Kapitel 13

 

Das Haus war finster, als Linda die Zufahrt hochfuhr. Das bedeutete, dass die Jungs schliefen. Es war ihr unangenehm, sie so zu vernachlässigen, wie sie es getan hatte, aber Archer benötigte sie mehr als die Jungs. Ein Diener sollte nur einen Herrn haben, sagte Archer immer. Und Gott war ein eifersüchtiger Gott.

Sie war an der Leiche am Straßenrand vorbeigekommen. Vermutlich hatten auch andere Gemeindemitglieder sie gesehen und nur in sich hinein gemurmelt: »Es muss große Opfer geben.« Linda erkannte Davids Jacke, die die Leiche bedeckte. Also hatte ihr Ehemann herumgeschnüffelt.

Sie hoffte, dass er ihnen nicht in die Quere kommen würde. Wenn David sie in Ruhe ließ, würde Archer ihn vielleicht verschonen. David hatte sich in die Gregg-Familie eingeheiratet und sich das Geburtsrecht nicht mit Blut verdient. Die Days gehörten nicht zu den alten Familien, deshalb schuldeten sie der roten Kirche keinen Tribut und hatten keine Schuld auf sich geladen, die sie begleichen mussten.

Sie stieg aus dem Auto und atmete die frische Luft ein. Die Gerüche der Farm, frisch bearbeiteter Boden, Heu und Hühnermist, hatten sie immer beruhigt. Das war eine Ironie ihres Lebens: Sie hatte sich immer davor gefürchtet, dass sie in Whispering Pines hängen bleiben würde, aber sie hatte sich nirgendwo anders wirklich wohl gefühlt, auch nicht in Kalifornien. Nicht einmal Archers wunderbare Gegenwart konnte dort ihr Heimweh völlig verschwinden lassen.

Der Mond stand tief am Himmel, zu drei Vierteln voll über den ungleichmäßigen Gebirgskämmen. Das dunkle Indigoblau der Nacht und die verstreuten Nadelstiche der Sterne waren wunderbar. Sie würde diese Welt vermissen. Es war schwer sich vorzustellen, dass eine bessere existierte, aber Archer hatte gesagt, dass er für sie einen Platz im Himmel hatte, der auf sie wartete. Im wirklichen Himmel, nicht in dieser lächerlichen Illusion, mit der die Christen hausieren gingen.

Harfen und weiße Gewänder. Was für ein Witz.

Sie ging ins Haus, darum bemüht, keine Geräusche zu machen. Sie würde ins Kinderzimmer schleichen, den Jungs einen Gute-Nacht-Kuss geben und sicherstellen, dass sie richtig zugedeckt waren. Ihre Hand tastete sich an der Wand entlang, bis sie den Lichtschalter gefunden hatte. Sie betätigte ihn.

»Sieh an, sieh an...«, sagte David. Sie machte einen Satz zurück zur Tür.

»... wenn das mal nicht die Hure Babylon ist«, fuhr er fort. Er saß auf der Couch, noch in Arbeitskleidung, mit wachsamen Augen. Sein Gewehr lag in seinem Schoß.

»Was in aller Welt machst du hier?«, flüsterte sie so laut sie konnte, ohne die Jungs aufzuwecken.

»Ich kümmere mich um die Meinen.« Seine Augen wurden schmaler, als er den Lauf des Gewehrs tätschelte. »Jemand muss es ja tun.«

»Verschwinde.«

»Nicht, solange dieser ... dieser Lump von einem McFall auf Beute aus ist.«

»Lass Archer aus dem Spiel.«

»Ich wünschte, das könnte ich.«

»Du denkst, dass das alles wegen dir ist? Es hat überhaupt nichts mit dir zu tun, also kümmere dich um deine eigenen Angelegenheiten.«

David beobachtete sie, als sie von der offenen Tür Richtung Küche ging. Nur seine Augen bewegten sich. Der Rest von ihm blieb starr. »Was geht da oben bei der Kirche vor sich, Linda?«

»Nichts. Es wird nur wieder Gottesdienste geben.« Linda wandte sich ab, um seinem festen Blick zu entgehen. »Wie geht es den Jungs?«

»Oh, denen geht’s gut. Es gibt nichts Besseres, als sich zu Tode zu fürchten und eine Mutter zu haben, die sich einem Haufen gestörter mitternächtlicher Gottesdienstbesucher anschließt.«

»Das sind gute Menschen. Du kennst die meisten von ihnen. Sie sind unsere Nachbarn.«

»Ja, zumindest die, die noch am Leben sind.«

»Du hast sie gesehen?«

»Natürlich.«

Lindas Augen wurden feucht. Sie hatte sich nicht gestattet, um Donna zu trauern. Aber nun, nachdem David sie erinnert hatte, konnte sie nicht gegen die menschliche Schwäche der Tränen ankämpfen.

»Die Jungs haben sie auch gesehen.« Davids Stimme war nun schärfer, nachdem er gesehen hatte, dass er sie mit seinen Worten treffen konnte. »Zum Glück haben sie nicht erkannt, um wenn es sich handelte.«

Linda lehnte sich gegen den Türpfosten des Durchgangs zum Flur. Die Schuldigen mussten sterben. Aber warum musste es Donna treffen? Ihre Cousine hatte nie etwas wirklich Schlechtes getan, vielleicht abgesehen von ein bisschen Ehebruch. War Donnas Herz wirklich so verdorben, nur weil sie eine Vorliebe für die Ehemänner anderer Frauen hatte?

»Das macht drei«, sagte David. »Jede Nacht eine. Genau wie in Kalifornien.«

Linda hämmerte mit der Faust gegen die billige Holzvertäfelung, woraufhin die Trophäenköpfe an der Wand wackelten. »Warum hast du mich nicht einfach in Kalifornien bleiben lassen?«, sagte sie lauter, als sie beabsichtigt hatte.

»Du wirst die Jungs aufwecken.«

Sie durchquerte das Zimmer und stellte sich vor ihn. »Warum hast du mich nicht dort gelassen? Ich war glücklich. Vielleicht zum ersten Mal.«

David nahm die Hände vom Gewehr und legte sie auf seine Knie. »Weil du dich von Gott abgewendet hattest. Und von mir. Ich konnte nicht zulassen, dass Archer McFall und dieser Haufen dort deine Seele zerstören.«

Sie prustete. Ihre Nase war vom Heulen gerötet. »Seele? Was weißt du davon, was es heißt, eine Seele zu haben?«

»Ich weiß, was richtig ist. Und Archer ist nicht richtig. Er ist der Teufel. Er ist schlimmer als der Teufel. Der Teufel hält sich wenigstens an Gottes Regeln und kann gut und böse unterscheiden. Dein geschätzter Prediger scheint es etwas zu vermischen.«

»Du bist verrückt, David.«

»Ich bin nicht derjenige, der zu einem mordenden Monster betet.«

»Archer hat nichts mit den Morden zu tun.«

»Natürlich nicht. Verdammt großer Zufall, oder? Archer geht nach Kalifornien und die Menschen sterben dort wie Fliegen. Archer kommt zurück nach Whispering Pines und die Menschen sterben hier wie Fliegen.«

»Manchmal müssen die Unschuldigen sterben–«

»Ich hab Neuigkeiten für dich. Keiner von uns ist unschuldig.«

Linda schüttelte den Kopf. »Du kapierst es nicht, oder? Ich habe gebetet und gebetet, Gott darum gebeten, dass er dich erleuchtet, damit du erkennst, dass Archer der wahre Erlöser ist. Aber vermutlich ist dieser läppische Jesus alles, was dein Hirn erfassen kann. Geschieht dir recht, wenn du ihm in die Hölle folgen musst.«

David erhob sich plötzlich, sein Gewehr fiel polternd auf den Boden. Er starrte hinunter in ihre Augen, aber Linda hatte keine Angst. Große Prüfungen werden kommen, hatte Archer gesagt. Sie würde stark sein. Ihr Glaube würde nicht wanken.

»Du kannst diesem Narren hinterherlaufen«, sagte David mit zusammengepressten Zähnen. »Aber ich will verdammt sein, wenn ich zulasse, dass du die Jungs mit dir nimmst.«

»Das stimmt. Du wirst verdammt sein«, sagte sie, wütend darüber, dass David ihr ihren größten Besitz nehmen wollte, die größte Zehntabgabe, die sie Archer darbieten konnte. Die Jungs waren ihre Eintrittskarte in Archers Herz, in das Reich Gottes.

David bückte sich, hob das Gewehr auf und hielt es vor seine Brust. »Dann soll der Scheißkerl kommen und sie holen. Aber er wird erst an mir vorbeikommen müssen.«

Davids Augen waren unnachgiebig. Sie wusste, wie stur er sein konnte. In Kalifornien hatte er den gleichen Gesichtsausdruck gehabt, als er nach dem Verschwinden Archers in die Kirche gekommen war. Er hatte sie nach draußen zu seinem Pick-up gebracht und sie dann zurück in die Berge gefahren. Pausen hatte er nur eingelegt, um zu tanken oder zu essen oder wenn ihn die Erschöpfung dazu zwang, für ein paar Stunden zu schlafen. Jetzt, wie damals, erkannte Linda, wie sehr sie ihn liebte. Aber die Liebe war eine Täuschung, eine Einschüchterungstaktik, die zur Verzweiflung führte. Archer sagte, dass irdische Liebe nur eine weitere Form der Eitelkeit war, oder nicht?

Die Liebe war auf ihre eigene Weise ein falscher Götze. Liebe war so hohl wie ein goldenes Kalb – außen glänzend und hell, und innen nur schlechte, dunkle Luft. Liebe gab einem nichts, aber nahm einem alles.

Die menschliche Liebe war ein Altar, auf den man krabbelte und dann darum bat, dass man geschlachtet würde.

Die Liebe war Jesus’ größte Lüge.

Sie würde stark sein.

»Ich hasse dich«, sagte sie mit kalter Brust und einem Herz, dass von dem eisernen Willen umschlossen war, den ihr Archer eingepflanzt hatte.

David hob eine Hand, blickte zur Eingangstür und dann zum Fenster. »Hast du das gehört?«

»Was?«

David entsicherte das Gewehr und neigte den Kopf, um zu lauschen. »Schhh.«

»Es wird nicht hier reinkommen«, flüsterte Linda, um sich selbst Mut zuzusprechen. Ja, Archer würde seinen himmlischen Gehilfen schicken, um die Jungs zu holen. Aber er hatte versprochen zu warten, bis sie in den Schoß der Gemeinde aufgenommen waren. Das würde ihren Platz in Archers ewiger Herrlichkeit sicherstellen – und Lindas Platz an Archers Seite festigen.

Etwas rüttelte an der Eingangstür.

Das kann nicht sein. Das Opfer für heute Nacht wurde bereits gebracht.

In der Stille hörte sich das Ticken der Uhr an wie Regentropfen auf einem Sarg.

David legte seine Wange an den Gewehrkolben und wartete auf das, was draußen war und eindringen wollte.

 

Kannst du ihn anklopfen hören?

Ronnie zog die Bettdecke über seinen Kopf, aber die erstickende Dunkelheit sorgte dafür, dass seine Furcht größer wurde anstatt zu verschwinden. Mom und Dad hatten aufgehört zu streiten, also hatten sie das Geräusch vielleicht auch gehört. Tim schnarchte, aber Ronnie hatte die Augen nicht schließen können, seit sie nach Hause gekommen waren. Er hatte Angst, dass er, wenn er einschlafen würde, von der schwarzen Gestalt träumen würde, die über den Himmel flatterte wie ein zackiger Drache.

Und nun war es hier, das Glockenmonster, das furchteinflößende Ding aus der Kirche, das Flügel hatte und Klauen und Lebern statt Augen. Es war ihnen nach Hause gefolgt und Ronnie wusste – wusste –, dass es nur wegen ihm gekommen war. Weil er in seinem Herzen gesündigt und der Teufel einen Dämon aus der Hölle geschickt hatte, genau wie von Prediger Staymore in der Sonntagsschule angedroht.

Die Klauen kratzten am Fenster. Ronnie kaute nervös an der Bettdecke und eine sich lösende Faser geriet in seinen Rachen und ließ ihn husten. Das Kratzen hörte auf. Das Monster hatte ihn gehört. In der Stille lauschte Ronnie dem feuchten Hauch seines wartenden Atmens.

Ronnie versuchte zu beten. Der Prediger hatte gesagt, dass Gott alle Sünden vergab und die Kinder beschützte. Wenn Gott über Himmel und Erde herrschte, dann herrschte er bestimmt auch über die Dämonen.

Lieber Jesus, bitte vergib mir für die Sünden in meinem Herzen. Ich weiß, dass ich schlechte Gedanken gehabt habe, und ich bin seit drei Wochen nicht mehr errettet worden. Aber ich will DICH in meinem Herzen und nicht das Ding mit Lebern statt Augen. Bitte, bitte, hol mich hier raus Ich verspreche dir, dass ich mich von nun an jede Woche retten lasse, auch wenn Prediger Staymores Atem riecht wie verrottetes Obst. Amen.

Ronnie öffnete unter seiner Bettdecke die Augen. Es wirkte. Die feuchten Geräusche entfernten sich. Das Gebet hatte den Dämonen zurück in die Hölle geschickt, oder vielleicht zurück zur roten Kirche.

Danke Danke Danke, oh Herr–

Das Kratzen begann von Neuem und Ronnie fühlte sich, als ob die Tür zu seinem Herzen zugeknallt wäre. Auf der anderen Seite des Zimmers drehte sich Tim im Schlaf um. Wenn das Glockenmonster durch das Fenster hereinkäme, könnte es Tim erwischen.

Und wenn es Tim erwischt, lässt es mich vielleicht in Frieden.

Sobald er diesen Gedanken gedacht hatte, erhitzte sich sein Gesicht aus Scham. Hatte Jesus nicht gesagt, dass man seinen Bruder lieben sollte? Oder war das eines der Zehn Gebote? Egal, er hatte sich eine weitere Sünde des Herzens zuschulden kommen lassen und Jesus würde ihn noch mehr bestrafen.

Mutig wäre, hinauszugehen und sich dem Monster zu stellen. Damit es ihn aufreißt und an seinem sündigen Herzen kaut, so wie es Boonie Houck aufgerissen hatte und wahrscheinlich Zeb Potter und die Person am Straßenrand.

Mom sagte, dass Archer McFall verkündete, dass Opfer der Weg in den Himmel seien. Wenn Ronnie sich selbst opferte, vielleicht würde ihn dann Jesus zu sich nehmen, anstatt zuzulassen, dass ihn der Dämon an den heißen Ort hinunterschleppte. Aber Archer McFall war sonderbarer als alle Prediger, von denen Ronnie jemals gehört hatte. Wer sonst würde seine Gottesdienste in einer Kirche abhalten, in der es spukt? Und die Erinnerung an die seltsamen Lieder, die Mom und die anderen gesungen hatten, ließ ihn mit einem seltsamen, üblen Genuss erschauern.

Die Klauen befanden sich nun auf dem Fensterbrett und untersuchten den Spalt an der Unterkante des Fensters. Ronnie konnte sich nicht erinnern, ob das Fenster verriegelt war. Mom hatte es gestern hochgeschoben, um frische Luft hereinzulassen, und nachdem sie gegangen war, war Ronnie sofort aufgestanden und hatte es wieder verriegelt. Aber vielleicht hatte sie es wieder entriegelt, während er schlief.

Schritte kamen den Flur entlang, schwere Schritte. Dads Stiefel. Ronnie zog die Decke von seinem Kopf und setzte sich auf, nun mutiger, weil Dad zu Hilfe kam. Er konnte nicht anders. Er musste zum Fenster blicken.

Durch die Vorhänge sah Ronnie, wie sich das Glockenmonster gegen die Scheibe presste. Es war feucht und veränderte seine Form, während er hinschaute, das hellere Grau seines Mundes teilte sich aus Wut oder Verlangen.

Und er sah die Augen.

Lebern.

Nass, triefend, glitschig und rot.

Augen, die genau in die von Ronnie blickten, die seine Augenhöhlen hinabkletterten in sein Gehirn, um von seinem Gehirn nach seinem Herz zu greifen, um zu sagen: Nun gehörst du mir, du hast immer mir gehört, kannst du mich anklopfen hören?

Dann wurde die Tür zum Kinderzimmer aufgerissen, Licht aus dem Flur ergoss sich in das Zimmer und Dads langer Schatten füllte die Türöffnung aus.

»Runter«, brüllte Dad und Ronnie ließ sich zurück auf die Kissen fallen, als der erste Schuss aus Dads Gewehr explodierte.

Glas zersplitterte, als die Erschütterung von den Wänden zurückgeworfen wurde.

Dad riss den Bolzen zurück, lud nach und feuerte noch einmal.

Pulverdampf füllte Ronnies Lungen und obwohl er ihn nicht riechen konnte, konnte er ihn schmecken, beißend wie Autoabgase auf seiner Zunge.

Tim wachte schreiend auf. Mom rannte in das Zimmer und nahm ihn in die Arme, bevor sie zum Fenster blickte.

Dad eilte durch den Raum und blickte durch die zerbrochene Scheibe. Zackiges Glas rahmte ihn ein und funkelte im Mondlicht wie scharfe Zähne.

»Ist es weg?«, fragte Mom. Tim weinte an ihrer Brust, seine Schauder schüttelten sie beide.

»Ich kann es nicht sehen«, sagte Dad mit dem Gewehr an der Schulter.

»Hast du es getötet?«, fragte sie.

»Wer zur Hölle weiß das?«

»Wird es zurückkommen?«

Dad wandte sich vom Fenster ab und starrte sie an. »Sag’s mir. Du bist die verdammte Prophetin.«

Prophetin?, dachte Ronnie. Wie Hesekiel und Abraham und all die anderen? Begann Dad eine Sünde des Herzens?

Dad beugte sich über Ronnies Bett. »Bist du okay?«

Ronnie nickte.

Ja, ich bin so okay, wie ich es jemals sein werde, wenn man bedenkt, dass das Ding mit Lebern statt Augen hinter mir her ist, weil ich in meinem Herzen gesündigt habe, und jetzt ist es auch hinter DIR her. Und meine Nase tut weh und ihr streitet wieder und ich werde nicht weinen, ich werde nicht–

Dad saß auf dem Bett und wischte Ronnies Tränen aus seinem Gesicht. »Es ist fort. Du bist in Sicherheit. Ich werde nicht zulassen, dass das Ding dich kriegt.«

»V–versprochen?«

»Ja.«

»Wirst du hier bleiben?«

Dad wurde starr, dann schaute er zu Mom. Ronnie fühlte den Hass in der Luft, eine schwarze Elektrizität, so fies wie das Glockenmonster und fast so furchteinflößend.

Tim hatte aufgehört zu weinen und winselte nun nur noch etwas in die Falten von Moms Hemd. Ronnie wusste, dass sein kleiner Bruder darauf wartete, was als Nächstes passieren würde. Sie wussten beide, was auf dem Spiel stand. Wenn Dad wieder ging, würden sie dem Glockenmonster ausgeliefert sein. Und trotz seiner Versprechen konnte Dad gerade wütend genug sein, um sie alle zurückzulassen, um in seinem Pick-up irgendwohin zu fahren und Bier zu trinken und andere Dinge zu tun, die er noch nie zuvor getan hatte.

Das war einer dieser Wendepunkte, wie wenn der Herr anklopfte und man öffnete entweder die Tür oder man tat es nicht. Wenn sich alles änderte, entweder zum Besseren oder zum Schlechteren. Es gab keinen Weg zurück in die letzte Woche, als das Leben noch fast normal gewesen war und alles, worüber sich Ronnie Sorgen machen musste, Hausaufgaben und Melanie Ward gewesen waren. Jetzt ging es ums Ganze.

Dad blickte wieder zu Mom, dann zu Tim, dann auf das zersplitterte Fenster. Der Himmel hatte das Dunkelblau des frühen Morgens angenommen und sogar die Grillen hatten mit ihrem Gezirpe aufgehört. Irgendwo in den Bergen bellte ein Jagdhund, ein verlorenes, einsames Geräusch in der Vormorgendämmerung.

»Ich bleibe«, sagte Dad, während er aus dem Fenster auf die dunklen Berghänge starrte.

Ronnie bewunderte die Muskeln in den Kiefern seines Dads, die Art, wie er den Kopf stolz in die Höhe reckte, ohne einen Anflug von Nachgiebigkeit zu zeigen. Dad sagte, dass ein Mann seine Kraft von Gott beziehen sollte, dass niemand, der auf den da oben baute, vor irgendetwas Angst haben musste. Und Dad hatte auch ein ziemlich gutes Argument: Warum sollte man davor Angst haben zu sterben, wenn einen der Tod in die Gesellschaft der ewigen Herrlichkeit brachte?

Wenn Ronnie an den Himmel dachte, dann stellte er ihn sich immer so vor wie auf der farbigen Illustration in Dads Bibel, vor dem Anfang des Neuen Testaments. Das Bild präsentierte Jesus am oberen Ende einer Treppe, deren goldene Stufen durch die Wolken führten. Jesus hatte lange Haare und einen braunen Bart und die traurigsten Augen, die Ronnie jemals gesehen hatte. Er hatte die Arme ausgestreckt und seine Handflächen zum Gruß erhoben, aber es befand sich niemand auf der Treppe. Der Himmel sah aus wie ein ziemlich einsamer Ort.

Und außerdem, egal wie wunderbar der Himmel war, das Neue machte Ronnie immer Angst. Wie der erste Schultag, der Augenblick, als er Melanie das Gedicht gegeben hatte, das erste Mal, als er die rote Kirche betreten hatte, diese Streitereien zwischen Mom und Dad. Deshalb würde er am liebsten hier im Bett bleiben, wenn Dad neben ihm saß und Mom und Tim sich unter dem gleichen Dach befanden. Er würde am liebsten einfach weiterleben, vielen Dank auch.

Sogar mit einer gebrochenen Nase und dem Monster auf der Jagd nach ihm und Hausaufgaben und einer Mutter, die Zeit mit diesem unheimlichen Prediger verbrachte.

Sogar mit all dem.

Er schloss die Augen und wartete darauf, dass die Sonne aufgehen würde.

 

Archer kauerte im Wald in der Nähe der Kirche. Er hatte den Sheriff unter die Bäume gezogen, nachdem er Linda weggeschickt hatte. Sie würde nicht verstehen, warum es dem Sheriff gestattet sein sollte weiterzuleben. Sie war eine gute Jüngerin und sie würde sich bereitwillig selbst aufopfern, aber sie war nicht auf die Wahrheit vorbereitet. Keiner von ihnen war es.

Archer ließ seinen Blick über die Landschaft schweifen, seine großen Katzenaugen durchdrangen die Dunkelheit. Gott herrschte über das Himmelsreich, aber er hatte Archer das Reich der Erde gegeben, mit der Herrschaft über all die Kreaturen, die es bewohnten. Archers Bruder Jesus hatte diese Macht missbraucht, er war unter den Menschen gewandelt und hatte sie mit seinen Botschaften von Liebe und Hoffnung in Verwirrung gestürzt. Vor dem Aufstieg des Christentums war der Einzug in den Himmel nur durch Schmerzen, Prüfungen und Opfer möglich. Wenn die von Jesus begangenen Blasphemien von der Erde getilgt waren, würden sich die Menschen wieder diesen echten Glaubensprüfungen zuwenden.

Von all den grotesken christlichen Vorstellungen war die lächerlichste die, dass ein Sünder dadurch, dass ihm vergeben wurde, in den Himmel einziehen konnte. Aber sie war so überaus menschlich. Warum sich damit abplagen, das rechte Leben zu führen und die Härten des wahren Glaubens zu ertragen, wenn man nur »Komm in mein Herz« sagen musste und Jesus sofort zur Stelle sein würde, um einen mit seinen Lügen hinters Licht zu führen.

Archer würde ebenfalls Vergebung erteilen. Aber seine würde erst ausgesprochen werden, nachdem der Sünder auf die Knie gefallen war und gefleht und gebettelt hatte, während die dunklen Klauen der Gerechtigkeit die Reinigung vollzogen. Erlösung musste mit Blut bezahlt werden. Rettung musste auf die harte Weise verdient werden.

Und der Vater oben würde vor Eifersucht brennen, wenn Archer dort erfolgreich war, wo Jesus versagt hatte.

Archer fühlte einen kurzen, stechenden Schmerz. Kugeln durchlöcherten die Manifestation, die am drei Meilen entfernten Haus der Days lauerte. Archer warf den Kopf in den Nacken und knurrte mit einem Lachen den Mond an, dann schickte er die Erscheinung wieder in ihr Zuhause in den Glockenstuhl. Sollte sie dort die Schatten essen bis zu ihren Aufgaben in der kommenden Nacht.

Bald würde der Morgen anbrechen. Der Wald befand sich in einem Augenblick angehaltenen Atems während der Wachablösung, wenn die nachtaktiven Tiere in ihre Nester und Höhlen zurückkehrten und die morgendlichen Singvögel den Schlaf aus ihren Köpfen schüttelten. Was für eine wunderbare Welt Gott geschaffen hatte. Bis auf den Schandfleck menschlicher Herzen – ein Schandfleck, der das Resultat von Gottes Unsicherheit war – glich die Erde in ihrer Herrlichkeit fast dem Himmel.

Aber Archer war hier, um diesen Schandfleck auszulöschen. Alles, was sündigte, musste zerstört werden, damit eine neue, reine Welt entstehen konnte. Und alle auf Erden hatten gesündigt, sogar Jesus. Besonders Jesus. Alle, außer dem zweiten Sohn.

Archer leckte sein Fell, geduldig im Wissen, dass er für immer Zeit hatte. In der Zwischenzeit würde er mit der Reinigung hier am Ort seiner Geburt als Mensch fortfahren. Hier, wo Wendell McFalls Seele gefangen worden war, wo Archer selbst den Hohn und Spott der Unredlichen hatte ertragen müssen. Hier, wo die, die ohne Sünde waren, sich zu einer Karawane der Blasphemie und der Verhöhnung versammeln konnten.

Archer berührte mit den Zähnen den Kragen des Sheriffs und biss vorsichtig zu. Die Augenlider des Sheriffs erzitterten, als Archers warmer Atem seinen Nacken kitzelte, aber er erwachte nicht. Der Geruch der Sünden des Manns und der aller Generationen von Littlefields füllte Archers empfindliche Nase.

Bevor Littlefield für seine eigenen Sünden bezahlte, musste er für die Sünden seiner Vorfahren leiden. Archer zog ihn über den Friedhof, zu einem besonderen Ort der Bestrafung. Littlefield dachte, dass der Tod seines jüngeren Bruders genügte, das Erhängen von Wendell McFall zu sühnen. Aber er würde bald lernen, dass Opfer die Währung eines eifersüchtigen Gottes waren – und auch die eifersüchtiger Söhne.

Es war ein Genuss, ein Messias zu sein.

Dunkle Zeiten: Die ultimative Thriller-Collection
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