Kapitel 6

 

Riecht nach Taubenkot und Mumien hier oben.

Wayne ließ den Strahl seiner Taschenlampe über den schmalen Streifen Bohlenbelag wandern, der als Zwischendecke diente. Der Dachboden war mit zerrissenen Zeitungen gedämmt, weshalb es an ein Wunder grenzte, dass das White Horse nicht schon lange abgebrannt war, vor allem wenn man den lausigen Zustand der elektrischen Leitungen in Betracht zog. Die Sparren waren kreuz und quer mit Kabeln und Rohren überzogen und bewiesen, dass das Hotel versuchte, sich dem Lauf der Zeit anzupassen. Die Nachrüstungen waren planlos vonstattengegangen, und das Gewirr vermittelte das Gefühl, das jeden Moment monströse, haarige Spinnen aus den Schatten kriechen konnten.

Er wollte den Dachboden zum Jagdschauplatz machen, konnte sich aber nicht vorstellen, wie es ihm gelingen würde, einen Haufen vierzigjähriger paranormaler Möchtegerngeisterjäger die Leiter hoch und durch dieses beengte Kabuff zu jagen. Einer von ihnen könnte im Dunkeln den Bohlenbelag verlassen und durch die Gipsdecke stürzen. Auch wenn Haunted Computer Productions eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung war, die nichts besaß außer dem namensgebenden Computer, legte Wayne keinen Wert auf die Scherereien und Anwaltskosten, die anfielen, wenn man verklagt wurde. Die Geisterjäger mussten Verzichtserklärungen unterschreiben, aber eine Verzichtserklärung würde nur das erste Beweisstück in einem Gerichtsverfahren sein, das sich über Jahre hinweg hinziehen konnte.

Er zog sich zum Dachbodenzugang zurück und wählte den Hauptzugang über die Abstellkammer anstelle desjenigen von Zimmer 318. Er rief durch den Zugang in Korridor hinunter: »Das hier oben geht nicht.«

»Wie wär’s mit ein paar Infrarotkameras?«, antwortete Burton Hodges, ein Ex-Roadie, den Wayne als Technik-Spezialisten für SSI angestellt hatte.

Infrarotkameras würden den Leuten die Gelegenheit geben, den Dachboden auf Monitoren zu beobachten. Jeder Staubhauch oder vom Wind erzeugte Schatten würde zu einem Beweis für das Jenseits werden. Das Unglaubliche wurde wirklicher, wenn es auf dem Fernseher zu sehen war, und er konnte ein paar Videoclips zu einer Erinnerungs-DVD zusammenschneiden und so noch einmal zusätzlich Kohle machen.

Ein zufriedener Kunde wird nur durch einen übertroffen, der sein ganzes Geld dagelassen hat.

»Klar, und lass uns auch Mikrofone aufstellen.« Wayne vermutete, dass das Dachgesims genügend Risse und Spalten hatte, um jammernde Luftzüge zu produzieren, und mit etwas Glück gab es auch eine umfangreiche Fledermauskolonie.

Wayne schickte den Strahl seiner Taschenlampe tiefer in den Dachboden. Staubkörner wirbelten im orangenen Lichtkegel umher und erzeugten die Illusion tausender tanzender Feen. Hier oben gemachte digitale Blitzlichtaufnahmen würden reich an Geisterflecken sein, was von den Hobby-Spiritualisten als Beweis für paranormale Erscheinungen akzeptiert wurde.

Wayne hatte sich immer gefragt, warum sich ein Geist ausgerechnet in einem unscharfen weißen Ort von der Größe und Form einer Billardkugel niederlassen sollte, wenn es für ihn vermutlich keine Grenzen von Raum und Zeit gab. Jeder professionelle Fotograf betonte, dass Geisterflecken das Resultat des Zurückwerfens von Blitzlicht durch Staub oder Wassertropfen waren, und im Zeitalter von Bildbearbeitungsprogrammen konnte man sowieso keiner digitalen Aufnahme trauen.

Das bot der vermehrten Verbreitung von »authentischen« Geisterfotos natürlich keinen Einhalt, und Wayne selbst hatte im White Horse Inn aufgenommene Fotos mit Geisterflecken in seinem Werbematerial verwendet. Er hatte zwar unten auf der Seite den Hinweis hinzugefügt, der verkündete »Über das Gebiet der Geisterflecken-Fotografie herrscht Uneinigkeit und die Meinungen über seine Wertigkeit für die Forschung sind geteilt«, aber das war ungefähr so wie der Aufdruck auf der Bierdose, der davor warnte, dass Alkohol die motorischen Fähigkeiten beeinflussen konnte. Die Warnung selbst war eine gute Reklame.

Als Wayne auf der Suche nach guten Plätzen für die Kameras die Zwischendecke absuchte, bewegten sich am anderen Ende des Dachbodens die Schatten. Ein mit Drahtgitter und Holzleisten abgedecktes Lüftungsloch ermöglichte das Zirkulieren der Luft im Dachboden, und dünne Scheiben Sonnenlicht sickerten hindurch. Vorüberziehende Wolken konnten die Helligkeit verändern und so die Lichtqualität im gesamten Dachboden beeinträchtigen.

Starker Effekt, jetzt brauche ich nur noch ein zerlumptes Bettlaken auf einem Kleiderbügel.

Die Schatten bewegten sich erneut, obwohl kein Hauch wehte.

Wayne kroch vorwärts und hielt den Kopf gesenkt, damit er ihn nicht an den Dachsparren anstieß. Der Kegel der Taschenlampe bewegte sich vor ihm hin und her, die Bretter knarrten unter seinen Stiefeln. Die Haare in seinem Nacken fingen an zu kribbeln – die Leitungen, nur der Einfluss des elektromagnetischen Felds auf mein Gehirn – und die Luft schien mit erwartungsvoller Bedeutung aufgeladen. Ein papierähnliches Rascheln in den Wänden, wahrscheinlich die Flucht aufgeschreckter Mäuse, hörte sich fast wie ein Flüstern an.

Zusammengenommen konnten die verschiedenen Phänomene als »Ereignis« bezeichnet werden, aber Wayne wusste, worum es sich wirklich handelte. Im Verbund ließen einen die Einbildung, eine leichte Änderung im physikalischen Umfeld und der Volksglaube zum Schluss kommen, dass etwas, das sich wie ein Geist bewegte, wie ein Geist redete und wie ein Geist schiss, auch ein Geist sein musste. Beim Gedanken an Geisterkot musste er ein Grinsen unterdrücken.

Dann bewegte sich der Schatten erneut.

Mäuse.

Ein Stück Dunkelheit löste sich und bewegte sich zu einem verkrusteten Kamin aus Ziegelsteinen. Wayne lenkte den Strahl seiner Taschenlampe dorthin und die schwarze Silhouette wurde plastischer.

Es hatte menschliche Gestalt.

Eine feine, hohe Frequenz pfiff ihm in die Ohren und seine Zähne ruckten, als ob er Alufolie kaute.

Das Flüstern war erneut zu hören. Diesmal war es windstill, und die Worte waren klar und in einer Sprache, die Mäuse niemals außerhalb von Zeichentrickserien sprachen: »Du blendest mich.«

Wayne trat einen Schritt zurück und stieß mit dem Kopf an einen Trägerpfosten, woraufhin verschnörkelte, grünliche Funken über das Innere seiner Augenlider tanzten. Seine Taschenlampe fiel auf den Bohlenbelag und ging aus. Er schwankte und umarmte den Pfosten, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.

Die Temperatur im Dachboden fiel um fast 10 Grad und ein Stromstoß durchfloss ihn vom Kopf bis zu den Zehen.

Der Wind, Dummkopf, es ist November. Und Mäuse. Klar. Mäuse.

Er spähte in die Dunkelheit und orientierte sich dabei an dem entfernten Lichtviereck des Zugangs und dem zebragestreiften Lüftungsloch. Die dunkle Gestalt fügte sich nun in die Schwärze des Dachbodens ein, und es war leicht zu glauben, dass er sich das alles nur eingebildet hatte.

Aber das hielt sein Herz nicht davon ab, so verzweifelt zu klopfen wie das eines Mannes, der in einem Sarg eingeschlossen ist.

»Wayne?«, rief Burton.

Er schluckte und sein Hals kratzte, als ob sich die Luft in Sägemehl verwandelt hatte. »Ich bin okay«, krächzte er.

»Was ist los?«

»Nichts.«

»Ich hab komische Geräusche gehört.«

»Mir ist die Taschenlampe runtergefallen.« Wayne streckte seinen Fuß nach vorne, um damit nach der Taschenlampe zu fühlen. Er überlegte sich, was er tun würde, wenn etwas seinen Fuß umklammerte.

Burtons Kopf erschien im Zugang und er schwenkte einen Taschenlampenstrahl über den Dachboden bis Wayne im Lichtstrahl stand wie eine Kabaretttänzerin auf der Bühne. Er blinzelte ins Licht – Du blendest mich – und blickte dann zum Kamin.

Die Silhouette war verschwunden, genau wie er es geahnt hatte.

Weil sie niemals dort gewesen war.

Wir haben ein Versprechen abgegeben, Beth, aber keiner von uns beiden hat daran geglaubt. Und das Lügen wird einfacher, je älter man wird.

Er bückte sich und hob seine Taschenlampe von ihrem Bett aus zerfetztem Papier auf. Er probierte sie aus und konnte feststellen, dass sie noch funktionierte. »Okay, gib mir ein paar Kameras hoch«, sagte Wayne. Sein Puls normalisierte sich.

Er war ein wenig beschämt wegen seiner Suggestibilität. Er hatte sich nie selbst als Skeptiker gesehen und er kümmerte sich nicht um all die physiologischen Veränderungen, die Leute dazu brachten zu halluzinieren. Geister waren ein gutes Geschäft, von Geschichten am Lagerfeuer bis hin zu kassenträchtigen Horrorfilmen. Da tausende von Leuten herumrannten und sie mit modernsten elektronischen Geräten jagten, versteckten sich die armen Seelen vermutlich lieber in Sicherheit unter der Erde anstatt mit Ketten zu rasseln und Türen zuzuschlagen.

Burton stellte ein Kunststoffgehäuse auf den Bohlenbelag und schob es in Waynes Richtung. »Zwei Sony Mini-Camcorder«, sagte er. »Hey, es ist kalt hier oben.«

»November in den Bergen«, sagte Wayne. »Was hast du erwartet?«

Er stellte die erste Kamera so ein, dass sie den größten Teil des Dachbodens einfing, wobei ein Flügel des Hotels jedoch nicht sichtbar sein würde. Die zweite Kamera richtete er auf den Kamin. Er steckte die Kabel ein, die ihm Burton zugeschlängelt hatte und benutzte den Sucher, um die Kamin-Kamera zu testen. Als er heranzoomte, fixierte der Autofokus der Kamera einen Abdruck einer Hand im Ruß und Schmutz am Kamin.

Verursacht durch den Handschuh eines Arbeiters, höchstwahrscheinlich.

Er zoomte zurück und ging mit gesenktem Kopf im Entengang zum Kamin. Dort leuchtete er mit der Taschenlampe über die Ziegel und die Fugen. Der Handabdruck war verschwunden.

Er ging zurück zur Kamera und stellte sie auf Aufnahme. Mit der Festplatte im Kontrollraum waren sie in der Lage, ein ganzes Wochenende Filmmaterial aufzuzeichnen. »Kommt raus und zeigt euch«, rief er in die Totenstille des Dachbodens.

»Was ist?«, rief Burton von unten.

»Nichts«, sagte Wayne.

Was erwartete er? Beth?

Nichts.

Genau wie immer.

Dunkle Zeiten: Die ultimative Thriller-Collection
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