4. KAPITEL

 

Das Littlejohn-Krankenhaus lag am Rande der Stadt, dort, wo die städtische Zukunft von Kingsboro auf die ländliche Vergangenheit traf. In einem Meer aus Asphalt lagen ein Einkaufszentrum und medizinische Einrichtungen wie Inseln auf dem Weg zum Haupteingang. Dahinter wartete eine Kuhweide auf eine clevere Immobilienfirma, die sie entdeckte und etwas daraus machte. Auf der Straße, drei Stockwerke unter Jacobs Zimmer, kämpfte sich der Feiertagsverkehr durch aussichtlose Konflikte. In der Vorhalle spuckte jemand ein tuberkulöses Lachen, ein Ausdruck todgeweihter Freude.

Jacob setzte sich auf und starrte auf den schwarzen Bildschirm des Fernsehers. Die Schläuche war er los, die Verbrennungen waren größtenteils verheilt, auch wenn sein Körper hier und da noch zweimal täglich mit Silbersulfadiazinsalbe behandelt wurde. Er nahm verschiedene Antibiotika, und wenn man Dr. Masutu Glauben schenkte, hatte er das Schlimmste überstanden. Aber der Arzt war Optimist. Das Schlimmste stand noch bevor.

Jacobs Blick fiel auf das Tablett auf dem Tisch neben ihm. Eine Fliege setzte sich auf das Rührei und pflügte durch die schwabbelige gelbe Oberfläche. Als sie klein war, hatte Mattie die Stubenfliegen immer »Heimfliegen« genannt. Er beobachtete, wie die Fliege den schwarzen Sirup-Pfuhl erreichte. Sie kämpfte, befreite sich, drehte eine sorglose Runde in der Luft und landete wieder auf dem klebrigen Fleck.

Renee betrat den Raum. »Kann ich reinkommen?«

Jacob schloss die Augen und ließ sich in die Kissen fallen. Die Dunkelheit hinter seinen Lidern war einfach zu einladend.

»Ich hab gehört, dass du in ein paar Tagen nach Hause kommst«, sagte sie.

»Nach Hause«, sagte er.

»Du weißt, was ich meine.«

»Der wunderbare Dr. Masutu hat mir die Formel erklärt. Eine Woche Krankenhaus für je zehn Prozent verbrannter Körperoberfläche.«

»Dann müsstest du letzte Woche schon entlassen worden sein.«

»Die Verbrennungen sind nicht mehr so schlimm«, log er. »Jetzt versuchen sie, die Dinge zu reparieren, die in mir drin kaputt gegangen sind.«

»Ich habe eine Wohnung gemietet. Die Versicherung hat mir einen Vorschuss gegeben, bis alles geklärt ist. Donald hat mir die Wohnung besorgt. Ich wollte sie bezahlen, aber er hat gesagt, M&W kommt für die Kosten auf, weil euch ja eh die Hälfte davon gehört.«

»Wo ist die Wohnung?«

 »Ivy Terrace.«

»Schön. Die Apartments dort haben wir erst letztes Jahr fertiggestellt.«

»Ich wusste gar nicht, dass ihr sie gebaut habt.«

»Wir haben sie eigentlich auch nicht gebaut. Ich habe eine Provision auf den Grundstücksverkauf bekommen, habe ein paar Parzellen abgeteilt und eine Beteiligung als stiller Gesellschafter aufgenommen. M&W kümmert sich nur um die Mietzahlungen.«

»Es ist eine Dreiraumwohnung«, fügte sie hinzu und war ebenso erleichtert wie er, dass sie nicht weiterreden musste. Sie schlug die National Geographic auf.

Jacob ließ seinen Blick wieder zum Fenster schweifen. Er vertraute seinem Mitgesellschafter, Donald Meekins, und wusste, dass er sich gut um Renee kümmern würde, bis er wieder draußen war. Donald hatte auf seinem Zimmer angerufen, aber Jacob wollte nicht mit ihm sprechen. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Das Geld würde ein paar Monate nur langsam fließen, aber wenigstens hatten sie ja die Versicherung.

Er zählte die Häuser auf den Hügeln gegenüber vom Krankenhaus. Da waren mindestens zwei Grundstücke von guter Größe, die sich hervorragend für neue Immobilienprojekte eigneten. Das Krankenhaus von Kingsboro würde demnächst eine neue Krebsstation und eine Spezialstation für Herzpatienten eröffnen. Dann würden noch mehr reiche Rentner aus Florida und New York in die Berge von North Carolina ziehen. Die alten Leute brauchten Wohnungen, am besten in der Nähe von Ärzten und Krankenhaus. M&W hatte einen Countryclub vor den Toren der Stadt gebaut, dazu einen Achtzehn-Loch-Golfplatz. Die Wohnungen dort waren alle schon verkauft. Es mussten neue Häuser für die Krebspatienten her. Unkontrolliertes Zellwachstum als Wachstumsbranche.

»Es ist viel zu ruhig hier«, sagte Renee.

Er hörte ein Klacken, der Fernseher ging an. Es kam eine dieser stumpfsinnigen Frühstücksshows, Early NBC oder ABC Sunrise oder irgendsowas. Er öffnete die Augen. So konnte er wenigstens auf den Bildschirm schauen statt auf Renee. Ein Mann im blauen Anzug interviewte eine Frau, die immerfort am Saum ihres kurzen Rockes zupfte. Sie wollte wohl Bein zeigen und trotzdem Anstand und Bescheidenheit wahren. Weiter.

»Toller Werbespot«, sagte er. Eine Eidechse mit australischem Akzent versuchte die Zuschauer zum Abschluss einer Autoversicherung zu überreden.

»Apropos Versicherung«, sagte sie und nahm die Fernsehwerbung zum Anlass, das Thema zur Sprache zu bringen. »Ohne dich wollte ich nicht allzu viel unternehmen, aber ich brauche ein Dach überm Kopf.«

»Sie war 'ne Menge wert, was?«

»Idiot! Fang nicht schon wieder damit an! Es gibt ein paar Dinge zu klären, und das können wir doch wie normale Menschen regeln.«

»Du meinst wegen dem Geld …«

»Ach, komm schon. Ich will nur, dass du die Papiere unterschreibst und dann machen wir weiter mit unserem Leben. Das heißt mit dem, was noch davon übrig ist.«

»Bei der Einäscherung haben wir doch sicher 'ne Menge gespart, oder? Die halbe Arbeit war ja schon erledigt, als du die Leiche den Geiern vom Bestattungsinstitut übergeben hast.«

»Das musste doch aber getan werden. Ich konnte nicht warten …«

» … bis ich bei der Bestattung meiner eigenen Tochter dabei sein kann?«

Renee stellte den Fernseher auf stumm. Jacob schaute zu, wie die Interviewtussi mit ihrem Rocksaum kämpfte. Für seinen Geschmack waren die Knie der Frau ein bisschen zu schwabbelig. Das heißt früher, als er noch Geschmack hatte, natürlich. Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder der Fliege im Sirup zu.

Gab es da nicht so ein Sprichwort im Englischen – die Fliege in der Salbe, so was wie das Haar in der Suppe? Dr. Masutus Beruhigungsmittel wirkten Wunder, befreiten seine Gedanken und schickten sie auf Entdeckungsreise durch die Verrücktheiten dieser Welt. Jacob hatte es aufgegeben, sich dagegen zu wehren. Anstelle von Spritzen bekam er jetzt zweimal täglich Tabletten.

Diazepam. Der Schneller-Wieder-Gut-Macher.

Oder der Leichter-Vergesser.

Oder der Leck-Mich-Am-Arscher.

»Jake, wir müssen mal darüber reden.«

»Es gibt nichts mehr zu bereden.«

»Doch, eine ganze Menge!«

»Nein, nichts. Es ist alles futsch.«

»Nein. Uns gibt es noch.«

»Es gibt kein ›uns‹ mehr. Nur noch dich und mich. Oder vielleicht nur dich.«

»Rede nicht solchen Unsinn. Du hast es immer gehasst zu verlieren. Ein Wells versagt nie.«

»Ich hatte viel Zeit zum Nachdenken. Im Krankenhaus kann man wunderbar nachdenken, vielleicht noch besser als im Knast.« Jacob zog den Strohhalm aus seinem Milchkarton und steckte ihn in den Sirup, direkt neben die Fliege. Die Fliege flatterte panisch mit den Flügeln.

»Ich weiß, es ist schrecklich. Aber vielleicht können wir es zusammen durchstehen. Noch mal von vorn anfangen.«

»So wie nach Christine? Hast ja gesehen, was daraus geworden ist.«

Nun setzte sich Renee endlich hin, in den Stuhl aus Eichenholz und lila Plastik am Fenster. Die Sonne draußen war noch einen Stich gelber geworden und stieg aus dem Nebel heraus, der den Horizont verschwimmen ließ. Früher, in der glücklichen, fernen Vergangenheit, hätte Jacob jetzt an seinem Schreibtisch bei M&W gesessen, hätte telefoniert und Verträge mit Lieferanten klar gemacht. Oder er wäre draußen auf der Baustelle gewesen und hätte auf die Pläne geschaut, während ein Bulldozer klaffende Scharten in die bergige Landschaft riss.

Objektentwicklung.

Entwicklung – ein interessantes Wort mit so vielen Bedeutungen. Entwickler setzen Dinge in Bewegung. Aber als Entwicklung bezeichnet man auch den Werdegang eines Menschen, die Reise eines Babys durch den Zyklus der Entstehung, von einer mikroskopisch kleinen, befruchteten Eizelle über ein erdnussgroßes Wesen, das aussieht wie ein Außerirdischer, bis hin zur brüllenden, schreienden Wirklichkeit.

»Komisch, oder?«, sagte er. »Die Kinder wurden in diesem Krankenhaus geboren.«

»Das ist nicht komisch.«

»Denk mal drüber nach. Sie holten ihren ersten Atemzug in genau dieser Luft. In derselben kranken Luft.« Er bewegte die Hand, mit der er den Strohhalm hielt, die Fliege konnte sich endlich befreien und krabbelte durch den Raum wie ein verkrüppelter Bombenjäger, der von einem Todesflug zurückkehrt.

Die Tür ging auf, ein Krankenpfleger betrat den Raum. Er hatte ein mürrisches Gesicht und einen Zweitagebart. Er blickte auf Renee, als wäre sie die Patientin, wischte sich dann die Hände an seinem blauen Kittel ab und zog sich Gummihandschuhe über. Er quetschte Salbe aus einer Tube und rieb damit Jacobs Arme ein.

»Sieht gut aus«, sagte der Pfleger. Auf seinem Namensschild stand »Steve Poccora«, und auf dem Bild darunter war er frisch rasiert und lächelte. Das Lächeln sah aus, als wäre es mit einem Bildbearbeitungsprogramm hineinretuschiert worden.

»Der Arzt meint, mir geht's von Minute zu Minute besser«, sagte Jacob.

»Geht uns das nicht allen so?«, fragte Poccora. Und dann, an Renee gerichtet: »Er ist schon bald wieder bei Ihnen zu Hause.«

»Nur keine Eile«, sagte Renee.

Poccora wollte lachen, doch dann bemerkte er die eisige Kälte im Raum und beeilte sich mit dem Auftragen der Salbe. Jacob spürte es kaum. Seine Haut war gefühlloser geworden, der Großteil der beschädigten Hautschicht hatte sich abgeschält. Er war wie neu, rosarot wie ein Babypopo, aalglatt wie eine Schlange nach dem Häuten.

Wenn er doch auch seine Seele so schnell abstoßen könnte wie die alte Haut! Er hatte mal gelesen, dass sich der Körper alle sieben Jahre komplett erneuert, weil alte Zellen absterben und durch neue ersetzt werden. Also war er ein völlig anderer Mensch gewesen, als Mattie geboren wurde. Ein besserer Mensch.

Nicht so wie Joshua.

»Und, wie ist unser Appetit?«, fragte der Krankenpfleger.

»Hab Hunger wie verrückt«, sagte Jacob. »Renee hat mir zwei Großpackungen Hähnchenkeulen ins Krankenhaus geschmuggelt.«

»Aha, deshalb schmeckt Ihnen auch unser Kantinenessen nicht.« Steve Poccora schob den Rollwagen mit dem Essenstablett in die Zimmerecke. »Sie haben es nicht mal angerührt. Ich dachte, Sie haben sich langsam daran gewöhnt.«

»Mez compliments au chef«, höhnte Jacob in schlechtem Französisch.

Der Pfleger maß Jacobs Blutdruck und Puls und schrieb die Ergebnisse in eine Tabelle. »Ihr Blutdruck ist ein bisschen zu hoch, aber kein Grund zur Besorgnis.«

»Sehe ich aus, als ob ich mir Sorgen mache?«, fragte Jacob.

»Er macht sich nie Sorgen«, sagte Renee. »Ich übernehme das für uns beide.«

Poccora schaute von einem zum anderen, als ob er rausfinden wollte, ob er der dumme Junge in ihrem Ballspiel ist. »Rufen Sie mich, wenn Sie was brauchen.«

»Schreien werd ich.« Im Fernsehen hatte der Moderator einen Papagei auf der Schulter. Der Vogeltrainer stand daneben und hielt ihm einen Bissen Futter hin. Der Moderator sah nervös aus, als ob er einen peinlichen Kot-Zwischenfall befürchtete. Der Vogel gab ein lautloses Kreischen von sich, als Erwärmung für einen schmutzigen Witz.

Poccora nahm das Tablett. »Ich mag keine Papageien«, sagte er mit Blick auf den Bildschirm. »Sie schneiden dir immer das Wort ab und du kannst nicht mal einen schnippischen Kommentar zurückgeben. Sie sind zu doof, ihn zu begreifen. Wie wenn man mit der Puppe eines Bauchredners spricht.«

»Die schlimmsten Puppen sind die, die genauso aussehen wie ihr Bauchredner«, sagte Jacob. »Die Typen kehren ihre schlechte Seite nach außen.«

»Hey, versuchen Sie mal nett zu sein, wenn Ihnen jemand seine Hand in den Hintern schiebt!«, entgegnete Poccora.

»Wie bei der Prostata-Untersuchung.«

Der Pfleger wollte lachen, ließ es aber lieber sein. Er ging mit dem Tablett zwischen den beiden hindurch. In der Tür blieb er stehen. »Sicher, dass Sie keinen Pfannkuchen wollen?«

Jacob sah sich im Raum um und suchte die Fliege. »Nein, Sie können sie alle haben.«

Der Pfleger tauchte einen Finger in den Sirup und tat, als ob er ihn ableckte. »Ich mag es nicht, wenn man Essen umkommen lässt. Aber das hier ist kein gutes Essen. Ich kenne die Krankheiten, die hier herumschwirren.«

Er ging, und der erzwungene Humor wich wieder der unerträglichen Spannung.

»Womit fangen wir an?«, fragte Renee nach zwanzig Sekunden Stille.

»Bitte, Renee. Du klingst wie meine Psychiater früher.« Er griff nach der Fernbedienung und wollte den Ton lauter stellen.

»Dann beginnen wir ganz am Anfang.«

»Der Anfang. Das war mein erster Fehler.«

»Jake, hör auf.«

»Du willst doch, dass es vorbei ist. Das ist es doch, was du die ganze Zeit wolltest. Es ist armselig, dass du so eine Ausrede brauchst, um dich endlich zu trauen.« In seinen Augen brannten die Tränen, glühend heiß in der Erinnerung an das Feuer und alles andere.

Sein Daumen drückte auf den Lautstärkeregler. Renee sprang wütend nach vorn und schlug ihm die Fernbedienung aus der Hand. Er starrte auf den stummen Bildschirm, dessen Farben vor seinen wässrigen Augen verschwammen.

»Sprich mit mir, du Feigling«, sagte sie.

Seine Kehle war wie zugeschnürt, aufgerieben vom Beatmungsschlauch, den sie in seine Lungen gerammt hatten. Er versuchte sich einzureden, dass das Feuer schuld sei, dass es die netten Worte aus seinem Mund verbannt hatte und dass es in der Höhle, in der einst sein Herz schlug, nur eine Handvoll Asche hinterlassen hatte. Ein Teil von ihm wünschte, er wäre in den Flammen umgekommen. Ein Teil von ihm war in den Flammen umgekommen. Aber es war der falsche Teil, nicht der, der getötet werden musste.

Er spürte Renees Atem auf seiner Wange, aber er war meilenweit weg. Er suchte nach der kühlen Grotte, die die Drogen in den felsigen Schluchten seines Schädels gegraben hatten.

»Du kannst deine Augen nicht ewig verschließen.«

»Aber lange genug.«

»Davon wird es aber nicht besser. Du musst dich damit auseinandersetzen. Du kannst dich nicht in deinem Panzer verkriechen und so tun, als sei es nie passiert.«

»Behalt das Geld. Mir ist es egal.«

»Donald hat mich angerufen. Er wollte wissen, wann du wieder auf Arbeit kommst.«

»Damit hab ich abgeschlossen.« Und das meinte er wirklich. Zehn Wohngebiete, ein halbes Dutzend neue Stadtteile, drei Einkaufszentren, einen Countryclub und zwei Motels hatte M&W Ventures Inc. gebaut. Das war doch genug für ein Lebenswerk, oder? Selbst für den Sohn von Warren Wells. Donald Meekins konnte ja die große Schere nehmen, mit der sie bei Eröffnungsfeiern immer das Band durchtrennten, und damit das W aus dem Firmennamen herausschneiden.

Jacob hatte seine Spuren hinterlassen. Er hatte einen guten Ruf, mit dem man zur Bank gehen konnte. Etwas, das als Kreditsicherheit diente.

Auch wenn er alles verlöre, seine Kinder, seine Frau, seine Seele – die Gebäude würden immer noch stehen, stumme Zeugen seiner Willenskraft und seiner Visionen. Asphalt festigte seinen Weg in eine bessere Zukunft. Knochen aus Stahl, Fleisch aus Beton und ein Bauplan für die Seele. Materielle Beweisstücke für den Tag des jüngsten Gerichts, ein teuflischer Handel.

»Du hast damit nicht abgeschlossen«, sagte Renee. »Das werde ich nicht zulassen.«

Er fragte sich, wie viel von allem für sie gewesen war. Wo überschritt die eheliche Unterstützung die Grenze des Notwendigen, wo verlief die Trennlinie zwischen Ansporn und dem selbstsüchtigen Wunsch nach Perfektion und Erfolg? War es seine eigene Unsicherheit, die ihn anfeuerte, oder war etwa ihr unnachgiebiges Streben nach seinem Erfolg die Peitsche, die ihm den Schaum vors Maul trieb? War sie der Bauchredner, dessen Hand ihn wie ein Schlafwandler im Gleichschritt der Gier marschieren ließ?

Nein, so groß war ihr Anteil dann auch wieder nicht. Was er erreicht hatte, und was noch vor ihm lag, waren alles Entscheidungen, die er aus eigener Kraft getroffen hatte. Er konnte zwar anderen Menschen die Schuld geben – und das wurde auch schnell zu seiner neuesten Überlebensstrategie – doch die Rechtfertigungen hatten immer einen hohlen Nachklang.

Am Ende geht es nur um dich und um den Fremden im Spiegel.

»Lass mich in Ruhe«, sagte er.

»Auch wenn ich dich in Ruhe lasse, ist es noch lange nicht vorbei.«

Jacob lachte, eine Bewegung, die seinen Lippen Schmerzen verursachte. »Es ist schon zu Ende.« Auf seiner Brust spürte er den Druck der Fernbedienung, die sie auf ihn geworfen hatte.

»Du und dein Scheiß-Märtyrertum«, sagte sie. »Als ob du hier der Einzige wärst, der was auszustehen hat.«

»Du kannst alles haben, was du willst. Die Scheidung, das Geld, die Autos, das Haus …«

Das Haus. Ein Haufen verkohltes Holz in einer der spießigsten Gegenden von Kingsboro.

»Und die Kinder«, fuhr er fort, seine Stimme schrill vor Schwindel. »Du kannst die Kinder haben. Ich erhebe keinen Anspruch. Ich will sie nicht mal besuchen.«

»Jakie.«

Er krallte sich mit beiden Händen ins Laken, als versuchte er Saft herauszuquetschen, presste seine Zähne aufeinander, bis seine Schläfen schmerzten.

»Beruhige dich. Du machst mir Angst.« Sie ging ans Kopfende des Bettes und suchte nach dem Knopf, mit dem man die Schwester rufen kann.

»Du solltest auch Angst haben.«

»Glaubst du, für mich ist es leichter?«

Jacob schaute sie an, ihre grünen Augen schienen durch die Brillengläser noch größer. Diese Frau sollte er lieben. Er wusste es, etwas Starkes zerrte in seiner Brust, eine tiefe Erinnerung, die im Grab seines schlafenden Herzen auf den Kopf gestellt worden war. Wie konnte etwas, das so sicher und echt gewesen war, auf diese Weise enden? Wie konnte sich ein ewiges Band einfach so auflösen wie Nebel in der gleißenden Morgensonne?

»Tut mir leid«, sagte er. Dieser blöde, sinnlose Spruch kroch einfach so aus seinem Mund. Er konnte ihn nicht aufhalten. Die Antwort kam ganz automatisch. Er hatte den Satz in den vergangenen zehn Monaten so oft gesagt.

»Das ist unmöglich«, sagte sie. Sie legte ihre Handtasche auf ihren Schoß, nahm eine Sonnenbrille zum Anklipsen heraus und schob sich die dunklen Gläser vor die Augen. Jacob war froh, dass er ihre Augen nicht mehr sehen musste. Jetzt konnte er ihr endlich ins Gesicht schauen.

»Da ist noch was«, sagte sie. Sie zog einen zerknitterten Umschlag aus ihrer Handtasche. »Du wolltest bestimmt noch mal richtig in die Wunde stechen.«

»Wovon redest du?«

Renee zog einen kleinen Zettel aus dem Umschlag und las ihn vor: »Ich hoffe, das Geschenk zur Housewarming-Party hat dir gefallen. Für immer Dein, J.«

Jacobs Magen ballte sich zu einer riesigen Klaue, die die anderen Organe in seinem Bauch umklammerte.

»Wo hast du das her?«

»Ich hab's in meinem Auto gefunden. Du bist wohl davon ausgegangen, dass es nicht mit verbrennen würde, weil ich es in dieser Nacht auf der Straße geparkt hatte.«

»Ich weiß nicht, wovon du redest.«

»Es ist deine Handschrift, Jake. Du brauchst keine Spielchen mehr zu spielen. Bitte.« Eine einsame Träne sickerte unter dem schwarzen Plastikglas hervor.

»Ich weiß immer noch nicht, wovon du redest.«

»Das Feuer, Jake. Die Ermittler glauben, dass es vielleicht Brandstiftung war.«

»Ich weiß. Das haben sie mir letzte Woche auch erzählt. Ich hab ihnen gesagt, dass ich keine Ahnung habe, warum irgendjemand unser Haus in Brand stecken sollte. Es ist nichts Besonderes daran. Es ist nicht mal das beste Haus in der Gegend.«

»Aber dieser Zettel hier …« Ihre Stimme versagte und sie konnte nur noch das vergilbte Stück Papier vor ihrem Gesicht hochhalten.

» … sagt gar nichts«, entgegnete Jake. Sein Puls tickte wie eine wild gewordene Uhr gegen seine Trommelfelle, wie ein Zeitmesser der Explosion. »Wirf ihn einfach weg.«

»Es ist deine Handschrift. Und dann die Versicherung …«

»Red keinen Unsinn, Liebes.«

»Ich bin nur total durcheinander. Es macht alles keinen Sinn. Und Mattie … Oh, Jake.« Sie knüllte das Papier zu einer kleinen Kugel und stand so schnell auf, dass ihre Handtasche auf den Boden fiel. Der Inhalt ergoss sich über den keimfreien Boden. Sie legte ihren Kopf vorsichtig auf Jacobs Brust.

Er streichelte mit seiner verletzten Hand über ihr Haar. »Psst. Alles wird gut. Ich versprech's dir.«

»Bitte lass es nicht so enden«, sagte sie, und ihr Schluchzen brachte das schmale Krankenbett zum Beben.

»Alles wird wieder so gut wie neu«, sagte er. Sein Herz hüpfte wie verrückt. Bestimmt konnte man kann es durch den dünnen Stoff seines Krankenhaushemdes fühlen. »Vertrau mir. Ich werde nicht zulassen, dass irgendjemand dich mir wegnimmt.«

Vor allem nicht Joshua. Nein, dieses Mal würde er Joshua nicht gewinnen lassen. Nicht noch einmal. Nicht wie sonst immer.

Und während er beruhigende Worte sprach und sie mit einer Hand streichelte, bahnte sich seine andere Hand den Weg zu dem Zettel in ihrer Faust. Er zupfte sanft daran und sie ließ los. Er betrachtete den Zettel und sah die schrägen, leicht nach links geneigten Buchstaben. Die Handschrift kam ihm bekannt vor. Er steckte den Zettel heimlich unter seine Decke und ließ sie sich ausweinen.

Dunkle Zeiten: Die ultimative Thriller-Collection
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