18
Die Sonne war am Untergehen, als Julia Elkwood erreichte. Die Bergkämme glühten herbstlich, als ob sie mit geschmolzenem Gold bedeckt wären. Die siena- und ockerfarbenen Blätter bedeckten die Abhänge und in der Höhe waren Tupfen des dunklen Grüns der Balsamtannen und Fichten zu sehen. Schatten füllten das lange Tal, wo der Amadahee durch die Mitte der Stadt floss und seine reichhaltigen Septembergerüche von Salamander und Lehm mit sich brachte.
Als Julia ihren Subaru den Hügel hinauf gegen die Buckeye Creek Road steuerte, hatte sie die Unruhe, die sie während des Heimflugs beinahe verzehrt hatte, bereits vergessen. Die hohen Bäume beruhigten sie und sie war erleichtert, als sie wieder die Weiden mit den schräg stehenden Schotendornstangen und den rostigen Stacheldrähten sah. Sie betrachtete die Farmhäuser, die weit weg von der Straße standen, und die Kühe, die das Gras mit dumpfer Beharrlichkeit angriffen. Hie und da ragten die Spitzen von Granitblöcken aus der Erde empor wie große Raketen, die zum Abschuss in den Himmel bereit standen.
Obwohl sie erst seit vier Monaten in Elkwood lebte, war ihr dieser Ort zum Zuhause geworden. Anfangs war es eine verzweifelte Flucht gewesen. Mitchell hatte sie vertrieben und sie gleichzeitig aufgefordert, in Memphis zu bleiben. Dr. Lanze hatte ihr dieses Bergdorf als netten Ort vorgeschlagen, in dem sie sich auf ihre Zukunft vorbereiten konnte, und die Empfehlung von Dr. Forrest war wie ein Rettungsring gewesen, mit dem das von den Wellen getriebene schiffbrüchige Opfer den sicheren Strand einer Insel erreichte.
Nun lag eine klarere Zukunft vor ihr, obwohl die Vergangenheit noch eigenartiger und beängstigender war als je zuvor.
Jetzt drehte sich die Zukunft nicht länger um Mitchell und einem Käfig gleichende Sicherheit, die er ihr bot. Das Komische an der Sache war, dass er sich letztendlich als noch unstabiler erwiesen hatte als sie es war. Morgen würde sie ihm den zweikarätigen Diamantring per eingeschriebener Post zurücksenden. Die Erinnerung an den Angriff war im Innern begraben, ein Nest voller Schlangen. Sie traute sich nicht zu, allein damit fertigzuwerden. Der Zusammenbruch würde warten müssen, bis sie auf dem Stuhl in Dr. Forrests Büro saß.
Julia hatte sich noch nicht entschieden, wann sie Dr. Forrest vom Schädelring erzählen wollte. Vielleicht nächste Woche. Im Moment hatte sie mehr als genug Erinnerungen und Gefühle, die sie beschäftigten. Die unmittelbare Vergangenheit hinterließ die schmerzlichsten Verletzungen. Die Heilung musste von außen nach innen stattfinden.
Mrs. Covingtons Haus war dunkel, als Julia vorbei fuhr. Die Fenster glichen grauen Schieferplatten. Die Wohnungen auf der anderen Straßenseite waren ruhig. Durch die Spalten zwischen den zugezogenen Vorhängen drangen speerartige Lichtstrahlen. Die Scheinwerfer des Subaru fegten über Julias Haus hinweg und ein Gefühl des Besitzens überkam sie. Trotz der zweifelhaften Geschichte des Hauses fühlte sie sich geborgen hinter seinen Wänden. Sie beschloss, mit George Webster über einen möglichen Kauf zu sprechen.
Die Tür war fest, die Fenster kalt und leer. Hinter der Tür befanden sich ihr Computer, ihre Kleider, ihre Bücher und Mr. Ned, die Plüschschildkröte. Sie dachte an die Baseballkarten, die Walter ihr gegeben hatte und die ausgebreitet auf dem Couchtisch lagen. Sie lächelte. Diese kleine Gefälligkeit nahm an Bedeutung zu verglichen mit dem scheußlichen Besuch in Memphis.
Das war eine neue Vergangenheit, die sie sich aufbaute, und bei dieser Erkenntnis wurde ihr warm ums Herz trotz des seelischen Ballasts, den sie noch über Bord werfen musste. Sie dachte an den Gospelsong „One Day at a Time Sweet Jesus“ und stellte sich vor, dass die Vergangenheit nur aus dem Erwachen an diesem Morgen bestand und die Zukunft nicht mehr als die restlichen Stunden bis zum Dunkelwerden umfasste. Die Tasche vor sich hinhaltend, schritt sie erwartungsvoll den Pfad zum Haus entlang. Sie war so froh zu Hause zu sein, dass sie kaum einen Blick auf die dunklen Bereiche zwischen den Bäumen warf oder auf den weiten Wald, in dem die Grillen zirpten und die Nachttiere mit ihrem nächtlichen Krabbeln begannen. Was ihr früher Schreckensschauer eingejagt hatte, war ihr nun eher ein Trost als eine Bedrohung.
Sie atmete die feuchte und würzige Tannenluft der Blue Ridge Mountains ein. Sie suchte in der Tasche nach dem Schlüssel und fluchte innerlich, dass sie das Licht auf der Veranda nicht angelassen hatte. Ihre Finger strichen über die Holzschachtel. Sie hatte ein Stück der Vergangenheit mit sich gebracht, ein Stück aus Memphis. Vielleicht war das ein Fehler gewesen. Sie würde sich erst morgen darüber Gedanken machen.
Ein Tag nach dem anderen...
Während sie nach dem Schlüssel suchte, drehte sie gewohnheitsmäßig den Türknauf.
Er ließ sich leicht drehen.
Der Riegel schnellte zurück wie der Hahn eines Gewehrs, wie der letzte Schlag eines Herzens.
Hatte sie vergessen, die Tür abzuschließen? Selbst nach dem ersten Schrecken mit Walter?
Unmöglich.
Das eine, das Julia nie vergaß, war, die Tür abzuschließen. Das war die Regel Nummer Eins, um Ungeheuer fernzuhalten. Es sei denn, sie schlichen ihr leise nach, wie es Mitchell getan hatte.
Oder sie waren bereits im Hause.
Julia hielt den Türknauf fest und stand wie erstarrt. Sie spielte in Gedanken die Szene ihrer Abreise noch einmal durch. Koffer neben ihr, die Tür zuschlagen, den Schlüssel einfügen, umdrehen, ein Klicken. Nochmals prüfen, um sicher zu gehen.
Ja, sie hatte abgeschlossen.
Vielleicht war Walter drinnen und reparierte etwas.
Oder es könnte das Ungeheuer sein. Der Kerl, der vor einigen Tagen die Reihe Holzklötze auf dem Couchtisch gelassen hatte.
Du WEISST genau, dass du sie nicht dorthin gelegt hast, nicht wahr?
Nicht wahr?
Der Herbstwind rasselte im Unterholz. Die Äste, die vor einem Moment noch beruhigend gewirkt hatten, sahen nun wie die knorrigen Arme hölzerner Hexen aus. Julia suchte nach dem Pfefferspray an ihrem Schlüsselring und hielt den Finger an die Düse. Falls sich ein Vergewaltiger im Haus befand, würde sie ihm direkt in die Augen spritzen, würde ihm die Strafe verpassen, die sie Mitchell hätte geben sollen. Falls es im Schlafzimmer geschehen würde, hätte sie den Baseballschläger unter dem Bett.
Oder...
Sie warf einen sehnsüchtigen Blick auf ihr Auto. Sie könnte einsteigen und wegfahren, von einer Tankstelle aus die Polizei anrufen.
Und vielleicht würde Polizeileutnant T. L. Snead den Anruf von der Einsatzleitstelle erhalten. Der Snead der ungelösten Fälle, der Snead der Zufälle.
Nein, dieses Mal würde sie nicht wegrennen. Sie würde nicht zulassen, dass jemand in ihr Heim eindringt. Oder in ihren Kopf.
Sie stieß die Tür einige Zentimeter auf; die Türangeln quietschten wie der Deckel eines Holzsargs. Die feinen Härchen in ihrem Nacken zuckten wie elektrisch geladene Drähte. Sie versuchte einzuatmen, konnte sich jedoch nicht auf einen entspannenden Atemzug konzentrieren.
Julia schwitzte in der kühlen Nacht, als sie durch den engen Spalt spähte.
Nichts als Dunkelheit im Innern. Tiefe und endlose Dunkelheit, die Art Dunkelheit, die aus dem Nichts sprang und sich mit den Krallen auf sie stürzte, mit scharfen, dunklen Krallen, Krallen der Art –
Hör auf, Julia.
Ihre Hände zitterten.
Ein Telefon läutete in einer der Nachbarwohnungen. Es summte leise sechs Mal und hörte dann auf. In der Wohnsiedlung hinter der Wand des Waldes ließ jemand den Motor eines Autos aufheulen. Hundegebell hallte von den schwarzen Hügeln wider. Klänge des normalen Lebens.
Sie hielt das Pfefferspray umklammert und schob die Tür mit ihrer Schulter auf. Fast erwartete sie, das Glitzern einer gebogenen Klinge zu sehen. Mit der linken Hand tastete sie an der Wand entlang und rieb mit den Fingern über den Lichtschalter. Das Licht leuchtete auf wie explodierende Sterne.
Das Zimmer war leer.
Julia schritt den Flur entlang, ihre Tasche unter den Arm geklemmt. Mit der einen Hand hielt sie das Pfefferspray und mit der anderen machte sie eine Faust. Niemand in der Küche. Sie stieß die Badezimmertür auf.
Etwas bewegte sich entlang der einen Wand. Julias Zeigefinger versteifte sich auf der Düse des Pfeffersprays. Ein Grunzen erstarb in ihrem Mund, ehe es sich zu einem Schrei entwickelte.
Nur ihr Abbild im Spiegel über dem Waschbecken.
Julia schaltete das Licht ein und schielte nach dem Duschvorhang. Kein Ungeheuer würde so fantasielos sein, nicht?
Sie streckte den Arm aus, berührte den Plastikvorhang, riss ihn zurück und hielt das Pfefferspray zum Angriff bereit. Nichts, nur die Duschkabine aus Glasfaser.
Mit rasendem Herzen drehte sich Julia um und trat in den Flur zurück. Es blieb nur noch ein Zimmer übrig.
Natürlich. Ihr Schlafzimmer.
Die größte Verletzung, die des inneren Heiligtums.
Die Tür öffnete sich mit einem Flüstern. Ein Windhauch wehte durch das Zimmer. Das Fenster stand offen.
Geh zurück. Es ist in Ordnung. Niemand kann dir Vorwürfe machen, dass du Angst hast. Das ist nicht nur deine Krankheit. ICH bin es.
Natürlich könnte sie flüchten. Sie könnte aufgeben.
Genau wie immer.
Sie biss die Zähne zusammen und trat in das Zimmer. Das erste, was sie sah, waren die Zahlen des Weckers, die wie Höllenfeuer aus der Dunkelheit leuchteten.
4:06 Uhr.
Wenn sie eine Pistole anstelle des Pfeffersprays in der Hand gehalten hätte, dann hätte sie auf diesen digitalen Dämonen gezielt und das Magazin leer geschossen, um die obszöne eingefrorene Zeit zu exorzieren.
Sie konnte sich nicht länger selbst täuschen, sich einreden, dass niemand hier gewesen war, dass sie nur vergessen hatte, die Tür abzuschließen, dass sie das Fenster offen gelassen hatte, dass sie ein zerstreutes dummes Ding war.
Nein, irgendein fieser Kerl war hier eingedrungen, hatte den Wecker aus dem Papierkorb geholt und programmiert und als Nachricht an Julia hinterlassen. Die Nachricht, dass er jederzeit hereinkommen könnte, egal, wie viele Schlösser und Schlüssel sie hatte.
Weshalb würde ein Ungeheuer sie darauf aufmerksam machen? Wenn er sie überfallen wollte, könnte er im Dunkeln auf den Moment warten und sie wie mit den langen Fingern aus der Vergangenheit packen. Wie Mitchell es getan hatte.
Die Erinnerung an den Angriff ihres Verlobten durchfuhr sie und das Zimmer erschien ihr verschwommen. Sie verlor beinahe das Gleichgewicht. Dann schüttelte sie den Kopf. Falls der Kerl noch hier war, würde sie es ihm nicht leicht machen.
Julia trat vorsichtig ins Zimmer und schob mit dem Ellbogen den Lichtschalter nach oben. Sie blinzelte gegen das helle Licht.
Ihr Zimmer war unverändert, mit Ausnahme des Weckers. Das Bett war etwas unordentlich gemacht. Die Plüschschildkröte und einige CDs lagen auf dem Bücherregal und das Taschenbuch von Jefferson Spence lag offen auf dem Nachttisch. Das Fenstergitter war weg und die Gardinen flatterten in der Brise wie unruhige Geister.
Julia durchquerte das Zimmer, schloss das Fenster und schob den Riegel vor. Walter hatte Recht; die Fenster waren solide gebaut. Sie sah keine Narben in den Fensterrahmen, die auf ein gewaltsames Eindringen hindeuteten. Entweder hatte sie ein Schloss übersehen oder der Kerl hatte Zugang zu einer Kopie ihres Hausschlüssels.
Ohne darauf zu schauen, riss Julia das Kabel aus der Wand und klemmte sich die Uhr unter den Arm. Sie fragte sich, ob die Ziffern auch ohne Strom noch leuchteten.
4:06 Uhr. Warum 4:06?
Ein Gedanke flatterte kurz am Rande ihres Gedächtnisses und verschwand dann wieder wie eine verirrte Fledermaus, die in ihre Höhle zurückflog. Sie hatte so bewusst versucht, sich nicht an die Vergangenheit zu erinnern, dass sie diesen Ort nur mit Mühe besuchen konnte. Für diese Reise brauchte sie einen Reiseführer. Sie würde nur unter Aufsicht von Dr. Forrest dorthin gehen.
Sie ging durchs Haus, verschloss die Haustür und überprüfte die restlichen Fenster. Sie würde den Koffer beim morgendlichen Sonnenschein auspacken. Für den Moment fühlte sie sich sicher genug, so sicher, wie sie es in ihrem eigenen Kopf sein konnte.
Es sei denn, jemand hätte den Schlüssel zu ihrem Kopf wie auch zu ihrem Haus.
Julia nahm eine Plastikeinkaufstüte vom großen Stapel unter dem Spülbecken hervor. Sie ließ den fehlerhaften Wecker hineingleiten und schnürte die Tüte fest zu. Zur Sicherheit wickelte sie einen zweiten Sack darum herum und vergrub sie im Abfallkübel unter Kaffeesatz und einer Speiseeispackung. Vielleicht würde sie die Uhr morgen mit einem großen Stein zertrümmern.
Zeit totschlagen. Das Bild war beinahe lustig, aber der andauernde Adrenalinschub prickelte noch immer auf ihrer Haut. Sie hatte das Gefühl, beobachtet zu werden.
War noch jemand im Haus?
Nein, sie hatte in allen Zimmern nachgesehen. Der Zugang zum Dachboden war im Badezimmer. In Memphis hatte sie einen Fall behandelt, in dem ein Ungeheuer durch den Wartungsschacht seiner Wohnung kroch, über die Dachsparren zur nächsten Wohnung kletterte und kleine Gucklöcher in die Schlafzimmerdecke bohrte. Die Frau kam eines Tages nach Hause und fand Gipsstaub auf dem Bettüberwurf. Sie sah die Löcher in der Decke und rief die Polizei.
Das Ungeheuer wurde gefasst, doch die Frau hatte keine Ahnung, wie oft der Mann sie durch die kleinen Gucklöcher ausspioniert hatte. Diese Art Verletzung konnten auch Hunderte von heißen Duschen nicht wegwaschen. Ob sich das Opfer wohl je wieder entkleiden konnte, ohne ein kleines paranoides Frösteln zu verspüren? Wie viel Therapie war nötig gewesen, bis die Frau nicht mehr die Decke jedes Raums, den sie betrat, überprüfte?
Paranoia war zum Teil ein Überlebensinstinkt. An einem gewissen Punkt musste man sich davon lösen.
Julia dachte daran, Dr. Forrest anzurufen. Ihre Armbanduhr zeigte 20:00 Uhr, also noch früh genug. Sie vermutete jedoch, dass Dr. Forrest einen Liebhaber hatte, einen Mann, dessen Stimme sie bei mehreren Telefongesprächen im Hintergrund gehört hatte. Julia hasste es, so hilfsbedürftig und abhängig zu sein und die Zeit und Aufmerksamkeit ihrer Therapeutin so sehr in Anspruch zu nehmen. Vor allem wollte sie nicht, dass Dr. Forrest ihrer überdrüssig wurde.
Wenn sie die Nacht überstehen konnte, dann wäre sie in Ordnung. Wenn sie ihr Leben überstehen konnte, dann wäre sie in Ordnung.
Julia ging durch das Haus zu ihrem Schlafzimmer. Sie hielt sich davon ab, die Fenster noch einmal zu prüfen. Ein eigenartiges Summen klang in ihren Ohren, der beinahe stille Alarm, dass etwas nicht in Ordnung war. Das Regal, auf dem ihr Verlobungsring versteckt war, sah unberührt aus. Das Plüschtier zeigte sein normales freundliches Schildkrötengrinsen und die Bücher standen in alphabetischer Ordnung. Die oberste Schublade ihrer Kommode stand jedoch leicht offen.
Sie war kein Putz- und Ordnungsteufel, aber sie hatte den Drang, Dinge zu schließen: Türen, Fenster, Deckel, Schränke.
Sie zog an der Schublade. Unterwäsche und Büstenhalter lagen zerzaust da, einige schwarze und rote, die meisten jedoch in den langweiligen weißen und beigen Farben. Sie wühlte darin herum. Der Body fehlte.
Mitchell hatte ihn für sie gekauft in der Hoffnung, dass sie ihn vorführen würde. Und sie hätte es getan, wenn sich Mitchell nicht zu einem brutalen Kerl entwickelt hätte. Wie hatte sie sich nach dem perfekten Moment gesehnt, einer Urlaubsnacht vielleicht beim Mondschein oder am Jahrestag ihres ersten Zusammenseins. Mitchell hatte den Body jedoch nie mehr erwähnt und Julia wusste nicht, wie er auf eine verführerische Überraschung reagieren würde. Wie es sich herausstellte, war er derjenige mit den Überraschungen.
Sie war froh, diese Erinnerung an ihre merkwürdige Beziehung los zu sein, aber das Problem des Verschwindens des Bodys blieb ungelöst. War ein Unhold in ihr Haus eingebrochen, nur um in ihrer Reizwäsche zu wühlen? Stolzierte er in diesem Augenblick im Negligee umher und zitterte vor Erregung?
Julia spürte die beobachtenden Augen wieder. Paranoia, aber trotzdem –
Sie wandte sich zum Fenster.
Zwei helle Schimmer spiegelten das Licht ihres Zimmers wider und starrten zwischen den Vorhängen hindurch.
Die Augen verloren sich in der Dunkelheit; Julia stockte der Atem. Dann hörte sie einen lauten Ruf, das Brechen von Ästen und ein schmerzliches Ächzen, als menschliche Körper gegen die Hausverkleidung schlugen und zu Boden fielen.
„Hör auf oder ich breche dir den Arm“, rief jemand.
Julia stand einen Moment unentschlossen da. Dann holte sie den Baseballschläger unter dem Bett hervor und rannte zum Fenster. Im vom Licht beschienen Rechteck im Garten sah sie zwei Männer, die am Boden miteinander kämpften.
Julia eilte durch das Haus, griff im Wohnzimmer nach der Taschenlampe und stopfte das Pfefferspray in ihre Tasche. Mit dem Baseballschläger in der Hand fühlte sie sich ein wenig mutiger. Sie trat durch die Küchentür auf der Seite des Hauses ins Freie, schlich vorsichtig um die Ecke zum Garten und leuchtete mit der Taschenlampe vor sich hin.
„Lass mich los“, schrie eine der kämpfenden Gestalten.
Die beiden waren zum Baum gerollt, der neben dem Haus stand. Julia leuchtete mit der Taschenlampe auf sie, ihre Hand zitterte jedoch so stark, dass sie die Gesichter nicht sehen konnte. „Wer ist da?“, fragte sie, aber ihre Stimme verlor sich im Lärm der raschelnden Blätter und dem Gestöhne.
Sie hob den Schläger und versuchte bedrohlich auszusehen. Sie rief erneut: „Wer zum Teufel ist das?“
„Julia!“, stöhnte der Mann, der gerade oben auf war.
„Walter?“
Sie hielt die Taschenlampe etwas ruhiger und sah, dass der untere Mann mit dem Gesicht nach unten und dem Arm hinter dem Rücken festgehalten wurde. Er schlug trotzdem mit den Beinen um sich und wand sich wie ein aufgespießter Aal. Sein Gesicht war in die Erde gedrückt und einige Blätter hingen in seinen Haaren. Walter saß rittlings auf seinem Rücken wie ein Pferdebändiger, dessen Ross zusammengebrochen war.
Walter schnitt eine Grimasse vor Anstrengung, als er das Handgelenk des Mannes gegen sein Schulterblatt presste. Der Mann stöhnte laut auf.
„Ich breche es dir“, sagte Walter. „Ich habe schon mit Stieren gerungen und ich werde auch mit jemandem wie dir fertig.“
Walter versetzte ihm zum Beweis einen weiteren Stoß. Der Mann lag still und atmete angestrengt.
Julia kam langsam einige Schritte näher. „Was ist hier los?“ Sie war sich nicht sicher, auf welchen der beiden sie gegebenenfalls einschlagen sollte.
„Rufen Sie die Polizei“, sagte Walter und blinzelte im Licht der Taschenlampe.
„Sie haben meine Frage nicht beantwortet“, sagte sie. Ihre Finger umklammerten den Schläger.
„Er –“ Walter keuchte vor Anstrengung. Sie fragte sich, ob es ihm gelingen würde, den anderen Mann festzuhalten. Er schien jünger zu sein als Walter und ebenso stark.
„Ich sah, wie er aus Ihrem Fenster stieg“, sagte Walter. „Nicht wahr, du Mistkerl?“
Der Mann drehte sein Gesicht vom Licht weg und schaute gegen den Wald. Julia trat langsam zurück und ging ins Haus, den Schläger noch immer in der Hand. Sie wählte 9-1-1 vom Wohnzimmer aus, ergriff das Telefon und ging zum Fenster, damit sie die Männer beobachten konnte. Walter war noch immer obenauf.
Eine kurz angebundene Männerstimme antwortete.
„Ja, ich möchte ein –“
„Ja, bitte?“
Was? Ein Ungeheuer? Sie dachte an all die Falschmeldungen, die sie in Memphis durchgegeben hatte, und daran, wie die Stadtpolizei sie verhöhnt hatte. Sie versuchte es mit dem Polizeijargon, den sie als Kriminalreporterin gelernt hatte. „Es ist eine Auseinandersetzung im Gange.“
„Auseinandersetzung? Meinen Sie einen Kampf?“
„Ja.“
„Sind Waffen im Spiel?“
„Nicht, dass ich wüsste. Aber bitte beeilen Sie sich.“
„Könnten Sie bitte die Adresse wiederholen?“
„102 Buckeye Creek Road in Elkwood.“
Der Mann am Boden schlug um sich wie ein Fisch auf dem Trockenen, doch Walter hielt ihn fest.
„Jawohl“, sagte der Beamte. „Ich werde sofort einen Streifenwagen senden. Sagen Sie mal, Sie wohnen doch in der Nähe von Mabel Covington, oder?“
Julia seufzte. Was kam wohl als Nächstes, eine Frage nach einem Kochrezept? „Am besten schicken Sie auch eine Ambulanz.“
„Warum? Ist jemand verletzt.“
„Nein, noch nicht, aber es kann noch geschehen.“ Vor allem, wenn du nicht endlich auflegst und in das verdammte Funkgerät sprichst.
„Sind Sie an einem sicheren Ort?“
„Entschuldigung, aber ich gehe besser helfen.“
„Das würde ich nicht empfehlen –“
Julia legte auf, bevor der Beamte den Satz beenden konnte. Sie rannte ins Freie; ihre Hand war verkrampft vom Halten des Baseballschlägers. Selbst Mark McGwire musste sich hie und da entspannen, mit oder ohne Steroide. Julia konnte jedoch noch nicht ausruhen. Sie würde den Schläger erst weglegen, wenn die Polizei kam. Und vielleicht nicht einmal dann. Es könnte ja sein, dass Snead im Einsatz war.
„Sind Sie noch okay?“, fragte Julia Walter.
Er schüttelte den Kopf, sagte dann aber: „Ich habe mich mit Dreckskerlen wie diesem herumgeschlagen, seit ich fünf Jahre alt war.“
Dann bewegte er den Kopf, um anzudeuten, dass er Hilfe brauchte. Sein braunes Haar war feucht vor Schweiß und eine unschöne Schwellung bildete sich unter einem roten, wässrigen Auge.
„Wenn er sich wieder bewegt, geben Sie ihm eine mit dem Schläger“, sagte Walter.
„Schläger?“, grunzte der Mann in den Boden hinein. „Bist du wahnsinnig?“
„Hey, ich bin nicht der, der an der Unterwäsche einer Dame schnüffelt“, sagte Walter.
Der Body. Das war das Ungeheuer. Der Mann, der die Fußabdrücke hinterlassen hatte, der in ihr Haus geschlichen war und die Uhr umprogrammiert hatte. Sie wehrte sich gegen das Verlangen, ihm einen Schlag zu versetzen.
In der Ferne ertönte eine Sirene, die sich vom Tal her näherte und von den Abhängen widerhallte. Der Kerl unternahm einen erneuten halbherzigen Versuch, sich zu befreien, als er das Geräusch hörte. Dann lag er still. Sein Arm war in einem schmerzhaften Winkel gefangen.
„Danke“, sagte Julia zu Walter. „Keine Ahnung, was der angestellt hätte...“
„Was mich am meisten ärgert, ist, dass solche Menschen überhaupt keine Achtung zeigen“, sagte er und drückte den Arm des jungen Mannes noch etwas höher hinauf.
„Ich wollte – auuu – nur den Ring.“ Im Licht der Taschenlampe war das rot angelaufene Gesicht eines Mannes im Studentenalter zu sehen und Julia erkannte ihn. Er wohnte in einem Haus in derselben Straße weiter unten.
Der Mann verzog das Gesicht vor Schmerzen und Walter ließ mit dem Druck etwas nach. „Welchen Ring?“
„Dieser Kerl hat mich angestellt, ihn zu holen“, antwortete er. „Hat mich vor ein paar Wochen aus dem Nichts angerufen und mir eine Geldanweisung geschickt.“
Julia hob den Baseballschläger. „Und die Unterwäsche?“
„Das war nur ein Witz“, sagte er. „Der Typ sagte, ich sollte Sie durcheinander bringen, verwirren.“
Walter verstärkte den Druck wieder erneut; der Kerl stöhnte und sagte „Ich sage nichts mehr, bis ich einen Anwalt habe.“
Blaue Lichter blitzten durch die Bäume, als der Streifenwagen vor das Haus brauste. Julia rannte auf das Auto zu, winkte mit der Taschenlampe und zog den Schläger hinter sich her. Zwei Polizisten sprangen aus dem Wagen und einer zog seine Waffe.
„Nicht schießen“, sagte Julia. „Sie sind hinter dem Haus.“
„Lassen Sie die Waffe fallen und treten Sie zur Seite“, befahl der Polizist mit der Pistole.
„Es ist nur ein Souvenir“, sagte Julia. „Er hat eine Unterschriftskopie von Ozzie Smith darauf.“
„Fallen lassen.“
Sie gehorchte. Der Polizist mit der Waffe schritt an ihr vorbei, während der andere sich an die Ecke des Hauses schlich. Julia wusste nicht, was sie tun sollte. Der Beamte hatte ihr nicht befohlen stillzustehen. Sie stand eine Weile da und schaute zu, wie sich das Blaulicht am benachbarten Wohnhaus widerspiegelte. Einige der Studenten traten auf die Veranda, schwatzten und tranken Bier.
Julia folgte den Polizisten hinter das Haus. Derjenige mit der Pistole richtete sie nun auf Walter. Der andere kniete bei dem Mann am Boden, fummelte mit Handschellen und leuchtete mit einer Taschenlampe um sich.
„Dieser Kerl war im Begriff, in ihr Haus einzubrechen“, sagte Walter. „Ich sah, wie er sie heimlich durchs Fenster beobachtete.“
„Lassen Sie ihn los und treten Sie langsam zurück“, befahl ihm der Polizist. „Halten Sie die Hände so, dass ich sie sehen kann.“
Walter kniff die Augen vor Ärger zusammen, gehorchte jedoch.
Der zweite Polizist half dem anderen Mann aufzustehen. Der Mann rieb seinen Ellbogen und schaute Walter wütend mit einem „Das wirst du büßen“-Blick an.
„Was haben Sie dazu zu sagen?“ ,fragte der Polizist den verletzten Mann.
„Ich bin kein Einbrecher“, antwortete er. „Ich bin einfach durch den Garten in den Wald gegangen, als dieser Freak mich angegriffen hat.“
„Ah, ja?“, sagte Walter. „Und was ist das in deiner Gesäßtasche?“
Der Polizist leuchtete mit der Taschenlampe auf den Mann, drehte ihn um und zog den schwarzen Rüschenbody aus seiner Tasche. Er hob ihn hoch und ließ ihn zwischen Daumen und Zeigefinger baumeln, als ob er verseucht wäre. Der Student schaute kleinlaut drein.
„Gehört das Ihnen?“, fragte der Polizist mit der Pistole Julia. Er stand etwas entspannter da und zeigte nun mit der Waffe auf den Boden neben Walters Füßen.
Julia nickte. „Ja. Ich habe vor ein paar Minuten festgestellt, dass er fehlt. Jemand ist bei mir eingebrochen.“
„Fehlt sonst noch etwas?“
„Nicht, dass ich wüsste, aber er sagte etwas von einem Ring, den er suchte.“
„Kennen Sie diesen Mann?“, fragte der Polizist und zeigte mit der Waffe beiläufig auf Walter.
„Ja“, sagte Julia. „Er ist ein Freund von mir.“
Die Polizisten blickten sich gegenseitig an. Dann führte der eine den Mann um das Haus herum und rezitierte ihm seine Aussageverweigerungsrechte.
„Sind Sie beide gewillt, eine Aussage zu machen?“, fragte der andere Polizist und steckte die Pistole in den Halter zurück.
„Natürlich“, sagte Julia. „Gehen wir ins Haus hinein. Ich nehme an, Sie wollen nach Fingerabdrücken suchen.“
„Die Kriminaltechnikerin hat Dienst im Krankenhaus“, sagte der Polizist und holte ein kleines Notizbuch hervor. „Sie würde nur ungern so spät hierher kommen. Werden Sie eine Anzeige erstatten, Frau –?“
„Stone. Julia Stone. Natürlich erstatte ich eine Anzeige.“
Der Polizist kritzelte ihren Namen auf das Papier und fragte Walter nach seinem Namen. Nachdem Walter seinen Namen genannt hatte, ließ der Polizist den Notizblock sinken und führte seine Hand leicht in Richtung Pistole. „Triplett?“
„Jawohl.“ Walter richtete sich auf und warf Julia einen kurzen Blick zu. „Jener Walter Triplett.“
Der Polizist nickte und wandte sich an Julia. „Sie bestätigen also seine Aussage?“
Julia dachte an die Möglichkeit, dass Walter in Wirklichkeit der Eindringling gewesen war und der Student in dabei überrascht hatte. Aber Walter besaß einen Schlüssel und hätte es nicht nötig, durch das Fenster ein- und auszusteigen. Und trotz seines Rufs als möglicher Ehefrauenmörder hatte seine Liebenswürdigkeit ihre Ängste beruhigt. „Er ist in Ordnung“, sagte sie.
Der Polizist blickte Walter finster an, ging zu seinem Wagen und holte ein Klemmbrett. Er verbrachte die folgenden fünfzehn Minuten damit, die Anzeige aufzunehmen. Dann fuhr der Streifenwagen mit noch immer blinkenden Lichtern weg. Die Studenten johlten und hielten ihre Bierbüchsen in die Höhe, als die Polizisten vorbeifuhren.
„Ich dachte, die suchen nach Fingerabdrücken“, sagte Julia.
„Das hier ist Elkwood“, sagte Walter. Er berührte die Schwellung unter seinem Auge und zuckte.
„Kommen Sie herein. Ich gebe Ihnen etwas Eis dafür.“
Auf dem Weg zum Haus hob Julia ihren Baseballschläger auf. Wenn Vorsicht besser als Nachsicht war, dann war ein langes Stück Holz dafür gerade das Richtige.