2.

Die Sachbearbeiterin kniff die Augen zusammen. Die Uhr an der Wand zeigte tatsächlich drei Minuten früher an, so als ob ich Diana in einem früheren Leben begegnet wäre.

"Haben Sie sie gesehen?" fragte ich sie.

"Wen?"

"Egal. Das ist mein Problem, nicht Ihres."

"Davon haben Sie eine ganze Menge." Sie tippte auf mein Dossier. "Ich glaube nicht, dass Sie an Ihren Ort des Glücks gelangen können."

"Ich kann. Ich habe eine große Willenskraft."

"Dazu brauchen Sie mehr als Willenskraft. Glauben."

"Ich dachte, Sie hätten gesagt, dass Religion nur Schabernack ist."

"Glaube ist nicht das Vertrauen in unsichtbare Gottheiten oder tote Dinge. Glaube ist ein Vertrauen in das Leben."

"Nun, ich vermute, dass ich nicht mehr an das Leben glauben kann, oder? Ich meine, ich habe mich immer mit den Tatsachen abgefunden."

Sie spitzte ihre blassen blauen Lippen und begann, meine Mappe zur Kante ihres Schreibtisches zu schieben. Die Mappe kippte über und fiel in einen Abfalleimer, den ich vorher nicht bemerkt hatte. Ich hatte ihn nicht bemerkt, weil er noch nicht da gewesen war.

"Hey, hey, hey", sagte ich und stürzte auf Füßen, die sich wie Federn anfühlten, zum Abfalleimer. Ich wühlte darin herum und zog die Papiere heraus. Sie waren fleckig von altem Kaffeesatz, Überresten eines verschütteten Biers und einer Bananenschale, aber sie waren noch lesbar. Ich knallte die Akte auf den Schreibtisch, wütend auf Diana, verängstigt, weil man einen Teil meiner Seele wollte, und verärgert darüber, dass irgendjemand womöglich auf meine Kosten mit einem Mord davonkommen würde.

Das Leben war ungerecht, weil ich tot war. Das Leben war heilig, weil die Lebenden das behaupteten. Das Leben war wunderbar, weil der Tod so ehrlich wie ein Spiegel war. Alles, was mir geblieben war, waren ein paar unzusammenhängende Erinnerungen und ein nachklingendes Gedankenbild von Lee, aber ich hatte ein Verlangen, das keine gehässige Gattin jemals würde auslöschen können.

Ich stand auf und richtete einen Finger auf die Sachbearbeiterin. "Ich habe vieles, das mich erwartet. Ich muss in den Himmel kommen. Ich will es. Sagen Sie mir nur, was ich tun soll."

Sie lehnte sich zurück, legte ihre Fingerspitzen an einander und formte mit ihren Lippen ein tückisches Lächeln. "Na sowas, Mr. Steele, ich glaube, es gibt doch noch Hoffnung für Sie. Aber ich kann Ihnen nicht sagen, was Sie tun sollen. Das müssen Sie schon selbst herausfinden."

Hoffnung.

Wenn es je ein Wort verdient gehabt hatte, in kitschige Goldfolie verpackt zu werden, dann dieses. Hoffnung – das Element, das die Lebenden am Morgen dazu bewegt, aufzustehen, das starke Männer auf die Knie sinken lässt, das das Herz von eiskalten Frauen zum Schmelzen bringt. Das Wort, das uns dazu veranlasst, den nächsten Atemzug zu tun, zumindest diejenigen unter uns, bei denen die Lungen noch funktionieren.

Sie schob mir einige Papiere zu und gab mir einen Stift. Ich verbrachte gefühlte zehn Jahre damit, meinen Antrag für den Himmel auszufüllen, wobei sich herausstellte, dass der Himmel offiziell die Der Helle Ort AG war. Man hatte auch ein schickes Logo, die Buchstaben "HO", über denen die Sonne aufging.

"Sagen Sie mal, was hat es damit auf sich?" fragte ich. "Ich dachte, die Christen hätten sich den Himmel unter den Nagel gerissen. Behaupten die nicht, dass Gott deshalb Jesus auf die Welt geschickt hat? Was ist mit Nirwana, Walhalla, dem Paradies und all den anderen Orten?"

Die Sachbearbeiterin presste ihre drahtigen Hände zusammen, so als ob sie mir am liebsten eine scheuern würde, aber gezwungen war, die Benimmregeln einzuhalten. Sie fing sich wieder und spielte die Geduldige: "Jesus starb für die Sünden derjenigen, die an ihn glauben. Andere Menschen teilen die Last des irdischen Daseins auf andere Weise. Buddha, Satan, die Höhere Macht, Jiminy Grille, der kleine Maulwurf – was immer Ihnen in schweren Stunden hilft. Es führt alles zum selben Ort. Und nun, wenn ich Sie bitten darf, beeilen Sie sich mit dem Papierkram, damit ich nicht noch ein paar weitere Ewigkeiten mit ihrem Fall verschwenden muss."

"Ihnen auch frohe Weihnachten", sagte ich.

Als ich fertig war, gab ich ihr die Formulare zurück und berührte dabei zufällig ihre Finger. Ihr Fleisch war kalt.

Sie bemerkte meinen schockierten Gesichtsausdruck. "Titanic-Opfer", sagte sie mit einem Anflug von Stolz. Sie überflog meinen Antrag.

"Uh-huh... Uh-huh...", murmelte sie während des Lesens vor sich hin. "Okay, das wird schon gehen. Sind Sie bereit für Ihre Aufgabe?"

"Meine Aufgabe?"

"Ja. Haben Sie im Leben nichts gelernt? Wenn Sie etwas haben wollen, müssen Sie dafür arbeiten. Es genügt nicht, einfach auf die Knie zu fallen und eine unsichtbare Gottheit anzuhimmeln."

Ich nickte. "Sagen Sie mir, was ich tun muss."

"Sie müssen zurückgehen und Ihre Ermordung aufklären. Und Sie müssen es vor Ihrem Begräbnis schaffen."

"Zurückgehen?"

"Auf die Erde", sagte sie, geistesabwesend bereits in der nächsten Akte blätternd.

"Heißt das, dass ich wieder lebendig sein werde?"

"Sie waren nicht gerade lebendig, als Sie noch am Leben waren, wenn Sie verstehen, was ich sagen will. Sie haben nie gelernt zu leben."

"Aber ich werde real sein?"

"Sie werden in der Lage sein, mit der Welt der Lebenden zu interagieren. Aber das wird seinen Preis haben."

Nun ja, das war keine große Neuigkeit. Und das Jenseits entpuppte sich auch nicht gerade als die große Abteilung der Gratis-Angebote. Aber zumindest würde ich die Gelegenheit haben, einen letzten Fall zu lösen. Am Ende siegt immer die Gerechtigkeit, zumindest in den Fernsehserien.

"Wie hoch ist der Preis?" fragte ich. Soweit ich mich erinnern konnte, hatte ich ein paar Hundert auf dem Bankkonto, einen Aschenbecher voller Kleingeld in meinem Wagen und noch etwas Käsetunke von Thanksgiving in meinem Kühlschrank. Nicht gerade viel, wenn man mit kosmischen Schulden konfrontiert wird.

"Das werden Sie herausfinden", sagte sie. "Das ist Teil ihres Jobs."

Ein Niemand wie ich endet nicht ohne guten Grund mit Einschusslöchern im Sakko. Wenn die Aufklärung des Falles bedeutete, dass Lee und ich eine Chance bekommen würden, dann brannte ich darauf, es anzupacken. Und ich muss zugeben, die Aussicht auf gute alte Rache wirkt immer ziemlich motivierend. Ich mochte keine offenen Fragen, vor allem dann nicht, wenn mein eigenes Schicksal als Frage in den ewigen Winden flattert.

"Geben Sie mir die Fakten", sagte ich und fiel dabei problemlos in meinen alten Beruf zurück. Endlich etwas Normales. Wie Furcht, vertraut und sicher.

"Es gibt keine Fakten. Deshalb brauchen wir Sie ja, damit wir die Angaben zu Ihrem Tod in Ordnung bringen können."

"Moment mal", sagte ich. "Ich dachte, Ihr Typen wisst schon alles."

"Ich weiß nichts, bis mir jemand eine Aktennotiz schickt", antwortete sie und verabschiedete mich damit.

***

Dunkle Zeiten: Die ultimative Thriller-Collection
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