sohn.«

»Du machst mir Angst, Dad. Du hast selbst gesagt, dass eine Familie in schweren Zeiten zusammenhalten muss.« Ronnie half Tim, Linda gegen den Lehnstuhl zu stützen. Sie hatte eine Beule über einem Auge. Ronnie blickte darauf und starrte dann David wütend an.

Er sieht so verdammt wie seine Mutter aus.

»Ich habe sie nicht angerührt«, sagte er. »Sie ist gestürzt, als ich auf das verdammte Ding geschossen hab.«

Er deutete auf das kleine Symbol, das an der Wand hing, das Anch-Kreuz, das Linda aus ihrer Zeit in Kalifornien aufgehoben hatte. Sie hatte David gesagt, dass sie es weggeworfen habe, dass all der Unsinn vorüber sei. Nun, die Haken des Teufels sanken tief. Ein kleiner Hauch von Schwefel war alles, was man benötigte, um die Glut im Herzen eines Sünders wieder zu entfachen.

Die Kugel war in die Mitte des falschen Kreuzes eingedrungen. Durch den Einschlag hatten sich die Arme nach vorne gebogen. Gipspulver rieselte aus dem Loch in der Gipskartonwand. David nickte befriedigt über seinen guten Schuss.

»Die Hölle ist ihr aus Kalifornien hierher gefolgt.«

»Kalifornien?«, sagte Ronnie. »Sie war nie in Kalifornien.«

David wischte sich den Schweiß von der Stirn. Vielleicht blieben manche Geheimnisse besser im Verborgenen.

»Bist du okay, Mami?« Tim klang wie ein Vierjähriger.

»Ja, Liebling«, sagte sie. Sie wischte sich das Haar aus dem Gesicht und blickte David mit bösen Augen an. »Große Prüfungen werden kommen, aber wir werden unseren Weg weitergehen.«

David wurde von erneuter Wut gepackt. Soweit hatte Archer seine Familie also getrieben. Linda war bereit dazu, alles aufzugeben, was sie besaß, einschließlich ihres eigenen Fleisch und Bluts. Tim wusste nicht, welchem seiner Elternteile er vertrauen sollte. Ronnie lernte zu früh, dass die Welt ein beschissener und gnadenloser Ort war. Und er selbst fragte sich, ob der Glaube genügte, ob er es allein mit dem Teufel aufnehmen konnte, der sich als Lamm verkleidet hatte.

Nein, ich werde nicht allein sein. Ich habe Gott und Jesus und ein Gewehr und alles, das rechtens ist, auf meiner Seite. Sicher wird das ausreichen. Ich bete zu Gott, dass es ausreichen wird.

»Was werden wir tun, Dad?« Ronnie sah erbärmlich aus, seine Augen rot und feucht, seine geschwollene Nase ein blutunterlaufenes Violett.

»Es ist höchste Zeit für eine Reinigung«, sagte Linda mit geistesabwesender Stimme. Sie bewegte sich vor und zurück, so als ob sie einer unhörbaren Radiostation mit Gospelmusik lauschte.

David sah aus der offenen Haustür. Dunkle Berge drängten sich am Horizont zusammen und kauerten vor der untergehenden Sonne. Sogar die Bäume schienen die hereinbrechende Nacht zu fürchten. Die Schatten hielten ihren Atem an und warteten darauf, im Schutz der Dunkelheit eine Armee von Monstern auszusenden.

Lindas Augen richteten sich auf einen hohen Punkt hinter der Wand. Tim und Ronnie blickten David erwartungsvoll und ängstlich an.

Vielleicht war es wirklich höchste Zeit für eine Reinigung.

»Wir werden das Ding besiegen«, sagte er mehr zu sich selbst als zu den Jungs.

»Wie tötet man einen Geist?«, fragte Tim.

David rieb die Bartstoppeln an seinem Kinn. »Zur Hölle, wenn ich das wüsste, Tim.«

»Ronnie sagt, dass der Trick ist, dass man schaffen muss, dass er tot bleibt. Indem man ihm gibt, was er will.«

»Vielleicht. Wir müssen einfach auf den Herrn vertrauen.«

»Auf den Herrn«, sagte Linda spöttisch. Sie erstarrte und verzog ihre Gesichtszüge. Sie glich der Greisengesicht-Fledermaus, die David eines Morgens tot in der Scheune gefunden hatte. Die alte Linda, die hübsche Ehefrau, liebende Mutter und gute, die Sünde verabscheuende Christin, war ebenso tot wie Donna Gregg.

David wusste, dass Linda gerettet worden war. Er hatte mit ihr am Fuß der Kanzel gekniet und ihre Hand gehalten, als sie unter Tränen ihr Herz für Jesus geöffnet hatte. Wenn Jesus einmal darin war, gehörte er für immer hinein. Oder war die Errettung ein Vorrecht, das er einem entziehen konnte, ebenso wie einem das Gericht den Führerschein nahm, wenn man betrunken Auto fuhr?

Darüber nachzudenken brachte ihm Kopfschmerzen ein. Das war Gottes Sache und es stand David nicht zu, sich darüber Sorgen zu machen. Seine Aufgabe war, die Unschuldigen zu schützen. Die Schuldigen sollten ruhig in der Hölle landen.

»Verschwinde«, sagte er zu Linda, wobei er versuchte, nicht laut zu werden.

Sie hob ihr Gesicht. Ihre Augen waren wie die eines wilden Tiers. Die Jungs hatten identische Masken des Entsetzens auf ihren Gesichtern.

»Verschwinde«, sagte David entschiedener. Er packte sein Gewehr. »Geh zur roten Kirche oder in Archer McFalls Bett oder direkt in die Hölle, wenn du willst. Nur halte dich von den Jungs fern.«

Linda zitterte, als sie stand.

»Tu ihr nicht weh, Daddy«, schrie Tim.

David fühlte, wie sich ein Lächeln auf seinem Gesicht ausbreitete, und ein kalter Schauer lief ihm den Rücken hinunter. Ihm wurde schlecht von der Erkenntnis, dass er die Situation genoss. Ein Christ sollte die Sünde hassen, aber den Sünder lieben. Ein Mann sollte seine Ehefrau ehren. Die erste Lektion Gottes war, dass man Vergehen vergeben sollte.

Aber Gott wusste auch, dass das menschliche Herz schwach war.

David zielte mit dem Gewehr auf sie.

Tim sprang zu Linda und umarmte sie, sein Gesicht fest an ihre Brust gepresst. »Geh nicht, Mami«, bettelte er.

David deutete mit dem Gewehrlauf zur Tür. Linda warf ihm einen bösen Blick zu, dann beugte sie sich nieder und küsste Tim auf den Kopf. »Schhh, Kleiner. Alles wird gut.«

Sie nahm sanft Tims Arme von ihrer Hüfte. Ihre blaue Bluse hatte dunkle Flecken von Tims Tränen. Sie fuhr mit den Fingern durch Ronnies Haar und lächelte ihn an. »Pass gut auf deinen Bruder auf, okay?«

Ronnie nickte. Linda nahm das deformierte Kreuz von der Wand und schloss ihre Finger fest darum. An der Tür blieb sie stehen. »Heute Nacht ist es soweit«, sagte sie zu David.

Er schluckte mühsam. Er wollte ihr sagen, dass er sie noch immer liebte, trotz allem. Aber er konnte nur wie betäubt starren, seine Finger wie Holz an dem Gewehr.

»Möge Gott uns beistehen«, flüsterte er, als sie sich in den Schleier des Zwielichts entfernte. Sein Gebet schmeckte nach getrocknetem Blut und Asche.

Dunkle Zeiten: Die ultimative Thriller-Collection
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