14

 

Trotz des unsicheren Gefühls und der lähmenden Wirkung der Panikattacke war Julia beinahe außer sich vor Aufregung. Was würde Mitchell wohl denken, wenn er wüsste, dass sie in das Haus eingebrochen war? Mitchell arbeitete vorwiegend auf dem Gebiet des Eigentumsgesetzes und wusste, wie er die Vorschriften zugunsten seiner Klienten auslegen konnte. Er war jedoch sehr gesetzestreu, wenn es um Eigentumsrechte ging. Ein leer stehendes Haus besuchen, das zum Verkauf ausgeschrieben war, mochte noch angehen, aber durch ein Fenster kriechen, war etwas ganz anderes.

Der Boden knarrte unter ihren Füßen. Die Tür war noch dieselbe, nur der Türknauf war nicht länger auf Augenhöhe. Sie legte die Hand auf die Klinke –

Die Stimmen.

Im Wohnzimmer sprach Vati mit dem Mann, den er Lucius nannte.

Ihr stockte der Atem, genau wie damals, als sie vier Jahre alt war. Sie stieß die Tür auf, die Angeln quietschten und sie erwartete, dass die Menschen mit den Kapuzen um ihren Vater herum standen. Dieses Mal sah sie jedoch bloß das trübe Licht der Sonne auf dem abgenutzten beigen Teppich.

Julia ging am dunklen Badezimmer vorbei zum anderen Zimmer. Vatis Schlafzimmer.

Sie konnte Dr. Forrests Andeutung nicht vergessen, dass ihr Vater sie als Kind dorthin gebracht und sie auf eine unlautere Weise berührt hätte. Julia fühlte dort jedoch nichts Schlechtes, sie spürte nicht die atemberaubende Scham, die sie bei den von ihrer Therapeutin hervorgerufenen Szenen in ihrem Büro durchlebt hatte. Trotzdem überkam sie beim Betreten des Zimmers ein leichtes Schaudern.

Es war genauso leer wie ihr eigenes früheres Zimmer. Keine Abdeckungen über den Wandsteckdosen und Stücke der Gipswände fehlten. Die Deckenlampe hing an zwei Drähten und die Vorhangstange war heruntergerissen und stand in einer Ecke.

Julia ging zum kleinen Kleiderschrank, der so dunkel war wie die Nacht. Auf beiden Seiten des begehbaren Schranks standen Regale und an der Stange hingen drei rostige Kleiderbügel.

Keine Skelette.

Sie wollte soeben das Zimmer verlassen, als sie versehentlich an eines der unteren Regalbretter stieß. Es klapperte auf den hölzernen Klammern. Julia schob ihre Schuhspitze unter das Brett und hob es an. Es löste sich leicht und Julia sah eine schmale Spalte in den Holzdielen darunter. Etwas – eine Erinnerung oder ein Déjà-vu oder Traumfragment – ließ sie zögern.

Sie kniete nieder und strich mit dem Finger entlang des rauen Einschnitts. Das Brett in der Holzdiele war lose. Als sie darauf klopfte, klang es hohl. Sie nahm die Spange aus dem Haar und verwendete sie als ein kleines Stemmeisen, mit dem sie eines der Bretter so weit löste, dass sie es mit den Fingern anheben konnte. Eine kühle Brise wehte ihr aus dem Spalt im Boden entgegen.

Sie entfernte drei weitere Bretter, die etwa dreißig Zentimeter lang waren. Das Isoliermaterial war beiseitegeschoben. Ihr Herz klopfte laut. Sie griff in den Zwischenraum und hoffte, dass keine Spinnen im Dunkeln auf sie warteten. Sie streckte den Arm bis zum Ellbogen in die Öffnung, bis sie auf trockene Erde stieß.

Julia griff mit den Fingern in der Öffnung umher und kratzte an der Wand des Fundaments. Dann stocherte sie in der staubigen Erde umher. Sie hörte wie hinter ihr im Kinderzimmer das Fenster aufgeschoben wurde.

„Julia?“ rief Mitchell. Seine Stimme hallte im leeren Haus wider.

Sie wühlte schnell in der Erde, während Spinnengewebe an ihren Unterarmen hingen. Ihre Hand glitt über eine scharfe Kante. Sie grub um das Ding herum und warf einen Blick hinter sich, als sie es mit den Fingern befreite. Es war eine kleine Schachtel. Sie hob sie hoch und wischte die Erde vom Deckel weg.

Die Schachtel war aus weichem Zedernholz gefertigt und auf dem Deckel war ein eigenartiges Symbol eingeschnitzt. Julia fuhr die Form mit dem Finger nach. Ein Stern?

„Julia!“ Mitchell rief lauter. „Bist du im Haus?“

Sie glaubte nicht, dass er durchs Fenster klettern würde. Seine strikten Ansichten in punkto widerrechtlichen Betretens und seine Liebe zu seinem Anzug würden dies verhindern. Mitchell würde jedoch nicht aufgeben. Er musste gesehen haben, wie sie hinter dem Haus verschwand. Sie wusste nicht, ob sie die Aufregung über ihren Fund vor ihm geheim halten konnte. Vielleicht hatte diese Schachtel ihrem Vater gehört.

„Was zum Teufel machst du dort?“, schrie Mitchell.

Julia schaute in den dunklen Kriechkeller hinunter und wunderte sich, ob dort wohl noch andere Geheimnisse in der Erde vergraben waren. Sie dachte an ihre Träume von den Knochen. Erinnerte sich der Körper wirklich an Dinge, die das Gehirn zu vergessen versuchte?

Sie erhob sich und ging ins Wohnzimmer zurück und ließ die kleine Schachtel in ihrer Hosentasche verschwinden. Sie hielt die Hände in den Taschen, um die Wölbung zu verbergen. Mitchell würde sie womöglich des Diebstahls bezichtigen, wenn er die Schachtel sähe, und wenn sie ihm zu erklären versuchte, dass sie ihr gehörte, müsste sie womöglich mit ihm ihre Vergangenheit durchgehen. Es war einfacher, sich verrückt zu stellen. Sie ließ die Schultern sinken und versuchte, müde, erschöpft und desorientiert auszusehen. Es war keine schwierige Aufgabe.

Mitchell hielt das Fenster hoch, als sie ihr altes Schlafzimmer betrat. Sein Mund verzog sich zu einer dünnen Linie. „Bist du eigentlich übergeschnappt?“, sagte er, ohne eine Spur Zuneigung in seiner Stimme. „Willst du, dass ich in einen Fall von widerrechtlichem Betreten verwickelt werde? Was glaubst du, wie das meinen Ruf ruinieren würde?“

Dein Ruf besteht aus Edelstahl, Mitchell. Kalt und glänzend und unverwüstlich. Genau wie dein Herz.

Sie lächelte schwach und schaute zu Boden. „Ich wollte nur das Haus sehen.“

Mitchell seufzte. „Komm schon, komm heraus, bevor dich jemand sieht.“

Sie kletterte durch das Fenster, während Mitchell es offen hielt. Die Schachtel rutschte nach oben, aber es gelang ihr, sie wieder zu verbergen.

„Deine Haare sehen furchtbar aus“, sagte Mitchell. Er ließ das Fenster nach unten gleiten und rieb sich die Hände sauber. „Ich hoffe, dass sie nicht nach Fingerabdrücken suchen.“

„Ich habe alles so gelassen, wie es war“, sagte sie. Sie hoffte, dass Mitchell sie nicht anstarren und die Schachtel sehen würde. Sie brauchte sich jedoch nicht zu sorgen. Mitchell hatte sie schon seit langem nicht mehr richtig angeschaut, jedenfalls nicht um herauszufinden, wer sie wirklich war. Mitchell sah nur die Julia, die er sehen wollte, die perfekte Ergänzung zu seiner eigenen Perfektion, ein Spiegel, der sein Selbstbildnis auf positive Weise reflektierte.

Sie stieg in den Wagen und ließ die Schachtel in ihre Handtasche gleiten, bevor Mitchell die Fahrerseite des Autos erreicht hatte. Sie warf einen letzten Blick auf die Scheune und zitterte beim Gedanken an ihre Panik. Sie schloss die Augen, als Mitchell rückwärts aus der Einfahrt fuhr. Sie sprachen kein Wort auf dem Rückweg. Als sie die Stadt erreichten, schaltete Mitchell das Radio ein und wählte einen traditionellen Popsender. Die ernste, fade Ausdrucksweise der Sänger war beinahe so endlos wie Mitchells stoische Stille.

Als Carrie Underwood eine musikalische Liebesmahlzeit servierte, als ob es eine gefrorene Pizza wäre, sprach Julia endlich.

„Es tut mir leid, dass ich mich komisch benommen habe. Du hättest mich aber nicht anschreien sollen, Mitchell. Ich hätte dich gebraucht.“

Es war starker Verkehr und Mitchell warf ihr nur einen kurzen, kalten Blick zu, bevor er sich erneut auf die Fahrzeuge vor ihm konzentrierte. „Brauchen? Und meine Bedürfnisse?“

„Was ist damit?“

„Du rufst mich an und sagst mir, dass du nach Memphis kommst. Und das erste, woran ich denke, ist, dass wir uns eine schöne Zeit machen, dass wir uns wieder näher kommen, uns auf all die Dinge besinnen, die wir miteinander teilen. Und Gott bewahre, vielleicht sogar die Nacht miteinander verbringen. Und dann kommst du an und beachtest mich kaum. Es dreht sich alles immer nur um dich, nicht wahr?“

Julia wusste keine Antwort. Obwohl sie innerlich brannte, musste sie zugeben, dass er Recht hatte. Wenn Mitchell nur verstehen könnte, dass sie nun einen Verbündeten brauchte und keinen Liebhaber. Sie hasste sich dafür, dass sie ihn nicht erreichen konnte, dass sie ihm so wenig zu bieten hatte. Selbst Gott hatte keinen Gebrauch für sie.

„Glaubst du denn, dass es einfach ist, sechs Monate lang ohne Sex zu leben?“ fuhr Mitchell fort. Seine Hände umklammerten das Steuerrad. „Wenn du dich aus religiösen Gründen zurückhalten würdest, könnte ich das respektieren. Langsam glaube ich jedoch, dass du mich absichtlich anmachst und dann abblitzen lässt. Du bist so wechselhaft, dass ich mich manchmal frage, ob du mich auch verrückt machen willst.“

„Ich bin nicht verrückt.“ Sie starrte gerade aus auf die Spitzen der hohen Häuser im Gewühl der Stadt. „Es heißt Panikstörung oder schizotypische Persönlichkeitsstörung, je nachdem, wen du fragst.“

„Das sagt Lanze. Aber ich bin überzeugt, der hatte andere Motive, dich an der kurzen Leine zu halten.“ Der Verkehr war fast zum Stillstand gekommen. Mitchell wandte sich ihr zu. „Es ist mir egal, wenn diese Spinner ihren Spaß dran haben, dich an einem Spieß über dem Feuer zu rösten, aber ich wünschte mir, dass sie auch mir ein kleines Stück Fleisch übrig ließen.“

„Lass mich an der nächsten Ecke aussteigen.“ Das Hotel war drei Straßen weit entfernt. Obwohl Ungeheuer den Gehsteig füllten und in den Seitengassen lauerten, waren sie ein weniger gefährliches Risiko als Mitchell.

„Sei nicht albern, Julia.“ Mitchells Stimme nahm einen bevormundenden Ton an. „Lass uns essen gehen.“

Der Verkehr kam zum Stillstand und Julia öffnete die Tür.

„Was soll denn das?“, schrie Mitchell. Aber Julia war bereits ausgestiegen. Sie klemmte ihre Tasche unter den Arm, sprang zwischen zwei geparkten Wagen durch und eilte den Gehsteig entlang. Mitchell rief ihren Namen erneut, doch das Hupen der anderen Autos zwang ihn, die Tür zu schließen und weiterzufahren.

Julia versuchte, nicht auf die fremden Leute zu achten, die an ihr vorbeigingen, in den Türöffnungen lauerten, sich hinter Zeitungen versteckten oder durch die Fenster glotzten. Eine Polizeisirene durchdrang sie wie ein Laserstrahl und hallte von den Betonfassaden wider. Die Abgase hingen ihr in Hals und Nase. Der feuchte Gestank der Stadt drückte gegen sie wie eine zweite Haut und sie sehnte sich plötzlich nach dem sauberen, frischen Geruch des Waldes in den Blue Ridge Mountains.

Sie hielt den Blick auf den Gehsteig gerichtet und konzentrierte sich darauf, bis zur nächsten Spalte im Asphalt vorzudringen und dann abermals bis zur nächsten. Sie versuchte, die Unmenge der sich bewegenden Schuhe zu ignorieren. Sie drückte ihre Tasche an die Brust. Würde sie ihr jetzt entrissen, nun da sie endlich einen Hinweis auf ihre Vergangenheit besaß, dann wäre dies der letzte Scherz, den diese grausame Stadt mit ihr trieb.

Jemand stieß sie an. Sie rang nach Luft und schaute unwillkürlich nach oben –

Ein böser Mann, das Gesicht von der Kapuze verdeckt –

Sie schrie auf und der Mann trat zurück und hob die Hände in einer Geste der Unschuld.

„Entschuldigung“, sagte er. Auf seiner beginnenden Glatze glänzten Schweißperlen. Er war keiner der schlechten Menschen, nur ein gestresster, übergewichtiger Jogger auf dem Weg zu einer Verabredung mit einem Herzanfall. Er zupfte seinen Kapuzenpullover mit dem Tennessee Titans-Logo zurecht und rannte weiter. Julia stolperte am wogenden Körpermeer vorbei.

Die Hotelhalle war kühl und es befanden sich nur wenige Gäste dort. Julia versuchte, tief durchzuatmen, als sie im Lift alleine nach oben fuhr. Schließlich befand sie sich hinter verschlossener Tür in ihrem Zimmer. Sie legte sich aufs Bett und schloss die Augen. Hinter den Augenliedern sah sie das Bild einer Million böser Menschen, einer Stadt voller fieser Typen mit Kapuzen. Sie lag auf dem Bett, bis sie sich wieder so normal fühlte, wie es Julia Stone möglich war.

Dann erhob sie sich, legte ihre Tasche auf den Schreibtisch, zog die Vorhänge zu und nahm die Schachtel heraus.

Dunkle Zeiten: Die ultimative Thriller-Collection
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