23
Das Telefon weckte Julia vor dem Morgengrauen. Sie drehte sich um, trat mit den Füßen gegen die Wolldecken und war einen Moment lang in einem eigenartigen Traum gefangen, in dem sie lebendig begraben wurde. Das Bett war feucht vor Schweiß. Sie blinzelte zum Digitalwecker hinüber, erinnerte sich dann, dass er im Abfallkübel lag.
Sie tastete nach dem Mobiltelefon auf der Kommode und warf es beinahe zu Boden, bevor sie es schließlich ans Ohr hielt. Nachts kamen nur wichtige Anrufe, üblicherweise mit schlechten Nachrichten. In letzter Zeit gab es nur noch solche. „Hallo?“, sagte sie und versuchte, nicht verschlafen zu klingen.
„Julia.“
„Frau Doktor?“
„Sie gehorchen meinen Anweisungen nicht.“
„Wie bitte?“ Julia setzte sich im Bett auf.
„Ich habe Ihnen gesagt, dass Sie sich von diesem Mann fernhalten sollten. Er ist Ihrer Heilung nicht förderlich.“
„Welcher Mann?“
„Sie wissen schon. Haben Sie geträumt?“
Julia versuchte sich zu erinnern, obwohl sie wusste, dass nur böse Dinge in den grauen Schatten ihres Halbbewusstseins lauerten. „Ja, ich habe geträumt, dass Vati mich in einem Zimmer einschloss, aber das Zimmer war in Wirklichkeit eine Kiste. Ich konnte nicht atmen und ich schlug mit den Armen an die Seiten der Kiste, um mich zu befreien –“
Sie bemerkte, dass ihre Arme schmerzten, und fragte sich, ob sie wohl im Schlaf um sich geschlagen hatte.
„Sie wissen doch, was das bedeutet, Julia?“
„Nein.“ Julia fürchtete sich vor einer möglichen Antwort.
„Ihr Vater hatte Sie jahrelang unterdrückt, bevor die tatsächliche Misshandlung geschah.“
„Aber ich war ja nur ein kleines Kind. Wie könnte ich mich an all das erinnern?“
„Die Erinnerung liegt im Körper, Julia. Einige Frauen haben über versuchte Abtreibungen berichtet; sie konnten sich an Dinge erinnern, die geschahen, als sie sich noch in der Gebärmutter befanden.“
„Bevor sie überhaupt geboren wurden?“ Julia war jetzt voll bei Bewusstsein. Ihr Herz raste und jegliche Entspannung, die sie im Schlaf gewonnen hatte, war verschwunden.
„Wir sind erst am Anfang in unserer Erforschung des menschlichen Gedächtnisses und der Art, wie das Gehirn Informationen speichert. Es ist möglich, dass das Gedächtnis auf der zellulären Ebene wirkt und dann wäre sogar der Augenblick der Empfängnis irgendwo aufgezeichnet. Das Problem liegt natürlich beim Abfragesystem. Deshalb brauchen Sie Hilfe.“
Julia dachte an Walters Worte, dass es manchmal besser war, die Vergangenheit ruhen zu lassen. „Vielleicht ist es gar nicht gut, sich an all das zu erinnern.“
Dr. Forrest seufzte. Julia wunderte sich, ob sie je schlief.
„Julia, wir müssen Sie heilen. Wir benötigen mehr Überlebende. Die Macht liegt in der Menge. Es geht um die Wahrheit. Und es geht darum, anderen zu helfen.“
„Ich .... weshalb haben Sie mir nicht früher gesagt, dass auch Sie missbraucht wurden?“
„Weil ich die Ärztin bin, Julia. Ich habe es Ihnen nur gesagt, damit Sie wissen, dass Sie nicht allein sind.“
Julia versuchte, sich die Dunkelheit aus den Augen zu wischen. „Wie spät ist es?“
„Kurz nach vier.“
„Weshalb rufen Sie mich jetzt an?“
„Sie brauchen mich doch, oder etwa nicht?“
„Natürlich.“
„Sagen Sie mir, was sonst noch in Memphis geschehen ist.“
„Ich habe Ihnen alles erzählt.“
Mit Ausnahme der hölzernen Bauklötze auf dem Tisch und des silbernen Schädelrings und vielleicht einiger anderer Dinge, die ich entweder vergessen habe oder die ich vor mir selbst verberge.
„Julia, Sie sollten keine Geheimnisse vor Ihrer Therapeutin haben.“
„Ich habe keine Geheimnisse.“
„Sie haben mit einem Polizisten gesprochen. Sie gingen zum Haus zurück, in dem Sie aufgewachsen waren. Sie sahen die Scheune, in der sie Opfer des satanischen Rituals wurden. Warum haben sie nicht die Polizei angerufen und ihr von der Scheune berichtet?“
Wer hatte ihr diese Dinge erzählt? „Weil ich mich fürchtete.“
„Wovor fürchten Sie sich? Sie sollten sich nie vor der Wahrheit fürchten.“
„Weil ich dachte, dass die Polizei mir sowieso nicht glauben würde. Sie hätten mir auch nicht geglaubt, dass Mitchell mich angegriffen hat.“
„Bin ich die Einzige, der Sie vertrauen können?“
Nein. Vielleicht konnte sie Walter vertrauen. Oder? Ihre Schläfen pulsierten und sie rieb sich die Stirne. „Ja, Dr. Forrest.“
„Dann werden Sie tun, was ich Ihnen sage?“
„Ich will, dass es mir besser geht.“
„Kommen Sie heute zu mir ins Büro. Ich möchte Ihnen jemanden vorstellen.“
„Heute?“ Julia dachte an die Redaktionskonferenz bei der Zeitung. Sie musste noch viel Arbeit erledigen.
„Zehn Uhr morgens.“
„Ich glaube nicht, dass das möglich ist.“
„Sie müssen kommen. Sie möchten doch geheilt werden?“
„Ja.“
„Sie möchten der Mensch werden, der Sie wirklich sind.“
„Ja.“
„Sie wollen doch frei sein.“
„Natürlich.“
„Er besitzt Sie, Julia.“ Es klickte in der Hörmuschel, als die Therapeutin auflegte.
Julia legte das Telefon hin und setzte sich auf den Bettrand. Er besitzt Sie. Die Dunkelheit um sie herum nahm Substanz an und sank auf sie nieder wie dickflüssiges, schwarzes Gelee.
Sie hörte kleine Geräusche am Fenster. Es klang, als ob die Federn eines Vogels an der Scheibe kratzten. Julia drehte sich um und schaute zu den Vorhängen. Sie sah zwei rote glühende Punkte.
Julia stürzte sich beinahe in die Bettdecken, um den Kopf zu vergraben und sich von der Panik ersticken zu lassen, um den letzten Atemzug zu nehmen. Die Augen konnten keinesfalls rot sein. Es musste der Spanner sein, der wieder aufgetaucht war.
Ihr Gesicht wurde rot vor Wut. Sie würde dafür sorgen, dass er sie niemals mehr beobachten würde. Sie langte unter das Bett, ergriff den Baseballschläger und rannte zum Fenster.
Sie hörte die Stimme klar und deutlich. „Er besitzt dich, Juuulia.“
Sie ließ den Schläger fallen. Die beiden roten Flecken verschwanden.
Schließlich kam die Morgendämmerung und graues Licht füllte den Raum. Benommen duschte Julia und kleidete sich im Badezimmer an. Sie ließ den Schläger in der Nähe. Als sie angezogen war, rief sie bei der Polizei von Elkwood an. Sie nannte ihren Namen und fragte, ob der Ermittlungsbeamte, der den Fall des Spanners bearbeitete, sie um zehn Uhr in Dr. Forrests Büro treffen könnte. Als der Polizeibeamte nähere Informationen verlangte, legte Julia auf.
Der Morgen war dunkel und eine dicke, bedrückende Wolkendecke breitete sich am Himmel aus. Die Luft war still. Selbst die farbigen Blätter sahen verwaschen aus. Die Gelb- und Rottöne färbten sich langsam bräunlich. Ein leichter Nebel verhüllte die umliegenden Berge und der Geruch sich nähernden Regens kämpfte mit den süßeren Aromen des herbstlichen Zerfalls und des Grases. In den Wohnungen auf der gegenüberliegenden Seite der Straße rührte sich nichts und Mrs. Covingtons Schaukelstuhl war leer.
Als Julia im Büro der Times ankam, wartete Rick bei ihrem Schreibtisch auf sie. „Du lieber Himmel, siehst du schrecklich aus“, sagte er, während er mit einem Bleistift in seinem Kaffee rührte.
„Guten Morgen, Meister des Mitgefühls.“ Julia erwartete, dass er sie wieder fragte, wer der Glückliche gewesen sei, der sie am Schlafen gehindert hätte. Er presste jedoch nur die Lippen zusammen und nickte.
„Etwas Neues bei deiner Theorie zu den satanischen Morden?“, fragte sie.
„Nein. Ich hab einen Termin für ein Interview mit Snead heute Morgen. Die Chefredakteurin wird mich dafür lieben.“
Wenn sie dich nur halb so liebt wie du dich selber liebst, wäre es die Romanze des Jahrhunderts. „Viel Glück. Nun, ich habe viel Arbeit. Wie immer.“
„Es sind noch ein paar Tage bis zum Redaktionsschluss.“ Er rückte näher und schaute auf sie hinunter. „Wozu die Eile?“
Julia schaute sich nervös in ihrem kleinen Büro um. Ihr Herz schlug schnell und die Panik schlich sich aus den Ecken bedrohlich an sie heran.
„He, was ist los?“ Rick stellte seinen Kaffee auf dem Schreibtisch ab, trat zurück und hob seine Hände in die Höhe. Sein Gesichtsausdruck glich dem eines unschuldigen Teddybärs.
Julia platzierte ihren Ellbogen auf dem Tisch und stützte den Kopf mit der einen Hand. „Es ist nichts; ich bin nur müde.“
„Nun, ich wollte dich fragen, ob du heute Abend mit mir und einigen Freunden ausgehen möchtest, aber dann wohl nicht. Er besitzt dich.“
Julia schwang sich auf dem Stuhl herum und versuchte aufzustehen, aber ihre Knie waren zu schwach. Sie rang nach Luft und flüsterte: „Was hast du gesagt?“
„Um Gottes willen, was ist mit dir los, Julia?“
„Du hast gesagt ‚Er besitzt dich‘.“
Er zog die Augenbrauen in die Höhe. „Ich habe nichts Derartiges gesagt.“
Julias Puls raste und ihr stockte der Atem.
„Du solltest nach Hause gehen und dich ausruhen“, sagte Rick und trat einen Schritt zurück. „Du siehst krank aus.“
Julia zog eine Wasserflasche aus der Tasche und nahm einige Schlucke. Ihre Hände zitterten so stark, dass das Wasser in der Plastikflasche hin und her schwappte. Sie schämte sich, dass Rick sie in diesem Zustand sah. „Ich glaube, ich kriege die Grippe.“
Rick zog sich Richtung Tür zurück. „Wenn ich du wäre, würde ich zum Arzt gehen.“
„Werd ich auch tun“, sagte sie. „Um zehn Uhr.“
„Na, dann stirb mir vorher nicht“, sagte Rick und warf einen Blick auf zwei Grafiker, die im Flur vorbei gingen, als ob sie Notfallhilfe leisten oder ihm wenigstens die Gelegenheit zur Flucht bieten würden.
„Es wird schon wieder“, sagte sie. „Ich muss nur noch etwas arbeiten, bevor ich gehe.“
„Ja“, sagte Rick und wich ihrem Blick aus. „Nun, ich muss mich auf das Interview vorbereiten.“
„Tschüss“, sagte sie, aber er war bereits weg. Julia blickte in ihre offene Tasche. Die Schachtel wartete unter ihrer Brieftasche, dem Schlüsselring und den Papiertaschentüchern. Ihre Finger verlangten danach, sie zu berühren, aber die Erinnerung an die eigenartige Energie verfolgte sie noch immer.
Sie langte in die Tasche und grub mit den Fingern bis zum Boden, bis sie die hölzerne Schachtel spürte. Ihre Finger tasteten das eingeschnitzte Symbol ab. Sie öffnete den Deckel mit dem Daumen und wühlte im Tuch herum. Sie berührte das kalte Metall und zog den Ring heraus.
Julia hielt den Ring mit dem Daumen und Zeigefinger der rechten Hand. Wieder schien sich der Ring gegen ihre linke Hand zu bewegen, als ob er eine eigene Schwerkraft besäße. Dann war der Ring an ihrem Finger und seine Hitze durchflutete sie wie orangefarbene Wellen. In ihrem Kopf erklangen die kehligen Worte eines Wahnsinnigen. „Mit diesem Ring vermähle ich dich.“
Sie riss sich den Ring vom Finger und schleuderte ihn in die Tasche. Es dröhnte in ihren Ohren; das Blut wich aus ihrem Kopf. Sie neigte sich nach vorne und kämpfte gegen die Übelkeit an. Die Wände umschlossen sie wie die Seiten eines Sarges.
Atme, Julia.
Zähle.
Wie Dr. Forrest es dir gezeigt hat.
Sie begann und konzentrierte sich auf jede Zahl, stellte sich die Zahlen als kristallklare Formen vor. Ihre Ränder wurden weicher, als sie sie in Gedanken schmolz. Die Zahl Zehn war die schwierigste, da sie sich wehrte und zu entweichen versuchte, bevor sie sie festnageln konnte. Die Neun kam und ging etwas langsamer. Bei Acht konnte sie wieder atmen. Nach Sieben und Sechs würde sie überleben können.
Bei Fünf konnte sie die Augen öffnen und sich auf den tiefen, reinigenden Atem konzentrieren, der die Angst wegtrug. Vier, Drei und nun noch langsamer die Zwei und sie musste beinahe gähnen. Dann die Eins, das Ende, Entspannung. Diese wirksame Selbsthypnose half ihr, wieder klar an das zu denken, was Dr. Forrest ihr vorgeschlagen hatte.
Bringen Sie es ans Licht. Lassen Sie den Schmerz an die Oberfläche. Schauen Sie dem Alptraum in die Augen. Lassen Sie sich nicht unterkriegen.
Vielleicht wäre es besser, sich unterkriegen zu lassen. Sie könnte sich im Keller ihres Kopfes verkriechen, sich die Augen zuhalten und einfach warten.
Warten worauf?
Auf Vati, der mit Umhang und Kapuze bekleidet aus dem Schatten tritt, den Schädelring am Finger und das kalte und grausame Messer in der Hand?
Sie zwang sich unter Schaudern in die Gegenwart zurück und starrte auf den leeren Bildschirm ihres Computers. Sie schaltete ihn ein und der Bildschirm flammte auf. Der Computer führte die Ladebefehle durch und als Bildschirmschoner erschien ein tiefrotes Feld.
Mittendrin standen weiße, skelettartige Buchstaben:
Er besitzt dich, Juuulia.
Sie stach mit dem Zeigefinger auf den Einschaltknopf und erwartete halbwegs, dass ihr der Computer einen elektrischen Schlag verpassen würde. Sie griff nach ihrer Tasche und eilte auf den Flur hinaus. Sie rannte beinahe einen Anzeigenvertreter um. Er rief ihr nach, als sie aus dem Gebäude in den grauen Morgen hinein taumelte. Der Parkplatz erschien ihr wie Wasser, durch das sie waten musste.
Wenn ich es nur bis zu Dr. Forrest schaffe.
Sie warf sich in den Subaru und es gelang ihr, bis zum Büro ihrer Therapeutin zu fahren, ohne mit dem Fahrzeug im Graben zu landen, auch wenn sie von einigen anderen Autofahrern angehupt wurde. Ein Streifenwagen war vor dem Büro geparkt. Er glänzte, obwohl ein Dunstschleier die Sonne verbarg. Die Sekretärin wies Julia in das Büro und sagte, dass die Ärztin sie erwartete. Julia warf einen Blick auf die Uhr; es war nur wenige Minuten nach neun Uhr.
Sie klopfte an Dr. Forrests Tür.
„Kommen Sie herein, Julia“, ertönte die gedämpfte Stimme der Therapeutin.
Julia trat ein. Dr. Forrest stand am Fenster neben einem großen, dünnen Mann, der sie anlächelte. In seiner Tweedjacke und ohne Waffe hätte er ausgesehen wie ein Englischlehrer. Sein Gesicht war voller Falten, aber seine dunklen Haare zeigten nur wenig Grau. Die Augen des Polizisten waren kalt und dunkel.
„Julia, das ist Polizeichef T. L. Snead“, sagte Dr. Forrest.
Snead.
Julia schwankte, als ob man ihr den Boden unter den Füßen weggezogen hätte. Nun erkannte sie ihn. Er war eine gealterte Version des Polizisten auf den alten Zeitungsfotos.
Das war Snead, der Mann, den sie in Gedanken in ein Monster verwandelt hatte. Hier stand sie dem Mann gegenüber, von dem sie glaubte, dass er satanische Morde verheimlichte. Der das Verschwinden ihres Vaters nicht gelöst hatte. Der sie von Memphis aus bis in diese kleine Stadt in den Blue Ridge Mountains verfolgt hatte.
Snead streckte ihr die Hand entgegen und sie bemerkte, dass das oberste Glied des kleinen Fingers fehlte. Der Stummel war zu einer roten Narbe verheilt. Sie trat einen Schritt zurück.
„Sie sind also Julia“, sagte Snead ohne Anflug eines Gefühls. „Ich habe mich immer gefragt, was für eine Frau aus dem Kind geworden ist.“
„Was machen Sie hier?“
„Ich habe mich entschlossen, den Fall selbst zu bearbeiten“, sagte Snead. „Verletzung der Privatsphäre ist ein sehr schlimmes Vergehen, wie Sie sicher aus erster Hand wissen. Ich will dafür sorgen, dass die richtige Person verurteilt wird.“
Julias Wut überwältigte für den Moment ihre Angst und Verwirrung. „Was meinen Sie mit der richtigen Person? Gestern wurde der Kerl verhaftet. Sie haben die Aussagen von Walter Triplett und von mir.“
„Der Verdächtigte erzählt eine andere Geschichte. Er behauptet, dass Mr. Triplett in Ihrem Haus war.“
„Und Sie glauben ihm?“ Julia wandte sich an Dr. Forrest um Hilfe, aber die Therapeutin verschränkte die Arme und sagte nichts. „Der Kerl hat zugegeben, dass er beauftragt wurde, meinen Verlobungsring zu stehlen und mich zu belästigen.“
„Angeblich. Aber Mr. Triplett ist selbst durch einige – sagen wir mal Verdächtigungen – belastet. Wir müssen die Sache genauer untersuchen.“
„Warum hat dann Ihre Abteilung im Haus nicht nach Fingerabdrücken gesucht?“
Snead lächelte. Seine Lippen gaben ihm das Aussehen eines Reptils, das soeben eine schmackhafte Beute verschluckt hatte. „Woher wollen Sie wissen, dass wir das nicht getan haben?“
„Jemand war wieder vor meinem Fenster heute Nacht, gerade nachdem ich mit Ihnen am Telefon gesprochen hatte, Dr. Forrest.“
Die Therapeutin runzelte die Stirne. „Sie haben sich das womöglich nur eingebildet. Sie wissen ja, dass Paranoia eine der Nebenwirkungen einer nicht spezifischen Panikstörung ist.“
„Nein. Es hat sich zugetragen. Er sagte: ‚Er besitzt dich‘.“
Snead und Dr. Forrest blickten einander an. Dann sagte Snead, „Haben Sie Beweise?“
„Vielleicht könnten Sie nach Fingerabdrücken oder sonst etwas suchen. Ich weiß nicht. Ich habe schließlich keine Videokamera laufen lassen.“
„Weshalb haben Sie solche Angst, Julia?“, fragte Snead.
Sie starrte auf die beigen Wirbel im Teppich. Sie erinnerte sich an etwas, das ihr James Whitmore in Memphis erzählt hatte. Polizisten vergaßen nie die Fälle, die sie nicht lösen konnten. „Weshalb sind Sie mir aus Memphis gefolgt?“
„Ich bin Ihnen nicht gefolgt“, sagte Snead. „Ich war bereits hier.“
Vor ihr? Dann musste er ihre Aufenthaltsorte verfolgt haben. Hatte Elkwood eine Verbindung mit dem Verschwinden ihres Vaters? Obwohl Dr. Forrest Julia überzeugt hatte, dass ihr Vater ein schrecklicher Mann war, der sie missbraucht hatte, wollte sie dieses Rätsel ihrer Vergangenheit lösen. Sneads Interesse an ihr war jedoch ein noch dunkleres Rätsel.
„Ich bin mit Dr. Forrest befreundet“, fuhr Snead fort. „Wir sind zusammen aufgewachsen. Und ich habe mehrere Gespräche mit ihr und Dr. Lanze, Ihrem Therapeuten in Memphis, geführt. Ich dachte, wenn ich mir mehr Klarheit über Sie beschaffen könnte, würde mir dies helfen, das Verschwinden Ihres Vaters zu lösen. Außerdem war ich neugierig, welche Wirkung diese Tragödie auf Sie hatte.“
„Ich dachte, dass die Informationen zwischen Arzt und Patienten vertraulich seien.“ Sie warf Dr. Forrest einen anklagenden Blick zu. Die ältere Frau berührte ihren Unterleib, als ob sie Julia an das eingeritzte Pentagramm erinnern wollte.
„Ein Arzt kann eine Diagnose mit jemandem teilen, Julia“, sagte Dr. Forrest. „Was wir nicht dürfen, ist Transkriptionen, spezifische Ereignisse oder Geständnisse aus der Therapie weitergeben.“
Das klang nicht wie etwas, das Julia jemals zuvor gehört hatte, obwohl der größte Teil ihres rechtlichen Wissens aus der Fernsehserie „Law and Order“ stammte.
„Weshalb machen Sie es sich nicht bequem?“, sagte die Therapeutin. Sie trat hinter Julia und schloss die Tür. Snead stand in soldatischer Haltung beim Fenster. Julia setzte sich auf ihren gewohnten Stuhl und hielt die Tasche auf dem Schoß.
Dr. Forrest kehrte zu ihrem eigenen Sitzungsstuhl zurück. „Nun, Julia, was bringt Sie heute Morgen zu mir?“
Julia klammerte sich an die Seitenlehnen des Stuhls. „Sie haben mich aufgefordert, zu Ihnen zu kommen.“
Das Gesicht der Therapeutin wurde traurig und die Falten um ihren Mund vertieften sich. „Julia, Julia. So erreichen wir keine Heilung. Sie können mich anlügen, so viel sie wollen. Das macht mir nichts aus. Das Problem ist aber, dass Sie sich selbst anlügen.“
„Sie haben mich mitten in der Nacht angerufen“, sagte Julia.
„Sie haben sich das nur eingebildet, genauso wie sie sich die Person am Fenster eingebildet haben.“
Julia drückte ihre Tasche zusammen; das Leder wurde feucht von ihren schweißnassen Händen. Obwohl sie auf dem Stuhl saß, wurde ihr schwindlig. Es kam ihr vor, als ob sie auf einem fliegenden Teppich schwebte.
„Also, nehmen wir einmal an, dass Sie sich das nicht eingebildet haben“, sagte Dr. Forrest. „Was glauben Sie hat diese Person am Fenster gesagt?“
„Er besitzt dich“, flüsterte Julia.
„‚Er besitzt dich‘. Was glauben Sie, was das bedeutet, Julia?“ Die Therapeutin stützte die Arme auf und legte die Finger an einander. Sie überkreuzte die Beine. Snead schaute zu, als ob Julia ein Versuchskaninchen wäre. Warum schickte ihn Dr. Forrest nicht weg?
„Ich weiß nicht, was es bedeutet.“
„Dann sage ich es Ihnen. Ihr Unterbewusstsein sagt Ihnen, dass Sie sich noch immer von den Sünden Ihres Vaters beeinflussen lassen. Sie sind noch immer eine Sklavin der Vergangenheit. Aber dass Sie bereit sind, die Botschaft zu hören, ist ein gutes Zeichen, ob sie nun von einem Traum kommt oder nicht.“
„Ich will keine Botschaften hören“, sagte Julia. „Und ich will in seiner Anwesenheit nicht darüber sprechen.“ Julia wich Sneads Blick aus.
„Sie vertrauen mir doch, nicht?“ sagte Dr. Forrest.
„Nun, ja.“
„Dann wissen Sie, dass ich nur das Beste für Sie will.“
Julia lehnte sich in den Stuhl zurück. „Ich ... ich bin mir über nichts mehr sicher.“
Dr. Forrest beugte sich nach vorn und berührte Julias Knie. „Die Erinnerung ist im Körper, Julia. Zelluläres Gedächtnis. Lassen Sie sie frei. Atmen Sie.“
Nein. Dr. Forrest würde sie nicht hypnotisieren, nicht in Gegenwart von Snead. Julia wollte nicht an diesen dunklen, bösen Ort zurückkehren. Sie hatte genug von Schmerz, Angst und dem ekelhaften Gefühl im Bauch, dieser Leere, die mit jedem Besuch in der Vergangenheit größer wurde.
Es ging ihr nicht besser. Es ging nicht vorwärts. Im Gegenteil, sie verwandelte sich immer mehr in das hilflose vierjährige Kind. Sie schloss die Augen und versuchte, die weiche, einschläfernde Stimme von Dr. Forrest zu ignorieren. Sie suchte nach einer Verbindung zu etwas Größerem, zu einer höheren Macht, die sie immer geleugnet hatte. Die Therapeutin war jedoch zu sehr ein Teil von Julia geworden. Sie hatte die Tür zum Haus ihres Kopfs geöffnet und stand immer rufend im Flur.
„Sie wissen, wer es getan hat, nicht wahr? Sie wissen, wer der böse Mann ist. Was hat er getan, Julia? Sagen Sie es uns.“
Julia schüttelte den Kopf und stöhnte. Sie versuchte, die Erinnerungen wegzuschieben, die sich an die Oberfläche drängten. Sie drückte die Augen so fest zusammen, dass kleine Tränen aus den Winkeln entwichen.
„Julia, Sie können uns vertrauen. Wir verstehen Sie besser als alle anderen Menschen auf der Welt. Wir wissen, wie schwer es ist, die Wahrheit anzunehmen, wie schwer es ist, den Meister zu akzeptieren.“
Meister?
Dr. Forrest fuhr in ihrem sanften, hypnotisierenden Tonfall fort. „Wir wollen nicht, dass Sie sich weiter dagegen wehren, Julia. Er will nicht, dass Sie sich wehren. Er ist sehr geduldig mit Ihnen gewesen, weil er Sie so gern hat.“
„Wer hat mich gern?“ Julia wusste nicht, ob sie es laut gesagt hatte.
„Warum liegt ihm so viel daran, wenn er doch so viel Macht hat und er sich nehmen kann, was er will?“
Julia spürte, dass Snead vom Fenster weggetreten war. Sie konnte jedoch ihre Augen nicht öffnen, um sich zu überzeugen. Sie versuchte, im Stuhl zu versinken, um dem Schrecken der Vergangenheit zu entweichen, um nicht mehr in diesem schwarzen, gähnenden Abgrund zu versinken.
Vati kann sich nehmen, was er will. Du warst ihm immer hörig, im Leben, im Tod oder während seiner Abwesenheit. Vati kann dir wehtun, wo auch immer du dich zu verstecken versuchst.
„Ich sage Ihnen, weshalb, Julia“, fuhr Dr. Forrest fort. „Weil er Sie liebt.“
Liebe?
Es war das erste Mal, dass Dr. Forrest dieses Wort ausgesprochen hatte. In all den Monaten der Behandlung und in den häufigen Sitzungen der letzten Woche hatte die Therapeutin von Teilnahme, Heilung, Hoffnung und all den abstrakten Dingen gesprochen, die nichts bedeuteten. In der Religion des Gehirns war sogar Gott tabu. Und nun musste sie dieses leere Wort hervorzaubern, das eine Sonderstellung auf dem Altar sinnloser Worte verdiente.
Sneads Stimme ertönte, als ob er sich am Fuße der Treppe befände und sie sich auf dem Dachboden versteckte. „Er besitzt dich, Juuulia.“
Sie riss die Augen auf, ihr Magen verkrampfte sich und ihre Hände zogen sich zu Fäusten zusammen. Sie setzte sich auf und blinzelte. Sie sah alles verschwommen. Snead stand noch immer beim Fenster.
Dr. Forrest schaute sie mit ihrem normalen freundlich besorgten Blick an. „Was ist los, Julia?“
„Was macht er hier?“, fragte Julia und starrte in Sneads kleine, dunkle Augen.
„Sie haben seine Anwesenheit verlangt. Erinnern Sie sich nicht? Als ich gestern Abend mit Ihnen telefoniert habe.“
Moment. Hatte Dr. Forrest nicht gesagt, dass ich mir das Telefongespräch nur eingebildet habe?
Vielleicht hätte sie nicht versuchen sollen, sich Dr. Forrest zu widersetzen. Nun war sie ganz verwirrt und ihre Gedanken schwirrten durcheinander. Wie konnte sie sich auf ihr Gedächtnis verlassen, wenn sie schon seit langem nicht mehr wusste, was Wirklichkeit war? Wie konnte sie ihren jetzigen Gedanken trauen, geschweige denn den Gedanken, die sie vor dreiundzwanzig Jahren hatte?
Da der Polizist nun einmal hier war, wollte sie ihm etwas zeigen, dass sie sich nicht eingebildet hatte. Einen soliden Beweis, der ein und für allemal bezeugen sollte, dass das Ungeheuer wirklich in ihrem Haus gewesen war und dass Walter nicht eingebrochen hatte. Etwas, das sie in ihren eigenen Händen gehalten hatte. Auch wenn sie Snead nicht traute, war wenigstens Dr. Forrest als Zeugin hier.
„Es gibt etwas, das ich kürzlich gefunden habe“, platzte Julia heraus und wandte sich an Snead. „Es war in meinem Schrank.“
Snead zog die Augenbrauen in die Höhe und ein reptilartiges Grinsen strich über sein Gesicht. „Was ist es, Miss Stone?“
„Die Zeichnung.“
„Zeichnung?“
Sie sprach überstürzt und war froh, wenigstens ein Geheimnis los zu werden. „Das Bild eines Pentagramms mit den Worten ‚Hallo Julia‘ darunter. Julia war jedoch als ‚Juuulia‘ geschrieben, also mit drei U, so wie es Vati ausgesprochen hatte, wenn er mit mir scherzte.“
„Wo befindet sich die Zeichnung?“
„Ich habe sie Dr. Forrest gegeben.“
Dr. Forrest schaute Julia traurig an und wandte sich dann an Snead. Sie schüttelte den Kopf.
„Was?“, fragte Julia.
Dr. Forrest streckte die Hände von sich. „Es gibt keine Zeichnung, Julia.“
Julia erhob sich. „Was meinen Sie, es gibt keine Zeichnung? Ich habe sie Ihnen gestern in diesem Büro gegeben.“
„Bitte setzen Sie sich“, sagte die Therapeutin.
„Was haben Sie damit gemacht?“
„Setzen Sie sich“, befahl Dr. Forrest. Julia starrte sie an.
„Es geht ihr schlechter, als ich dachte“, sagte die Ärztin zu Snead.
„Nicht ich bin verrückt; Sie alle sind es.“ Noch während sie es aussprach, erkannte sie, dass gerade eine verrückte Person so etwas sagen würde.
„Julia!“, rief Dr. Forrest. Snead ging ihr nach, aber Julia war bereits draußen. Sie rannte zur Tür hinaus, aus dem Gebäude in die verwirrende, graue Welt, stürzte sich in den Wagen und fuhr in die verrückte, seltsame Zukunft.