24

 

Die Fahrt auf der steilen, kurvigen Straße zu Julias Haus war gefährlich. Die Reifen des Subarus quietschten in jeder Kurve. Der Asphalt war mit nassen Blättern bedeckt und ein Dunstschleier hing über der Straßenoberfläche und klebte an der Windschutzscheibe. Von Julias Atem beschlug die Scheibe, weshalb sie mit der Hand eine runde Öffnung wischte und in die dicker werdende Finsternis starrte. Hie und da warf sie einen Blick in den Rückspiegel, wo sie jeden Moment das Blaulicht von Sneads Wagen erwartete.

Warum rennst du weg? Sie wissen ja, wo du wohnst. ER weiß, wo du wohnst.

Sie hatte keinen Plan. Sie wollte nur so schnell wie möglich heim, die Tür zuschlagen und verriegeln und sich im Haus verkriechen. Das war jedoch kein Ausweg, denn wo immer sie sich verbarg, blieb sie doch in ihrem eigenen Kopf gefangen. Sie konnte der steigenden Flut der Schatten nicht entkommen.

Als Julia zu Hause ankam, stand Mabel Covington auf der Veranda ihres großen Hauses. Sie stützte sich auf ihren Stock, während Katzen über ihre Füße hüpften. Die alte Frau winkte heftig mit zitternder Hand. Julia fuhr langsam bis zum Rande ihres Gartens. In den Wohnungen gegenüber war es still. Die Bewohner waren auf der Arbeit oder in der Schule. Es sei denn, der Spanner stünde mit seinem Feldstecher hinter dem Vorhang.

Julia rollte das Fenster hinunter, als Mrs. Covington zum Wagen humpelte.

„Was ist los?“, frage Julia und blickte zurück die Straße hinunter, um zu sehen, ob Snead ihr gefolgt war.

„Er ist hier“, sagte Mrs. Covington. Ihr Gesicht war fast genauso weiß wie ihre dünnen Haare.

„Wer ist hier?“

„Er ist zurückgekommen.“ Die Frau lehnte sich gegen die Tür. Sie keuchte, als sie den Kopf in das Fahrzeug steckte.

„Der Spanner?“

„Hartley. Der in Ihrem Haus gewohnt hat.“

Die alte Frau war ebenso übergeschnappt wie der Rest der Welt. „Ich bin leider in Eile“, sagte Julia.

„Sie verstehen nicht. Er war hier. Er hat an Ihrem Haus herumgemacht. Ich habe die Polizei angerufen. Er wollte wohl etwas holen, dass er zurückgelassen hatte.“

„Weshalb sollte er zurückkommen?“

Die Frau kniff die Augen zusammen, die kalt und trübe wie Murmeln aussahen. „Hat Ihnen das niemand erzählt?“

„Was erzählt?“

„Ach, du lieber Himmel.“ Die alte Frau trat einige Schritte zurück. „Sie wissen es nicht, oder?“

„Sagen Sie mir, was geschehen ist“, sagte Julia. Sie erinnerte sich plötzlich an den Mord des kleinen Mädchens, von dem Rick erzählt hatte. Der Name Hartley hatte einen negativen Beigeschmack.

„Sie müssen etwas herausgefunden haben. Ich habe gehofft und gebetet, dass sie Sie in Ruhe lassen würden.“

„Vielleicht sollten wir besser hineingehen.“

Die alte Frau schüttelte den Kopf. Die verwitterte Haut ihres Halses zitterte unter dem Kinn. „Sie haben mir gesagt, dass ich mich raushalten soll. Ich habe schon zu viel gesagt.“

Mrs. Covington drehte sich um und kämpfte sich mühsam zu ihrer Veranda. Sie stützte sich bei jedem Schritt auf ihren Stock. Das Geräusch des Stocks wurde von der Stille des vernebelten Waldes verschluckt. Dann verschwand die Frau im Haus. Julia rollte das Fenster hoch und parkte den Wagen vor ihrem eigenen Haus.

Hartley war hier. Was bedeutete das? War er wirklich derjenige gewesen, der vor zwei Jahren das Kind umgebracht hatte? Ein solches Verbrechen musste Schockwellen durch die kleine Gemeinde gesandt haben und Rick O’Dell hätte es sicher in seine bevorzugte Verschwörungstheorie eingearbeitet. Wieso hatte ihr Walter nicht davon erzählt? Walter, der Mann, von dem sie geglaubt hatte, sie könnte ihm vertrauen?

Julia ging auf Zehenspitzen an der Seite des Hauses vorbei. Sie wünschte, sie hätte den Baseballschläger bei sich. Sie griff mit der einen Hand in die Tasche, um das Pfefferspray herausziehen zu können. Das würde ihr jedoch wenig helfen, wenn ihr tatsächlich jemand etwas antun wollte.

Hinter dem Haus war niemand. Sie wollte am Schlafzimmerfenster nach Fußabdrücken suchen, um sich zu vergewissern, dass dort letzte Nacht jemand gestanden und nach ihr gerufen hatte. Aber frisch von den Baumen gefallene Blätter bedeckten den Boden mit einem feuchten Teppich verblassender Farben.

Die Bäume scheinen heute näher zu sein, so als ob sie das Haus einschließen wollten.

Sie lachte beinahe über den absurden Gedanken. Sie befürchtete jedoch, dass sie nicht mehr aufhören könnte zu lachen, wenn sie erstmals anfing.

Im Wald bewegte sich nichts und durch den dichten Herbstdunst kam das sanfte Murmeln des Bachs. Sie schaute nach dem verschleierten Hügel in der Ferne. Einen Moment lang stellte Julia sich ein Kind vor, das auf einer Waldlichtung lag und von vermummten Menschen umgeben war. Sie blinzelte, um das Bild zu vertreiben, und eilte zur Vorderseite des Hauses.

Snead war noch nicht da. Er hatte sich wohl entschlossen, ihr nicht weiter nachzusetzen. Selbst der Polizeichef brauchte eine Rechtfertigung, sie zu verfolgen. Vielleicht war Julia ja eine Bedrohung für sich selbst und für andere und sollte in ihrem eigenen Interesse eingesperrt werden.

Vielleicht hatte sie sich die Zeichnung des Pentagramms, den Mann am Fenster, die Nachricht auf dem Computer nur eingebildet. Der Schädelring war jedoch keine Einbildung. Der Schädelring war Wirklichkeit, eine feste Verbindung zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart. Als sie nach dem Hausschlüssel suchte, grub sie bis auf den Boden der Handtasche, um sich von der Gegenwart der gravierten Schachtel zu überzeugen.

Ein eigenartiger Fetisch, der mich beruhigt –

Die Schachtel war verschwunden.

Sie hielt die Tasche fest und durchkämmte den Inhalt. Brieftasche, Schlüssel, Tampons, Haarbürste, Notizpapier. Kein Ring.

Sie hatte doch die Tasche nicht aus den Augen gelassen.

Julia suchte erneut, doch die Schachtel und der Ring blieben verschwunden. Sie schloss die Haustür auf. Ihre Hand zitterte so sehr, dass sie den Schlüssel kaum in das Schloss brachte. Trotz des schwachen Tageslichts wirkte das Haus dunkel und abweisend.

Nachdem sie die Tür sicher hinter sich abgeschlossen hatte, legte sie die Handtasche auf das Sofa und holte den Baseballschläger. Sie beugte sich, um ihn unter dem Bett hervorzuholen, als er sie von hinten fasste und ihr die Hand auf den Mund drückte, um sie am Schreien zu hindern. Sie wehrte sich und schlug mit den Füßen um sich. Der Alptraum von Mitchells Angriff übermannte sie. Aber Mitchell war in Memphis.

Und dieses Ungeheuer war stärker als Mitchell. Sie versuchte, dem Angreifer den Ellbogen in die Rippen zu stoßen, aber er zog sie in den dunklen, offenen Schrank.

„Psst“, zischte er. Seine Stimme fühlte sich wie das feuchte Zucken einer Schlangenzunge neben ihrem Ohr an.

Sie biss in seine Hand und er stöhnte vor Schmerz. „Verdammt nochmal, Julia.“

Walter!

Er war also doch das Ungeheuer.

Er hielt sie nun im Schrank fest. Kleider fielen von den Bügeln, als sie miteinander kämpften. Walter entfernte seine Hand von ihrem Mund und flüsterte: „Sei still, sie können uns wahrscheinlich hören.“

Hören?

Julia entzog sich seinem Griff und fiel gegen die Mäntel und Pullover. „Was zum Teufel machst du hier?“

Walter hielt den Zeigefinger auf die Lippen. Ein violetter Halbmond zeichnete sich auf der Haut ab, wo sie ihn gebissen hatte. Er sah genauso verängstigt aus, wie sie sich fühlte. Seine Augen leuchteten weiß um die Pupillen herum.

„Sei mal einen Moment still“, sagte er. „Ich tue dir nichts.“

Sie glaubte ihm beinahe. Aber in dieser neuen Welt der Geheimnisse und Lügen konnte sie sich auf niemanden verlassen. Wenn sie wahnsinnig werden würde, dann auf die altmodische Art, ohne Hilfe von jemand anderem. Sie würde die Treppe hinaufsteigen in den Dachboden ihres eigenen Kopfes und die Wände anschreien, bis sie auf sie niederstürzten.

Dazu brauchte sie keine Hilfe von Walter. Sie benötigte keinen Schreiner, der ihr Haus reparierte. Das Einzige, das sie wollte, waren starke Schlösser und fest zugenagelte Fensterläden, die alles Licht von den Räumen fernhielten. Sie wollte in den schattigen Ecken ihres Dachbodens oder den muffigen Tiefen ihres Kellers verschwinden. Sie wollte allein sein in den Ruinen.

Walter drückte sich an sie in dem engen Schrank. Er schüttelte sie und flüsterte eindringlich: „Hör mir zu. Brich jetzt nicht zusammen. Ich brauche dich.“

Brauchen? Er brauchte sie? Sie lachte beinahe, doch das war zu anstrengend. Kapitulieren war wie immer die am wenigsten schmerzhafte Option.

„Sie sind draußen“, fuhr er fort. „Deke Hartley, Snead und die anderen.“

„Snead?“ Sie fragte sich, wie der Polizist es so schnell zu ihrem Haus geschafft hatte. Und wie kam Walter in das Haus? War er der mit dem Schlüssel? Hatte er die Zeichnung mit dem Pentagramm hinterlassen, den Schädelring gestohlen und sie mit der Digitaluhr hereingelegt?

Das ergab Sinn. Dumme Julia, sie hatte ihn gebeten, die Uhr zu überprüfen. Sie hatte bei ihm Trost gesucht, sie hatte den irrsinnigen Fehler begangen, dem Mann zu trauen, der nun das schlimmste aller Ungeheuer zu sein schien. Dieser Fremde, der mit seinem verschwitzten Gesicht, seinen blinzelnden Augen und seinen zusammengepressten Lippen über ihr schwankte.

Du brauchst das Ungeheuer gar nicht in das Haus hineinzulassen. ES BEFINDET SICH IMMER IM INNERN.

Bevor sie schreien konnte, bückte sich Walter in der Ecke des Schranks. Er zog an einer Sperrholzplatte an der Wand. Das Holz löste sich und legte Wasserleitungen und Isoliermaterial frei. Walter riss die Isolierung klumpenweise weg.

Der modrige Geruch des Kriechkellers kam hoch und füllte den Schrank. Der Zwischenraum zwischen der Duschkabine und der Wand war etwa sechzig Zentimeter breit und der Unterboden war herausgeschnitten. „Was machst du?“ frage Julia.

„Ein Zugang“, sagte Walter. „Für Reparaturen an den Rohrleitungen, oder als Fluchtweg.“

Walter zwängte sich durch die enge Öffnung zwischen den Fußbodenbalken. Seine Füße berührten die Erde unter dem Haus. Als er sich umdrehte, sah er beinahe witzig aus, wie ein Springteufel, der zu groß für seine Schachtel war. „Komm. Oder willst du etwa hier bleiben und auf sie warten?“

Julia glaubte, Geräusche an der Haustür zu hören, war sich jedoch nicht sicher. „Hast du den Ring genommen?“

„Welchen Ring?“ Er schaute ihr in die Augen, nicht wütend, aber auf eigenartige Weise entschlossen.

„Und der Wecker? Was bedeutet 4:06 Uhr?“

„Red jetzt keinen Unsinn“, sagte er. „Machen wir, dass wir rauskommen.“ Er duckte sich in der Öffnung und krümmte seinen großen Körper. Die Schultern verschwanden, dann der Kopf und zuletzt die Arme. Seine Stimme klang gedämpft, als er ihren Namen rief.

Julia kroch auf Händen und Knien und zog ihre Tasche hinter sich her. Sie blickte sehnsüchtig zu dem Baseballschläger unter dem Bett. Doch der Schläger würde ihr nichts nützen, da sie ihn in dem engen Kriechkeller nicht schwingen könnte. Snead und der berüchtigte Deke Hartley mochten draußen auf sie warten oder auch nicht. Trotz Walters eigenartigem Verhalten zog sie es vor, mit ihm mitzugehen, anstatt Snead und Hartley gegenüberzutreten.

Sie spähte in die Dunkelheit des Kriechkellers. Dieser Ort war schlimmer als der Keller in ihren Träumen, mit oder ohne Knochen. Das bedeutete, dass sie bewusst kapitulierte. Es war eine bereitwillige Entscheidung, ein Sprung in eine unbekannte Zukunft.

Aber, die Zukunft war noch niemals bekannt gewesen, und selbst die Vergangenheit war ungewiss.

Julia streckte die Beine in den Kriechkeller. Der Stoff ihrer Hosen scheuerte auf der rauen Sperrholzkante. Sie ließ sich nach unten in die feuchte Luft sinken und spürte Walters Hände. Seine Berührung war kühl und feucht, dauerte jedoch nur, bis sie den Boden unter den Füßen fühlte. Sie duckte sich in dem Moment in den Kriechkeller, als sie ein lautes Klopfen an der Haustür hörte.

Walter langte nach oben und schob das Brett wieder an seinen Platz zurück. Nun herrschte im Kriechkeller fast vollständige Dunkelheit. Das einzige Licht drang durch die wenigen Lüftungsspalten in der Mauer des Fundaments. Julias Herz dröhnte in ihrer Brust. Sie hörte Stimmen von außerhalb des Hauses. Ein Mann, der wie Snead klang, gab Befehle, dann die Stimme einer Frau.

Julia konnte Walter nicht sehen, aber sie spürte seinen Körper in der Nähe. „Was zum Teufel ist los?“, flüsterte sie.

„Ich hätte es dir sagen sollen“, antwortete er so leise, dass sie ihn kaum verstand.

Julia streckte ihre Hand aus und fand sein Hemd. Sie rutschte über die feuchte Erde näher an ihn heran. „Warum verschweigen alle etwas? Was wollen sie?“

„Alles. Sie werden es jedoch nicht bekommen.“ Er kroch leise auf Ellbogen und Knien zu einer der Lüftungsspalten. „Folge mir“, flüsterte er.

Das schwache Tageslicht wurde vorübergehend blockiert, als jemand am Lüftungsspalt vorbei schritt. Wie viele waren da draußen? Waren es Leute aus Sneads Abteilung? Waren sie alle Verbrecher?

Als sie Walter nachkroch, fühlte sie sich wie außerhalb ihres eigenen Körpers, von ihm losgelöst und sie dachte einen Moment daran, um Hilfe zu rufen. Dann schlug sie den Kopf an einem Wasserleitungsrohr an und der Schmerz brachte sie wieder zu Sinnen. Der Aufprall brachte die Leitung zum Vibrieren und Walter hielt an und flüsterte ihr eine Warnung zu. Julia rieb sich den Kopf und war dankbar für den Schmerz. Nun hatte sie etwas, auf das sie sich konzentrieren konnte, etwas Wirkliches. Sie schlang den Riemen ihrer Tasche um das Handgelenk und rutschte vorwärts. Langsam gewöhnten sich ihre Augen an das Halbdunkel.

Ihre Hände strichen über harte Gegenstände, die sie für Steine hielt. Eines der Objekte verschob sich, als ihr Finger es berührte. Seine gebogene Form glänzte schwach im gedämpften Licht.

EIN KNOCHEN. Lieber Himmel, ein Knochen!

Er sah aus wie eine kleine Rippe, trocken und glatt. Julia schubste das Ding weg und es prallte klappernd gegen einen Betonstützpfeiler. Sie rollte vom Grab weg und drückte die Hand auf den Mund, um den Schrei zu dämpfen. Walter hörte den erstickten Ton und kroch zu ihr hin.

Sie griff nach seiner Hand und schob sie in Richtung der weichen Erde, wo die Knochen verstreut waren. Beide berührten den winzigen Schädel zur gleichen Zeit.

Walters Augen weiteten sich. „Hartley“, flüsterte er. „Der gottverdammte Dreckskerl.“

Sein Körper zitterte, entweder vor Angst oder Wut. Julia dachte an Rick O’Dells Theorie eines ausgedehnten Netzes von Leuten, die Satan Menschenopfer brachten. Die Knochen waren so klein. Der Teufel oder einer seiner Jünger musste eine Vorliebe für junge Opfer haben.

Julia neigte sich zu Walter und flüsterte. „Es ist ein Kind.“ Ihre Stimme brach.

„Ich weiß“, sagte Walter. Tränen glänzten auf seinen Wangen.

Das Klopfen an der Haustür wurde lauter und jemand rief ins Haus hinein. Wenn die Ratten das Haus betraten, würden sie schnell bemerken, dass sie weg war. Und sie würden wohl kaum denken, dass ein Engel sie zu den Wolken emporgehoben hatte. Nicht, solange Satan hier unten seinen Zauber wirken ließ.

„Was machen wir nun?“, fragte sie und drückte Walters Arm.

Ein Krachen ertönte und ließ den Boden vibrieren. Jemand trat die Tür ein.

„Mein Jeep“, sagte Walter. „Er befindet sich auf der anderen Seite des Waldes.“

„Wissen sie, dass du hier bist?“

„Ich glaube kaum.“

„Was machen wir jetzt?“

„Kriechen.“ Er wischte sich die Augen und kroch unter dem Boden. Julia folgte ihm auf schmerzenden Ellbogen und Knien. Ein splitterndes Geräusch ertönte über ihnen.

Walter erreichte den Zugang, eine kleine hölzerne Tür im Fundament an der Rückseite des Hauses. Sie hörten das Stampfen von Schuhen über ihnen. Jemand rief; es waren mindestens drei Leute im Haus, vielleicht auch mehr.

„Jetzt!“ Walter schlug die Zugangstür auf. „Renn“, sagte er und stieß Julia durch die Öffnung.

Julia stolperte in den Hinterhof. Sie atmete erleichtert auf, als sie die Bäume sah, und hoffte, dass die Ungeheuer sich im Haus befanden und niemand die Rückseite des Hauses bewachte. Wenn sie sie erwischen wollten, mussten sie rennen.

Lieber Gott, hilf mir.

Als sie sich zwischen den Ästen durchschlängelte und die herabfallenden Blätter sah, wurde ihr beinahe schwindlig vor Aufregung über ihre neue Freiheit. Sie fühlte die Septemberluft auf dem Gesicht und den Geruch des Bachs in der Nase. Sie hatte nichts mehr zu verlieren außer einer Vergangenheit, die sie seit Jahren abzuschütteln versuchte. Sie ließ Knochen und Schänder zurück, alles, mit Ausnahme der Angst.

Und selbst die Angst war jetzt willkommen, da sie ihr Energie gab. Das Leben war einfach geworden, reduziert auf seine grundlegendste Bedeutung. Leben, um Leben zu erhalten. Fliehen, damit du es bis zu deinem nächsten Atemzug schaffst, und dann weiter bis zur nächsten Flucht. Teil des biologischen Zyklus, der so alt war wie die Bakterien. Es war der Zuschauersport von Gott: Überleben des Stärkeren oder desjenigen, der das meiste Glück hatte. Falls Gott ihr die Kraft gab, würde sie sie dankbar annehmen. Alles andere in der Welt hatte sie im Stich gelassen, selbst ihr Vater.

Sie blickte zurück und sah, wie Walter nach ihr in den Wald hinein rannte. Er zeigte auf den Bach, der silbern und kalt den Abhang hinunter floss. Das Wasser spritzte zwischen den dunklen, moosbedeckten Steinen. Sie rannte am Ufer entlang, wählte ihren eigenen Pfad, ohne auf Walter zu achten. Aber dann dachte sie an seine Tränen unter dem Haus. Ungeheuer weinten nicht.

Sie lehnte sich gegen eine große Eiche, um zu verschnaufen, und wartete auf ihn. „Haben sie uns gesehen?“, fragte sie, als er angerannt kam.

„Pssst“, hechelte er, hielt an und stemmte seine Hände in die Seiten. Sanfte Waldgeräusche wie fallende Blätter und das Zwitschern eines Vogels füllten die Stille.

„Ich höre nichts.“ Walter schaute ihr in die Augen. Schmutzige Tränenspuren waren auf seinem Gesicht zu sehen.

„Sagst du mir endlich, worum es hier geht?“

„Später. Mein Jeep ist hinter diesem Hügel. Sie suchen womöglich schon nach dir.“

„Wie viele?“

Er nahm ihre Hand. „Weiß ich nicht. Genug. Mehr als genug, so wie ich sie kenne.“

„Wer ist ‚sie‘?“, fragte Julia, aber Walter hatte sich bereits umgedreht und zog sie hinter sich her zum Bach. Er half ihr über die glitschigen Steine. Julia kletterte das schlammige Ufer empor und hielt sich an einer vertrockneten Weinrebe fest. Walter verlor beinahe das Gleichgewicht und wäre hingefallen, wenn Julia ihn nicht am Hemd gefasst und auf die Böschung gezogen hätte.

Sie rannten weiter, Walter voran und Julia hinterher. Sie hielt die Arme in die Höhe, um ihr Gesicht vor den zurückschnellenden Zweigen zu schützen. Sie blieb an Dornengebüschen hängen und schlug sich die Zehen an einem Stein an. Einmal glaubte sie, aus dem Augenwinkel eine Bewegung zu sehen, und schrie beinahe auf. Als sie genauer hinschaute, sah sie aber nur noch mehr Bäume und stille Schatten dazwischen.

An einem Hügel angelangt, verlangsamten sie das Tempo. Sie kletterten zu einer  Waldlichtung hoch. Zerklüftete Granitfelsen ragten über den Rand des Abhangs hinaus. In der Mitte der Lichtung befand sich ein flacher grauer Felsbrocken, der durch die Witterungseinflüsse glatt geschliffen war. Zwischen den Bäumen hindurch sah Julia die Berge, die blau und rauchfarben dahinwogten. Wolkendecken schwebten über dem wellenförmigen Land. Unter normalen Umständen hätte die Landschaft einen friedlichen und sanften Eindruck hinterlassen. Aber die Bäume, die die Lichtung umgaben, waren etwas zu knorrig und ihre Astlöcher sahen aus wie obszöne Augen.

„Das ist der Ort, an dem sie das Mädchen gefunden haben“, sagte Walter und rang nach Atem.

Julia schaute sich um. Flacher Stein, der sich kalt gegen den Rücken anfühlte. Böse Menschen um sie herum. Die Klinge des Messers berührte ihren Bauch.

Ihre Muskeln zitterten vor Anstrengung, doch sie traute sich nicht, sich auf den Stein setzen. Der Ort fühlte sich unheilvoll an wie die Scheune bei ihrem Elternhaus in Memphis. Die Luft schmeckte giftig und schlechte Energie drang durch die Sohlen in die Füße.

Julia wunderte sich, wie viele andere Altäre existierten, auf denen Menschen geopfert wurden. War die ganze Erde mit Blut und Knochen besudelt, mit der Substanz der Unschuldigen zur Befriedigung eines anspruchsvollen Meisters? Der Teufel existierte womöglich nicht, seine Anhänger jedoch schon. Seine Anhänger waren zahlreicher und weiter verbreitet, als sie angenommen hatte.

Walter kniete mit dem Rücken zu ihr und suchte im Wald unter ihnen nach Zeichen von Sneads Leuten. „Hartley verschwand unmittelbar nachdem die Leiche gefunden wurde.“

„Hat die Polizei nichts unternommen?“

„Hartley wusste, wie man Dinge vertuscht. Ich nehme an, dass das jetzt die Arbeit von Snead ist.“

Julia schüttelte den Kopf. Sie konnte nicht glauben, dass es zwischen Snead und Hartley eine Verbindung gab und dass Snead seine Stelle einnahm, als Julia hierher zog. Die einzigen Menschen, die von ihrem Umzug wussten, waren Mitchell und Dr. Lanze. Aber das Netz der Verschwörung hatte anscheinend schon lange bevor sie Memphis verlassen hatte existiert.

Sie starrte auf den flachen Stein. Sie versuchte, das Bild eines Mädchens zu verdrängen, das auf dem Stein lag, klein und zitternd und nackt, während die verrückten Menschen unter dem kalten, seelenlosen Mond tanzten und ihre sadistischen Gebete sangen. Sie schloss die Augen und wehrte sich gegen die Tränen.

Sie fühlte Walters Hand, die ihre Schulter leicht berührte. „Lass uns von hier verschwinden“, sagte er.

„Das ist zu wahnsinnig, um wirklich zu sein.“

Er wischte mit dem Ärmel seines Flanellhemds eine Träne auf ihrem Gesicht weg. „Das sage ich mir seit langem, seit der Nacht, in der meine Frau vom Erdboden verschwand.“

Sie öffnete die Augen und blickte in die seinen. Der Verlust war wieder dort, in seinem Innern, ein großer verborgener Schmerz, den sie nur sehen konnte, weil sie davon wusste. „Glaubst du an den Teufel?“

„Ich glaube an Hartley“, sagte er und schaute zum verschleierten Himmel hoch. „Der Herr macht es uns nie leicht.“

Er nahm sie bei der Hand. „Der Jeep ist nur hundert Meter von hier. Es gibt eine alte Holzabfuhrstraße, die ins Tal führt.“

Sie verließen die unglückliche Waldwiese und Julia wunderte sich, wie viele Wesen an diesem unheiligen Ort über Jahrhunderte hinweg geopfert worden waren. Sie schritt behutsam über die Wiese, als ob es sich um Gräber von Kleinkindern handelte.

Dunkle Zeiten: Die ultimative Thriller-Collection
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