KAPITEL 9

 

Campbell Grimes lud seine Schrotflinte nach, während er die stehende Rolltreppe zum Bahnsteig der U-Bahn hinabeilte.

Ein Zombie sprang hinter einer Säule hervor. Er trug einen grauen Overall wie ein Wartungsarbeiter. Campbell hatte gerade noch Zeit, ihm den Kopf abzuschießen, bevor zwei weitere aus der Dunkelheit sprangen.

Er feuerte – Ka-wumm-wumm – und verursachte zwei Fontänen animierten Bluts, denen ein Aufschrei und unmenschliches Gebell aus der Tiefe des Gewölbes unter der Stadt folgten. Left 4 Dead war eines der beliebtesten Videospiele aller Zeiten, und obwohl er es in den letzten drei Jahren unzählige Male gespielt hatte, war Campbell weit davon entfernt, die Lust daran zu verlieren. Er mochte die hilfsbereiten Figuren im Spiel lieber als die meisten seiner Freunde in der wirklichen Welt – zumindest konnte er sich immer darauf verlassen, dass sie ihm den Rücken freihalten würden. Campbell zweifelte nicht daran, dass er eines Tages im Altersheim sitzen und immer noch gegen genau dieselben Zombiehorden, die auf wundersame Weise niemals älter oder weniger wurden, kämpfen würde.

Aber die Rente war noch lange nicht in Sichtweite. Mit fünfundzwanzig war er weit davon entfernt, erwachsen zu werden, geschweige denn alt.

»Mach schon, mach schon«, rief er dem Bildschirm zu. Er steuerte seine Figur mit dem Controller in den U-Bahn-Wagon, wo sie mit der Flinte im Anschlag durch die leeren Sitzreihen rannte. Weil er eine Pause zwischen den Angriffen bemerkte, lud er seine Waffe nach.

Ein dämonisches Geheul erklang aus dem nächsten Wagon. Campbell hob den Lauf seiner Flinte an und stellte sich auf ein neues Gemetzel ein – da wurde der Bildschirm schwarz.

»Was zur Hölle?« Er drückte zehn Sekunden lang die Knöpfe des Controllers, bevor ihm klar wurde, dass die Konsole und der Fernseher keinen Strom mehr hatten.

Während er sich im unaufgeräumten Wohnzimmer seines Apartments in Chapel Hill umguckte, fragte er sich, ob Roy wieder vergessen hatte, die Stromrechnung zu bezahlen. Roy war die Art von Mitbewohner, die immer zwanzig Mäuse für ein paar Zwölferpacks hatte, aber niemals einen Hunderter für irgendetwas Wichtiges. Der Gedanke, ein paar Tage auf Bier zu verzichten, um die Stromrechnung zu begleichen, würde Roy niemals in den Sinn kommen.

Campbell selbst war zwar auch nicht unbedingt die menschgewordene Verantwortung, aber er besaß zumindest einen gewissen Stolz. Er arbeitete als Bote für Papa John’s Pizza, um über die Runden zu kommen, und versuchte sich einzureden, dass er eines Tages beruflich Karriere machen würde. Warum auch aufrichtig sein? Hatte das schon jemals jemandem etwas gebracht?

Nicht nur der Fernseher und die Xbox hatten keinen Strom mehr. Die kleinen orangen Lichter an den Küchengeräten waren ebenfalls aus. Durch die Vorhänge drang genug Licht der morgendlichen Sonne, um von den zerdrückten Bierdosen auf dem Couchtisch reflektiert zu werden.

»Roy?«, rief er.

Jeder von ihnen hatte sein eigenes Zimmer in dem alten Gebäude, das von einem aufstrebenden Miethai in Apartments aufgeteilt worden war. Es befand sich zwanzig Blocks vom Campus der University of North Carolina entfernt, wodurch es nicht mehr in der Zone der »erbarmungslosen Abzocke« lag, sondern zu den etwas akzeptableren »überteuerten Bruchbuden« gehörte. Was auch gut so war, denn Campbell hatte vor zwei Jahren seinen Abschluss gemacht und spürte kein Bedürfnis nach Uninähe. Roy hingegen befand sich gerade im siebten Jahr seines Grundstudiums der Kommunikationswissenschaften. Das Problem war, dass Roys kommunikative Fähigkeiten noch begrenzter waren als die von Campbell, der selbst mehr mit seinen virtuellen Freunden als mit wirklichen Menschen sprach.

Campbell rief noch einmal Roys Namen, dann stand er auf, wobei er sein Schienbein am Couchtisch anstieß. Er tastete sich auf seinen Socken vorsichtig über den Teppich, damit er nicht noch gegen andere Hindernisse knallte. Die Reibungselektrizität ließ kleine blaue Funken um seine Zehen tanzen. Wenn Roy gerade zugedröhnt herumgesessen wäre, hätte er ein »Cool, Alter« von sich gegeben, seine Standardbemerkung für alles, was nicht »Lahm, Alter« war. Mit einem Abschluss in Kommunikationswissenschaften würde er es sicherlich weit bringen.

»Hey Roy, bist du allein?«, fragte er durch die geschlossene Tür. Manchmal vergnügte sich Roy mit Marta, einer jungen Mexikanerin, was ihm aufgrund von Martas Alter durchaus eine Anklage wegen sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen einbringen konnte. Aber Marta kam nur einmal pro Woche vorbei. Campbell hielt sich aus der Sache heraus, solange sie nicht eine ihrer »Freundinnen« mitbrachte, die ebenfalls »Spaß haben« wollte. Was etwa alle drei Monate vorkam, wenn Campbell Glück hatte. Was ihn jedoch nicht sonderlich kümmerte. Frauen waren kompliziert; Left 4 Dead ergab im Vergleich dazu geradlinigen Sinn.

»Roy! Hast du die Stromrechnung bezahlt?«

Nachdem er drei Mal gegen die Tür gepocht und keine Antwort erhalten hatte, versuchte Campbell, sie zu öffnen. Wenn Roy ausging, schloss er seine Tür ab, weil er nebenbei als Kleindealer tätig war. Nicht, dass Roy Campbell nicht traute – der Hang zur Paranoia gehörte einfach zum Geschäft.

Der Türknauf ließ sich drehen, was vermuten ließ, dass Roy einen Kater ausschlief. Campbell schob die Tür auf, wobei er sich gegen den Widerstand durchsetzen musste, den ein Berg schmutziger Kleidung bot. Das Zimmer stank nach alten Socken, billigem Aftershave, dem rostenden Metall von Roys Hantel-Set und dem dauerhaften Alk-Gras-Geruch, was alles zusammen einen teerartigen, intensiven Smog ergab.

Campbell tastete sich an der Wand entlang – Breitbildfernseher, Hantelbank, Kommode mit aufgereihten Flaschen –, bis er das Fenster erreicht hatte. Er riss den Vorhang auf, so dass die Sonne auf Roys Bett strahlte.

Bitte schön, Arschloch. Ich hoffe, das treibt dir Angelhaken in die Augäpfel und reißt sie aus.

Roy zeigte keine Reaktion. Sein Gesicht war Campbell zugewandt, der Mund stand offen, die Zunge hing heraus wie eine fette rosafarbene Raupe. Campbell trat gegen das Bett. »Aufwachen, Schlafmütze.«

Roys Körper zitterte, aber er wachte nicht auf. Als nächstes stemmte Campbell einen Fuß gegen den Schenkel seines Mitbewohners und schob. Roy drehte sich halb um, ließ aber kein Zeichen des Missbehagens erkennen. Campbell bückte sich und studierte Roys blasses Gesicht.

Sieht nicht so gut aus. Als ob er Heroin gespritzt hat oder sowas.

Campbell näherte sich dem Gesicht von Roy noch mehr. Eine neue Art von fauligem Gestank kam aus Roys Mund. Aber es war kein schlechter Atem, denn Roy atmete nicht.

Scheiße, Scheiße, Scheiße.

Er legte einen Finger an Roys Hals, wie man es in den Filmen sah. Er war sich nicht sicher, wie sich ein Pulsschlag anfühlen würde, aber das war egal, denn er fühlte gar nichts.

Heilige Scheiße. Er ist tot.

Campbell ging in das Wohnzimmer zurück. Seine Augen hatten sich nun an die Dunkelheit gewöhnt. Er fischte sein Handy aus seiner Tasche. Sollte er den Notarzt rufen? Was war mit den Drogen? Würde Campbell Probleme bekommen? Natürlich konnte er alles auf Roy schieben, aber eine polizeiliche Durchsuchung der Wohnung würde in einer ziemlichen Schererei enden.

Schließlich entschied er sich, doch anzurufen. Bloß, dass sich sein Telefon nicht einschalten ließ. Vor einer Stunde war es noch voll aufgeladen gewesen, als Campbells Vorgesetzter angerufen hatte, um ihn an seine Schicht zu erinnern.

Kein Strom, kein Telefon. Was zum Teufel ist los?

Campbell öffnete die Wohnungstür. Ein Mann lag auf dem Bürgersteig, zusammengekrümmt wie ein Haufen Kleider. Ein roter Jeep befand sich auf einer Irrfahrt über den Parkplatz der Wohnanlage und rasierte die Stoßstangen von drei Fahrzeugen, bevor er frontal in einen Ford-Lastwagen krachte. Der Fahrer des Jeeps durchbrach kopfüber die Windschutzscheibe und hing dann heraus wie eine Tiertrophäe, die auf einer roten Tafel angebracht worden war. Aus den umliegenden Straßen waren Schreie zu hören.

Die Hölle war ausgebrochen und Campbell tat das Einzige, was ihm unter diesen Umständen in den Sinn kam.

Er trat einen Schritt zurück, knallte die Wohnungstür zu und verriegelte sie von innen.

Und er fragte sich, wie lange es dauern würde, bis es wieder Strom gab. Und wie lange, bis Roy richtig zu stinken begann.

Dunkle Zeiten: Die ultimative Thriller-Collection
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