19
Walter saß im Wohnzimmer und betrachtete die auf dem Tisch ausgebreiteten Baseballkarten, während Julia etwas Eis mit einem Waschlappen umwickelte. Sie brachte ihm den Lappen und setzte sich dann auf den Stuhl bei ihrem Schreibtisch am anderen Ende des Zimmers.
„Stan Musical“, sagte Walter. Er erkannte, dass sie die Karten gemäß den Positionen der Spieler auf dem Feld angeordnet hatte. „Hat er nicht im Centerfield gespielt?“
„Nein, Leftfield“, sagte Julia. Sie bewegte sich unruhig auf dem Stuhl hin und her. Sie hatte den Schläger in der Ecke an die Wand gelehnt; das Pfefferspray bildete jedoch noch immer einen Wulst in ihrer Tasche. „Für einen Centerfielder hat er nicht gut genug werfen können. Er hatte sich beim Werfen eine Verletzung am Arm zugezogen. Er wurde dreimal als wertvollster Spieler ausgezeichnet und führte die Cardinals durch zwei Meisterschaften während des Zweiten Weltkriegs.“
„Ich dachte, dass alle guten Spieler zum Wehrdienst eingezogen wurden. War Ted Williams nicht Kampfpilot?“
Julia zuckte mit der Achsel. „Vielleicht war es eine Verschwörung, um die Chancen von St. Louis zu verbessern. Die alten St. Louis Browns waren nur einmal in der World Series und zwar 1944. Das erste Mal in 42 Jahren. Die Cardinals haben 2006 ebenfalls gewonnen.“
Walter presste den improvisierten Eisbeutel auf seine Wange. „Au.“
„Hat Ihnen dieser Idiot eine geknallt?“
„Nein. Er hat mir aus Versehen mit dem Ellbogen ins Gesicht geschlagen, als ich ihn packte.“
Nun war es Zeit für die Frage, mit der Julia gezögert hatte. Sie versuchte zwanglos und nicht wie ein Vernehmungsbeamter zu klingen. „Wann haben Sie ihn einbrechen sehen?“
Mit anderen Worten, wieso hast du dich im Wald hinter meinem Haus versteckt? Um mein Haus zu BEOBACHTEN?
„Ich erledige Gartenarbeiten für Mrs. Covington. Sie hat gesehen, wie ich dieses Haus reparierte, nachdem Hartley ausgezogen war, und mich angestellt. Ich stand dort drüben“ – er zeigte mit dem Arm in die Richtung – „und verteilte eben Strohmulch, als ich sah, wie jemand hinter Ihr Haus ging. Ich dachte mir nichts weiter dabei, nahm an, er benutze den Pfad durch den Wald. Mein Jeep war hinter Mrs. Covingtons Haus geparkt. Deshalb sah er wohl nicht, dass ich ihn beobachtete.“
Julia griff mit der Hand in die Tasche und befühlte die Pfefferspraydose. „Er wohnt in einem dieser Apartments. Mrs. Covington hat mir gesagt, dass einer der Bewohner als Voyeur bekannt ist.“
„Dieses Mal ging er wohl einen Schritt weiter. Als ich ihn nicht auf dem Pfad neben Mrs. Covingtons Garten vorbeigehen sah, wurde ich argwöhnisch. Deshalb ging ich durch den Wald und sah, dass Ihr Fenster offen stand. Ich nahm an, dass schon früher jemand Unfug getrieben hatte, da Sie sonst Mr. Webster nicht beauftragt hätten, die Fenster zu überprüfen.“
„Vielleicht sollten Sie Polizist werden“, sagte Julia. Wie T. L. Snead. Dann könnte Walter Mitglied der großen satanischen Verschwörung werden.
„Nein, danke“, sagte er. „Ich hasse Pistolen.“
„Sie haben aber nicht mit der Wimper gezuckt, als der Polizist auf sie gezielt hat.“
„Weil ich vor Angst wie eingefroren war. Ich befürchtete, dieser Kerl würde mir den Schädel wegpusten, wenn ich nur mit den Augen zwinkerte.“
Julia versuchte zu lachen. Ihr Magen war jedoch zu verkrampft dazu. „Ich nehme an, die Polizei von Elkwood hat keinen sehr guten Ruf.“
„Die denken dort wohl, dass Police Academy ein Schulungsvideo ist.“
Julia lachte nun gelöster. Sie war so müde, dass ihr beinahe schwindlig wurde. Zu viel hatte sich in den letzten Tagen ereignet. Der Schädelring, ein ausgegrabenes Stück Vergangenheit. Die Entdeckung, dass Snead nach Elkwood gezogen war. Ein sexueller Überfall durch einen Mann, von dem sie geglaubt hatte, er liebe sie. Ein Ungeheuer, das ihre Unterwäsche gestohlen hatte. Sie wollte nicht daran denken, sonst würde sie womöglich mit dem Lachen nicht mehr aufhören können.
Walter musste ihre Müdigkeit bemerkt haben. „Ich sah, wie er durch das Fenster stieg, gerade als es zu dunkeln begann. Sie kamen etwa zwei Minuten später angefahren. Ich wollte sie warnen, aber dann sah ich, wie er mit diesem ... äh ... dieser Unterwäsche herausklettert.“
Er wird ROT.
Warte mal, wenn der Unhold nur einige Minuten im Haus war ... wie hat er dann Zeit gehabt, die Uhr zu finden, sie einzuschalten, die Haustüre aufzuschließen, meine Kommode zu durchsuchen und wieder durch das Fenster hinauszusteigen?
Walter fuhr fort. „Er verschwand im Wald und ich sah, wie Ihr Licht eingeschaltet wurde, und hörte, wie Sie das Fenster schlossen. Dann wartete ich, um zu sehen, was er tun würde. Als ich dann bemerkte, dass er zum Fenster zurück schlich und hinein guckte, wurde ich so wütend, dass ich ihn am liebsten zusammengeschlagen hätte.“
„Das heißt Spionieren, Stehlen, Aufbrechen, Einbrechen –“
„Nein, er hat nichts aufgebrochen. Ihr Fenster war bereits offen. Das hat mich erstaunt, da sie sich solche Sorgen um die Schlösser machten.“
„Das Fenster war offen?“
„Ja. Stimmt etwas nicht?“
„Der Ring. Mein Verlobter hat mir einen riesigen Stein geschenkt und jemand wollte ihn haben. Ich sehe besser nach.“
Er folgte ihr zum Schlafzimmer und wartete an der Tür, während sie die burgunderrote Samtschatulle aus dem Versteck hinter der Plüschschildkröte hervorzog. Sie öffnete die Schachtel und der Stein glitzerte in seiner goldenen Einfassung.
„Mann oh Mann, mit dem könnte sich ein Dieb ein bis zwei Jahre lang Essen und Alkohol beschaffen“, bemerkte Walter.
Sie rieb sich den Kopf und gähnte vor Erschöpfung. „Im Grunde genommen ist es nur Erde und Metall.“
„Ich gehe jetzt besser und lasse Sie schlafen.“
Weggehen und mich allein lassen mit der Nacht und den Schlössern und dem Pfefferspray und dem Baseballschläger und dem Schädelring und der verwunschenen Uhr –
„Kennen Sie sich aus mit Elektronik?“ fragte sie.
Walter neigte den Kopf fragend zur Seite. „Ein wenig, schon.“
„Ich habe eine Arbeit für Sie.“ Sie ging in die Küche und fühlte seinen Blick im Rücken. Sie wühlte im Abfall und zog den Digitalwecker heraus, nahm ihn aus der Plastiktüte und brachte ihn Walter. „Könnten Sie nachsehen, ob daran jemand herumgemacht hat?“
„Ist das der kaputte Wecker?“
Julia nickte. Sie wollte ihm nicht verraten, dass sie ihn eingeschaltet vorgefunden hatte und dass die Ziffern auf 4:06 Uhr steckengeblieben waren. Er sollte die Uhr unvoreingenommen untersuchen.
Ihre Finger berührten sich kurz, als er nach dem Wecker griff, und Julia fühlte ein eigenartiges elektrisches Prickeln. Es war ein ähnliches Gefühl wie in dem Moment, als sie den Schädelring an den Finger steckte.
Nein. Der Ring hatte keine Kraft. Die Uhr enthielt keine schwarze Magie. Satan existierte nicht und hatte deshalb keinen Einfluss in der Welt, mit Ausnahme des Gehirns von verzweifelten, leichtgläubigen Menschen.
Auch Walter hatte keine magischen Kräfte. Sie war einfach müde.
Er stand da und ihre Blicke trafen sich. Einen Herzschlag lang, zwei, drei. Sie schauten beide gleichzeitig weg.
„Hmm – ich werde mir das Ding mal anschauen“, sagte Walter. „Sie müssen mich aber nicht bezahlen.“
Er ging zur Haustüre und hielt den Wecker wie einen Fußball in der Hand. Er hatte es plötzlich eilig und benahm sich zum ersten Mal, seit sie ihn kannte, etwas unbeholfen. Sie folgte ihm, trat jedoch nicht zu nahe an ihn heran.
Er hielt beim Eingang an und zeigte auf den Schläger, der in der Ecke stand. „Hätten Sie den tatsächlich benutzt?“
Sie lächelte. „Stellen Sie mich nicht auf die Probe.“
„Besser nicht.“ Er grinste mit seinen starken, leicht ungleichmäßigen Zähnen. Errötete er wieder? Keiner der Männer, die sie kannte, errötete. Rick O’Dell nicht und Mitchell war noch nie in seinem Leben rot geworden. „Bis später.“
„Auf Wiedersehen.“
Er trat ins Freie, in die Dunkelheit, wo die Nachtfalter sich um die Laterne auf der Veranda scharten. Die Studenten waren drinnen und setzten ihr Trinkgelage vor dem Fernseher fort. Vielleicht war die Festnahme eines ihrer Freunde nur ein weiterer Grund für eine Party.
„Walter?“
Er hielt neben dem Jeep an; sein Gesicht war im Schatten. „Ja, bitte?“
„Ich heiße Julia.“
Er nickte.
„Vielen Dank“, sagte sie. „Für ... na du weißt schon.“
„Ich würde die Tür abschließen“, sagte er. Dank der größeren Entfernung zwischen beiden klang er etwas mutiger. „Es gibt Rumtreiber und Ungeheuer überall, selbst in Elkwood. Gute Nacht, Julia.“
Sie winkte, schloss die Tür und stand eine Weile dagegen gelehnt. Sie hörte sich in Gedanken den Klang seiner Stimme an, wenn er ihren Namen aussprach. Sie verglich seine Aussprache mit der von Rick und von Mitchell, von dem Mitchell der unschuldigeren Vergangenheit.
„Juuulia“, hatte Walter gesagt mit einem langgezogenen, melodischen „uuu“, so wie es ihr Vater scherzend getan hatte. Mitchells hochgestochene Freunde verwendeten die kürzere Form.
Sie nahm die Holzschachtel aus ihrer Tasche und schaute sie prüfend an. Dieses Relikt passte nicht zu Elkwood, zu dem neuen Leben, das sie sich aufzubauen versuchte. So verkorkst wie Mitchell auch war, vielleicht hatte er in diesem einen Fall Recht gehabt. Vielleicht hätte sie die Vergangenheit ruhen lassen sollen.
Wenn ich stärker wäre, wenn ich meine Angst besser im Griff hätte, hätten wir schon vor Jahren heiraten können und ich wäre jetzt glücklich. Mitchell hätte nicht den Ausweg in die Gewalt –
Nein. Der Vergewaltigungsversuch war nicht ihr Fehler, egal, welche Streiche ihr Gehirn ihr zu spielen versuchte. Sie war auch nicht dafür verantwortlich, dass Mitchell ein Ungeheuer aufgespürt und beauftragt hatte, in ihrer Unterwäsche zu wühlen und den Verlobungsring zu stehlen. Wenn er in finanziellen Schwierigkeiten wäre, hätte sie den Ring ohne Weiteres versetzt und ihm das Geld gegeben. Sie wäre mit einem einfachen, kleinen Diamanten oder auch ohne Ring zufrieden gewesen. Die wertvollen Substanzen eines Schmuckstücks allein erzeugten keine Verbindlichkeit oder gar Liebe.
Dr. Forrest würde morgen alles erklären. Zuerst musste Julia eine Nacht überstehen. Vielleicht könnte sie sich so verhalten, als ob dies das Ende eines ganz normalen Tages wäre. Es warteten Papiere auf ihrem Schreibtisch, Notizen für einen Artikel. Andere Aufgaben erforderten ihre Aufmerksamkeit. Die Wirklichkeit übte ihren eigenen speziellen Druck aus und die Wirklichkeit bot ihr auch eine Fluchtmöglichkeit vor den dunklen Gedanken – wenigstens vorübergehend.
Julia schaltete den Computer ein und war überrascht, dass der Bildschirmschoner keine finstere Nachricht anzeigte. Andere Geräte schienen der unsichtbaren Macht des Bösen zu gehorchen, warum nicht auch ihr Computer? Es wäre durchaus möglich, dass ihr Toaster einen Songtext von Led Zeppelin rückwärts wiedergäbe.
Sie stellte die Verbindung zum Internet her. Trotz der Arbeit, die auf sie wartete, las sie zuerst ihre E-Mails. Neben Kaffee war dies eine ihrer stärksten Abhängigkeiten. Einige Beiträge bei der Cardinals-Newsgroup wiesen auf einen möglichen Wechsel im Management hin. Sue fragte, ob Julia sicher angekommen sei, und teilte ihr mit, dass sie schon bald weitere Informationen über Snead haben würde. Der Leiter des Tierheims hatte ihr eine Dankesnachricht gesandt. Nichts von Mitchell. Große Überraschung.
Das Ungeheuer schien sein Mailkonto geschlossen zu haben.
Julia beendete das E-Mail-Programm, ohne die Nachrichten zu beantworten. Sie führte eine Suche nach „Satan“ durch, erhielt dann die naheliegende Antwort, www.satan.com. Es schien, dass die Eingabe von w-w-w Punkt, gefolgt von irgendetwas, zu den seltsamsten Websites führte. Sie rief einige davon auf, die selbsternannte Teufelsanbeter erstellt hatten.
Die Ergüsse waren nicht nur widersprüchlich und kindisch, sondern auch schlecht formuliert. Eine Person, die von der Macht des Herrschers der Welt erfüllt war, sollte sich wenigstens mit Rechtschreibprüfprogrammen auskennen. Weshalb konnten diese Menschen ihr verlogenes Getue nicht in einem von Feuer erleuchteten Spiegel betrachten und sich totlachen und zur Hölle fahren, an den Ort, nach dem sie so dringend suchten? Es schien jedoch, dass sie überhaupt nicht an eine Hölle glaubten und schon gar nicht an die Höllenstrafe. Sie verwendeten ihre Religion als Deckmantel für ihre Zügellosigkeit und Grausamkeit.
Sie gelangte schließlich zur Website der offiziellen Satanskirche. Nachdem sie einige der Grundsätze der Organisation gelesen hatte, die sich auf die Texte des verstorbenen Anton LaVey stützten, glaubte Julia, dass die Satanisten noch verrückter waren als sie selbst. Im Grunde genommen waren die kleinen Regeln und Rituale ebenso anspruchsvoll und mühsam wie die der diszipliniertesten und strengsten Religionen.
Die neun satanischen Anweisungen, die elf satanischen Regeln der Erde, die neun satanischen Sünden. Somit hatte der Satanismus seine eigenen Sünden. Sein Tor war ebenso gerade und der Weg dahin genauso eng wie die des christlichen Fundamentalismus. Das Lächerlichste an der ganzen Sache war, dass LaVey, der sich als der Hohepriester Satans aufspielte und dann die Frechheit hatte zu sterben, genauso besitzergreifend und geldgierig war wie der widerlichste aller korrupten christlichen Evangelisten. Die satanische Bibel war sein so genanntes „Geschenk“ an die Welt, aber jedes noch so kleine Segment war mit dem Urheberrechtssymbol versehen, damit ja niemand das Wort ohne LaVey oder seine Nachkommen verkünden und einen Prozentsatz des Gewinns erhalten könnte.
Andere Insignien standen zum Kauf auf seiner Website bereit, zum Beispiel schwarze Kerzen, zeremonielle Gewänder und verschiedene Kräutertees. Und: der Teufel akzeptierte Kreditkarten.
Julia konnte diese eigennützigen Lehren sehr gut von den grausamen Erinnerungen an ihre eigene Vergangenheit unterscheiden. Dieses verpackte und eingeschweißte Produkt stand in keiner Beziehung zu den Misshandlungen, die sie durch die Teufelsanbeter erlitten hatte. Wie bei allen Religionen waren es nicht die Worte oder die Glaubensbekenntnisse oder die seit langem verstorbenen Propheten, die Verfehlungen definierten. Es waren die leibhaftigen Menschen, die stumpfsinnig alles schluckten, was man ihnen auftischte, die blind waren gegenüber dem wahren Charakter derjenigen, die ihnen den Segen erteilten.
Julia schauderte, als ihre eigenen Erinnerungen aus dem fest verriegelten Gefängnis zu entweichen drohten – der Ziegenkopf, eine silberne Klinge, rauchende Schmelztiegel und böse Menschen.
Julia presste die Augen zusammen und drückte die Hände gegen die Schläfen. Ihr Atem wurde flach und ihr Puls beschleunigte sich zu einem Flattern.
Nein, das ist eine Sache für Dr. Forrest und nur für Dr. Forrest. Nicht hier, nicht jetzt, nicht DU.
Sie atmete tief durch. Sie fürchtete sich. Die Panikattacken traten vermehrt auf. Trotz des Gefühls, dass sie sich auf dem Weg zur Heilung befand, trotz ihres Vertrauens in die Behandlung von Dr. Forrest spürte sie, dass sie sich am Rande eines großen, dunklen Abgrunds befand und dass ein weiterer Schritt sie in die Tiefe der Besinnungslosigkeit stürzen würde.
Sie zwang sich einzuatmen, dachte an Sonnenschein und Wolken, hörte Dr. Forrests Stimme, die von Zehn bis Null zählte. Sie ließ die Finger warm, weich und leicht werden und stellte sich vor, dass ihr Körper ein Stück des Himmels wäre, ein separates Wesen, jedoch mit dem Ganzen verbunden. Sie wurde leicht wie Luft.
Mit den Atemzügen kamen Wärme und Trost und eine weiche, ferne Brise, die an eine sanfte Stimme erinnerte.
Gott? Bis du das?
Wenn es jedoch Gott gewesen war, dann hatte ihn die Aufmerksamkeit gerade wieder in sein verborgenes Loch im Himmel getrieben. Sie konzentrierte sich auf Dr. Forrests Anweisungen und entspannte sich weiter.
Als sie aus ihrem mentalen Urlaub zurückkehrte, leuchtete der Computerbildschirm noch immer. Nichts als Wörter. Wenn sie verstehen wollte, wie die Satanisten funktionierten, dann musste sie diesen Unsinn übersetzen. Wenn sie LaVeys Ideen mit einem kalten, akademischen Auge und ohne Vorurteile betrachtete, dann würde Satan gegebenenfalls die Macht verlieren, aus der Vergangenheit nach ihr zu greifen.
Nachdem sie ein paar Minuten lang die Regeln durchgesehen hatte, glaubte sie etwas von der Anziehungskraft des Satanismus nachvollziehen zu können. Genieße diese Welt jetzt in diesem Augenblick, anstatt auf eine Belohnung in der Ewigkeit zu warten. Befriedige deine körperlichen und mentalen Begierden, anstatt nach geistiger Befriedigung zu suchen und das Leben mit dem Helfen anderer Menschen zu verschwenden. Sei nur dann liebevoll, wenn es zu persönlichem Gewinn führt, sei ansonsten hart und grausam und wage ja nicht, die andere Wange hinzuhalten.
Überlasse dich deiner Natur, anstatt die tierischen Triebe zu überwinden. Nimm dir, was du willst, denn wenn du die Macht hast, etwas zu nehmen, dann gehört es rechtsmäßig dir.
Sei egoistisch und kleinlich und zum Teufel mit allen anderen Menschen.
Das „offizielle“ Bild von Satan war hier nicht der verdammte, böse Prinz der Lügen, der von den konservativen Sekten der christlichen Kirche verkündet wurde. Dieser Satan war ein lächelnder, gutmütiger Onkel, der immer Süßigkeiten in der Tasche hatte. Dieser Satan strafte nie. Dieser Satan verlangte nicht, dass seine Anhänger bis in alle Ewigkeit schmorten, um ihre Hingabe zu beweisen.
Wer ist nun der echte Satan? Wenn Gott wirklich viele Gesichter hat, dann muss der Teufel mehr Masken haben als ein Requisitenladen in Hollywood.
Obwohl LaVey seine Anhänger aufforderte, keine Kinder oder Tiere zu verletzen, sondern nur Erwachsene, die ihnen im Wege standen, glaubte die andere Gruppierung, dass Blut Macht und magische Kräfte vermittelte. Und für das Crowley Camp, wie Julia es bezeichnete, war Satan gleichzustellen mit Macht.
Aleister Crowley ordnete seine Macht jedoch nicht Satan zu. Nein, das würde ihm etwas von seinem eigenen Ruhm nehmen. Crowley verlangte, dass man ihn das Große Biest nannte. Hier war ein weiterer falscher Prophet, der seine selbstherrlichen Glaubensbekenntnisse in die Welt gesetzt hatte. Seine Magie war ihm so wertvoll gewesen, dass er ihr einen separaten Namen gab und sie als Magick bezeichnete. Das Beängstigendste an seinen Lehren war, dass er Blut als Lebensenergie und Sex als Quelle der Macht und der Magie bezeichnete und natürlich kam die wirkungsvollste „spirituelle Kraft“ von den Körpersäften der Unschuldigen: von den Kindern.
So errichtete Crowley ein religiöses System, das den Missbrauch von Kindern nicht nur entschuldigte, sondern sogar bestärkte. Der Gedanke an diesen fetten, mit Drogen vollgepumpten Satyr ekelte sie. Crowleys erstes Gesetz war „Tue, was du willst.“ Gab es eine Hölle, die heiß genug war für jemanden wie ihn?
„Juuulia.“
Der Ruf kam mit dem Geflüster des Lufthauchs in den Dachbalken oder dem Rascheln eines Vorhangs. Sie schaute sich im leeren Zimmer um.
Sie stieß sich vom Schreibtisch weg, schritt im Zimmer auf und ab und versuchte, nicht zu hyperventilieren. Die Dunkelheit draußen drückte gegen Türen und Fenster und suchte nach einem Eingang. Ihr Haus war schwach und wurde vom schattenhaften Wind geschüttelt.
Sie rannte in das Badezimmer, drehte den Hahn auf und benetzte ihr Gesicht mit kaltem Wasser. Als sie sich im Spiegel betrachtete, erkannte sie sich kaum. Ihre Augen waren rot gerändert und wässerig, das Haar strähnig vor Schweiß. Die Haut war blass, es war die Haut einer wandelnden Leiche.
Es war alles ihre Schuld. Wenn sie nicht immer die Nase in die Vergangenheit steckte, wenn sie nicht alles erforschen müsste, wenn sie nicht wissen wollte, würde sie nicht die Nerven über einem Schädelring und schwarzen Messen und falschen Propheten und rituellem Missbrauch verlieren. Wäre sie normal, könnte sie sich womöglich auf eine glückliche Zukunft freuen.
Sie würde nicht isoliert in Elkwood und allein mit den Ungeheuern sein, die sie mit Teufelsmasken bedrängten. Sie würde jedoch auch Dr. Forrest nicht haben. Dr. Forrest war das Licht in der Welt der Dunkelheit; sie führte sie durch die Tunnel der Vergangenheit zur wahren Julia Stone, der ganzheitlichen Julia Stone, die im Licht stehen würde.
Wenn sie nur diese Person bereits wäre anstelle der lahmen, schwachen Julia, die von Schatten angefressen und zwischen den Zähnen unsichtbarer Monster zermalmt wurde.
Als sie an der Wand des Badezimmers bis auf die kalten Kacheln hinunterglitt, brachen die Wände der Welt zusammen. Die Narben auf ihrem Magen pochten, die Luft roch nach Schimmel und Fäulnis. Die Temperatur schien um 10 Grad anzusteigen und das Bad wurde feucht wie ein Sumpfgebiet. Trotzdem klapperten ihr die Zähne und ihre Knochen klickten auf den Kacheln wie ein aufgehängtes, im Wind wehendes Skelett.
Sie rutschte in das tintenschwarze Meer. Dieses Mal fegte die mächtige Welle über sie hinweg, erdrückte ihren Geist und durchnässte sie mit Verderben. Sie brauchte sich nur noch sinken zu lassen. Das hier war das Vorzimmer zur Hölle, das Wartezimmer zum Rest ihres Lebens.
Wurde sie dafür geboren? Um zu zerbrechen und verrückt zu werden, unterzugehen, ohne einen Hilfeschrei?
Dr. Forrest hätte dies gar nicht gerne. Überhaupt nicht.
Denn das ist nicht nur DEIN Fehler, Julia. Es ist IHR Versagen.
Wollte sie wirklich die eine Person enttäuschen, die an sie glaubte? War dies die Vergeltung für den Menschen, dem sie so viel schuldete?
Sie rang nach Atem; ihre Brust wurde von Stahlbändern zerdrückt. Sie verschloss ihren Geist vor den Fingern, die sich nach ihr ausstreckten, vor den negativen Gedanken. Sie dachte an das Licht, an Dr. Forrests ruhige Stimme.
„Wir schaffen es, Julia.“
Als ob die Therapeutin im gleichen Raum wäre. Julia atmete einen Zug abgestandener Luft ein.
„Wir stehen es zusammen durch“, kam die beteuernde Stimme. „Erlauben Sie mir, dass ich Sie zurückbringe und dann nach vorne führe.“
Ja, Dr. Forrest konnte sie retten.
Julia atmete aus und versuchte, ihren Atem zu beruhigen. Sie ignorierte ihr stark klopfendes Herz, wollte seinen unregelmäßigen Rhythmus nicht spüren. Ihr schweißgebadeter Körper fühlte sich an, als ob schleimige Insekten über ihre Haut krochen.
Dr. Forrests Worte ertönten erneut wie eine Stimme in der Wildnis.
„Ich bin für Sie da, Julia. Ich werde immer bei Ihnen sein. Ich werde Sie retten.“
Julia konzentrierte sich auf das Gesicht der Therapeutin, machte sich in Gedanken ein Bild von ihr. Und Dr. Forrest lächelte.
Julia lächelte ebenfalls. Jemand liebte sie. Jemand war besorgt um sie und wollte sie retten.
Sie legte sich auf den gekachelten Boden und atmete leicht, bis sich ihr Schwindelgefühl legte. Die Schatten schlüpften in ihre Höhle zurück, die Panik verzog sich wie der morgendliche Dunst über dem See, die Wände der Furcht zerbröckelten.
Sekunden oder Minuten später konnte sie wieder aufstehen. Sie wischte sich das Gesicht mit einem Tuch ab und vermied es, in den Spiegel zu schauen. Sie wollte sich nicht so sehen.
Dr. Forrest würde nicht wollen, dass Julia sich in diesem Zustand sah.
Sie ging in ihr Schlafzimmer und hielt sich dabei an der Wand fest. Im Zimmer herrschte noch immer die faule Atmosphäre des Ungeheuers. Es hatte auf diesem Teppich gestanden, hatte diese Luft eingeatmet und ihre intimen Sachen durchwühlt –
Nein. Er war einfach nur ein mieser Kerl. Er würde für sein Verbrechen bestraft werden und dabei vielleicht auch Mitchell anschwärzen. Und er war nicht länger Teil ihres Lebens, alle waren sie aus ihrem Leben verschwunden: Mitchell, ihr Vater, die bösen Menschen, alle, die versucht hatten, ihr weh zu tun.
Die einzige Person, die sie brauchte, war Dr. Forrest.
Sie vergewisserte sich, dass die Vorhänge gezogen waren und widerstand dem Drang, die Schlösser erneut zu überprüfen. Sie dachte an den Baseballschläger und fragte sich, ob sie ihn wohl wieder an seinen Platz unter dem Bett legen sollte. Nein, sie war jetzt tapfer; Dr. Forrest hatte ihr Kraft gegeben. Morgen würde sie der Therapeutin alles über diesen eigenartigen Tag erzählen und am Schluss der Sitzung würde sie vielleicht darüber lachen können.
Jetzt musste sie jedoch schlafen. Nachdem die Panik von ihr gewichen war, übermannte sie die Erschöpfung.
Sie ging zum Schrank, um ihr Nachthemd zu holen. Als sie die Tür öffnete, sah sie ein Stück gelbes Papier, das am Ärmel eines ihrer Kleider angeheftet war. Die Zeichnung war mit einem roten Buntstift ausgeführt worden. Sie zeigte einen ungleichmäßigen Kreis, der dem Bild glich, das auf der hölzernen Ringschachtel eingeschnitzt war.
Unterhalb des Pentagramms standen die in kindlicher Handschrift geschriebene Worte: HALLO JUUULIA.