Kapitel 32
Schabe lehnte sich gegen die Steine, sein Kruzifix in den Fingern haltend. Er verlor immer wieder das Bewusstsein und wusste nicht, wie lange er sich schon im Keller aufhielt. Eloises – nein, Belials – Schlag hatte ihm eine Gehirnerschütterung eingebracht. Seine Zunge fand ein paar lockere Zähne und seine Nase war mit getrocknetem Blut verstopft, weshalb er durch den Mund atmen musste. Sein gebrochener Kiefer pulsierte, und er war sich nicht sicher, ob er sprechen konnte.
Nicht einmal die Gebete, die er brauchen würde.
Er erwachte zum ersten Mal, als etwas sein Bein berührte. Die Berührung war in ein schlüpfriges, glitschiges Streicheln übergegangen, umso verstörender, weil es auch irgendwie sinnlich war. Er öffnete seine Augen, um in die fast vollständige Dunkelheit zu blicken. Seine Nachtsichtbrille war irgendwohin auf den unebenen Boden geschleudert worden.
Ein trübes orangenes Glimmen war in der Ferne zu sehen, wie ein Stern, der in der zunehmenden Abenddämmerung blinkte. Die Berührung wurde zu einem geschwollenen Seil, und es schlängelte sich über seinen Oberschenkel hinweg und weiter. Sekunden, Minuten oder vielleicht Stunden später hörte er, wie etwas Schweres über den Boden geschleift wurde. Dann erinnerte er sich an Nancys Leiche.
Desorientiert und mit zu großen Schmerzen, um sich zu bewegen, konnte er nur im feuchtkalten Dreck liegen und seine Verletzungen abschätzen. Das Schleifgeräusch hielt für mehrere Minuten an, dann folgte ein fleischiges, dumpfes Geräusch wie wenn ummantelter Knochen auf Metall traf. Das orangene Glimmen wurde stärker, ein Feuer erwachte zum Leben. Der Körper der Frau war als Silhouette vor dem Glutbett zu sehen, dann flammte das Feuer auf und verschlang ihr Fleisch.
Rodney versuchte, davon zu krabbeln, weil er sich im hellen Licht ungeschützt und verletzbar fühlte, aber er kam nur langsam und unter großen Schmerzen voran. Blut tropfte aus seiner Nase, und er musste alle paar Meter eine Pause einlegen, um es von seinen Lippen zu wischen. Er wartete jeden Moment darauf, dass ihn das glitschige Glied packen würde.
Bist du mit mir fertig, Gott? Ist das die Strafe für Arroganz?
Aber während er sich Zentimeter für Zentimeter über schmierigen Dreck und herausstehende Steine hinwegschleppte, war er sich nicht sicher, ob ihm so eine schnelle Erlösung zu Teil werden würde. Immerhin klebte das Blut von mindestens acht Menschen an seinen Fingern. Klar, es war alles Teil seiner heiligen Aufgabe gewesen, aber das erweckte sie nicht wieder zum Leben oder gab ihren Seelen Frieden. Wie Belial und die anderen gefallenen Engel, die die Schmutzarbeit für Gott erledigten, war er ein notwendiges Übel.
Aber trotz allem ein Übel.
Und das Übel, das sich als »Gutes« ausgab, war in einer eigenen Kategorie und hatte sich einen Peperoni-Einlauf in den glühend heißen Schlünden der Hölle verdient.
Nachdem sich die Flammen beruhigt hatten und die Glut ein einschläferndes Pulsieren angenommen hatte, das einen Herzschlag nachäffte, prüfte Rodney das Leuchtzifferblatt seiner Armbanduhr. Es leuchte nicht mehr, genau wie die an seiner Kopfbedeckung angebrachte Lampe. Der größte Teil seiner Ausrüstung war beim Angriff des Dämons davongeschleudert worden, aber seine Digitalkamera war immer noch an einem Band um seinen Hals befestigt. Ihre Batterien waren ebenfalls leer. Der Dämon hatte ihm alle Energie entzogen, was erklärte, weshalb er so schwach war.
Er musste wieder eingenickt sein, denn er erwachte in fast vollständiger Dunkelheit. Die Glut war schwächer geworden, so als begäbe sich ihre Quelle in einen längeren Schlaf. Er konnte gerade noch die Treppe erkennen und überlegte sich, dass sie einen Schutz bieten würde, bis er Kraft genug gesammelt hatte, sie hochzuklettern. Er schleppte sich unter die Treppe und kauerte zum Gebet nieder.
»Gib mir ein Zeichen, Herr«, flötete er durch seinen zerstörten Mund.
Und der Herr gab, denn die Kellertür öffnete sich über ihm und er ließ es Licht werden.
Rodney überlegte sich, um Hilfe zu rufen, als der Mann und die Frau die Treppe hinunterkamen, aber er war sich nicht sicher, ob nicht einer von ihnen oder alle beide besessen waren. Belial konnte den Wirt gewechselt haben, oder Eloise konnte in der Zwischenzeit damit angefangen haben, Leute zu manipulieren und seinen gotteslästerlichen Einfluss wie eine Infektionskrankheit zu verbreiten.
Rodney erkannte die junge Frau als eine der Angestellten des Hotels. Der Mann wollte sie offensichtlich verführen, auf die glatte, unbeholfene Weise von jemandem, der seine eigenen Kräfte noch nicht beherrschte. Die Quelle würde sie sich beide schnappen, urteilte Rodney, und er versuchte, seine Atmung unter Kontrolle zu halten, damit er unbemerkt zugucken konnte.
Die Witzelei ihrer neckischen Umarmung führte zu einem Streit. Dann erwähnte sie den Heizkessel und Rodney musste zu dem rostigen Koloss blicken. Aus dem Schimmer der Glut war aufgewühlter Haufen Rauch geworden. Die Ranken des Rauchs sahen fest aus, und Rodney erinnerte sich an die Tentakel, die sein Bein berührt hatte. Die Frau sagte, dass es sich um Ratten handle, aber sie würde nicht in der Lage sein, die Dämonen als solche zu erkennen.
Nur die Auserwählten konnten sehen.
Als die Frau den Mann ohrfeigte und die Treppe hinauf rannte, wollte Rodney ihr zurufen, auf ihn zu warten, aber aus seinem zermanschten Mund kam nur ein Stöhnen. Nachdem die Tür zugeknallt war, quoll Gekicher aus den Ecken des Kellers.
Der Mann drehte sich am unteren Ende der Treppe um, so als würde er erst jetzt seine Umgebung zur Kenntnis nehmen. »Schlampe«, sagte er.
Rodney rief noch einmal, und diesmal gelang es ihm besser, mit seiner Zunge in seinem Mund herumzuschlängeln.
»Wer ist da?«, fragte der Mann, schielte unter die Treppe und ging ein paar Schritte zurück. In Richtung des Heizkessels.
Rodney griff mit einer Hand in die Spalte zwischen die unbearbeiteten Stufen, damit der Mann sehen konnte, dass er ein Mansch war. »SSI«, sagte er zischend.
»Einer von den Parah-Leutän?« Der Mann hatte einen französischen Akzent.
Rodney nutzte seinen Halt an der Stufe, um sich auf die Knie zu ziehen und bewegte sein zerstörtes Gesicht ins Licht.
»Mon dieu«, sagte der Mann. »Was ist passiert?«
»Belial ist passiert«, sagte Rodney, obwohl seine Worte undeutlich waren und er daran zweifelte, dass der Mann den Namen des Dämons kennen würde.
Der Mann eilte zu ihm, um ihm zu helfen, aber Rodney zögerte damit, die relative Sicherheit seines Verstecks aufzugeben. Er leckte das Blut von seinen Lippen und fragte: »Hat sie Sie eingesperrt?«
Der Mann nickte. »Was machen Sie hier unten?«
Rodney zeigte auf seine Kamera und die Detektoren an seinem Gürtel.
»Ah. Die Geister im Keller, nicht wahr?«
»Schlimmer als Geister.« Seine Worte klangen immer noch ein wenig breiig, aber seine Zunge und seine Lippen verstanden sich nun wieder besser.
»Sie müssen im Dunkeln hingefallen sein. Die Direktorin hatte befürchtet, dass so etwas passiert.«
»Ich bin gefallen, richtig.« Rodney ließ sich von dem Mann auf die Beine helfen, und der Strom Blut in seinen Kopf brachte einen Schmerz wie von einem Stromstoß mit sich. Er lehnte sich an die Treppe und prüfte seine Ausrüstung. Der EMF-Detektor, das Aufnahmegerät und das Infrarot-Thermometer wirkten nun wie billige Requisiten. Er hatte sie nicht gebraucht, um die Dämonen zu entdecken. Alles, was er gebraucht hatte, war sein blinder Glaube. »Arbeiten Sie hier?«
»Ich bin Koch.«
»Mein Handy und mein Walkie-Talkie sind tot.«
»Ich versuche es an der Tür«, sagte der Mann. Er polterte die Treppe hoch und versuchte sein Glück am Türgriff, obwohl sie beide gehört hatten, wie das Schloss zugeschnappt war, als die Frau die Tür zugeschleudert hatte. »Amerikanerinnen. Ich hätte auf die allseitigen Ratschläge hören sollen. Vermische niemals Privates mit Beruflichem.«
Rodney hörte nicht zu. Er starrte den Heizkessel am anderen Ende des Kellers an, wo Nancys Körper verzehrt worden war. Wenn Belial oben war und Eloises Körper bewohnte, welches Wesen speiste dann hier unten?
Der Mann trommelte an die Tür. »Vielleicht wird eine der Geisterjäger-Gruppen kommen,«
»Nein«, sagte Rodney, der sein Kruzifix betastete. »Der Keller ist tabu.«
»Warum sind Sie dann–oh. Sie halten sich auch nicht gerne an die Regeln.«
»Willkommen im Club.« Während er sich um die Treppe herumbewegte und sich an ihr festhielt, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, wurde Rodney ein wenig klarer im Kopf. Seine Nachtsichtbrille lag etwa sechs Meter entfernt im Dreck. Er ging hin und sammelte sie auf, ebenso wie seine Videokamera und seine Taschenlampe. Das Objektiv der Kamera hing herab, die Speicherkarte hatte einen Riss und der Kartenschlitz war voller Dreck. Mögliche Aufnahmen, die er von der Begegnung gemacht hatte, waren wahrscheinlich ruiniert. So viel zum Thema Beweise.
»Was machen wir jetzt?«, fragte der Mann, der sich auf die oberste Stufe gesetzt hatte. »Bis zum Morgen warten?«
»Es gibt wahrscheinlich einen Liefereingang, der nach draußen führt.« Rodney prüfte seine Taschenlampe, um sicherzugehen, dass sie nicht funktionierte. »Wollen Sie hier warten?«
»Weil sie vielleicht zurück kommt? Nein, mon ami. Solche Ohrfeigen hab ich schon früher kassiert.«
»Okay, dann lassen sie uns von hier verschwinden.«
»Ihr Gesicht–«
»Ist nicht so schlimm, wie es aussieht.« Es war wahrscheinlich schlimmer, aber er wollte nicht riskieren, noch einmal das Bewusstsein zu verlieren. Wenn er sich bewegte, würde ihn der Schmerz vielleicht wach halten.
»Das ist kein Platz, an dem ein Mann allein sein sollte.« Der Mann versuchte es noch einmal an der Tür und kam dann die Treppe hinunter. »Ich bin Philippe.«
»Rodney«, antwortete er ohne Händeschütteln.
»Also, wie funktioniert diese Geisterjägerei?«
»Man bereitet die ganze Ausrüstung vor, dann schlägt man Krach und hofft, ein paar Beweise zu bekommen.«
»Haben Sie jemals etwas gefunden, das Sie überzeugt hat?«
»Nicht in der letzten Zeit.«
»Sind Sie sicher, dass Ihr Kopf okay ist?«
»Er schmerzt nur, wenn ich lache.«
»Das ist witzig, oder?«
»Ja.«
Rodney versuchte, sich an seine Erkundung des Fundaments des Gebäudes zu erinnern. Wegen des Verschwindens von Margaret Percival hatte die SSI Pläne des Bauwerks und seiner Zugangspunkte angefertigt. Karten dieser Art halfen, von Wind oder Regen verursachte Geräusche als solche zu entlarven, oder auch diejenigen von jemand, der zufällig einen Bereich betrat, in dem gerade eine Tour stattfand, und der später als übernatürliche Anomalie eingestuft wurde.
Weil Rodney den Verdacht gehabt hatte, dass Dämonen in den unteren Ebenen des Gebäudes ihr Unwesen treiben würden, hatte er besondere Aufmerksamkeit auf das Mauerwerk gerichtet. Wenn Dämonen hier regelmäßig durchkamen, waren in den Mauerritzen wahrscheinlich Zeichen der Versengung zu finden.
Wo es Rauch gab, gab es auch Feuer, und wo es Feuer gab, gab es auch Dämonen.
Einige glaubten, dass Luzifers größter Trick sei, die Leute dazu zu bringen, nicht an ihn zu glauben. Aber wie alle Götter, Engel und Dämonen brauchte Luzifer Glauben, um existieren zu können. Luzifer verschwendete nicht viel Energie auf menschliche Listen. Es war ihm einfach egal.
In der gleichen Weise waren den Dämonen die Klassifikationen gleichgültig, die Weise und Gelehrte von König Salomon über Peter Binsfield bis zu den Gestaltern modernen Rollenspiele vornahmen. Satan, Luzifer, Beelzebub – die Bezeichnungen spielten keine Rolle. Das Böse kannte immer seinen eigenen Namen, und es wusste auch, in welchen Herzen noch ein wenig Raum zu finden war.
Rodney machte einen weiten Bogen um den Heizkessel und bewegte sich um die zerbröckelnde Steinmauer herum, die den neueren Flügel des Hotels vom alten abtrennte. Philippe folgte ihm mit geringem Abstand.
Hinter der Stützwand war der Keller dunkler, es hingen nur ein paar nackte Glühbirnen zur Beleuchtung von der Decke. Über ihnen war der gedämpfte Donner von Schritten und das Pochen von Bass und Schlagzeug zu hören.
»Wir sind unter der Bar«, sagte Philippe. »Sie sollte eigentlich schon zu sein.«
»Ich denke nicht, dass sie heute überhaupt schließen wird«, sagte Rodney. Belial war es bereits gelungen, die Konferenz zu vergiften. Der Zerfall würde schleichend und geschickt sein, aber das war die Art und Weise, wie das Böse seine beste Arbeit verrichtete.
»Die Küche ist da hinten«, sagte Philippe und deutete nach rechts.
»Gibt es einen Zugang? Sie müssen sich wahrscheinlich mit Ratten und Fettabläufen und sowas herumschlagen.«
»Keine Ratten«, sagte Philippe. »Unser Schiff ist sauber.«
Rodney lehnte sich an einen Trägerpfosten, um seinen Kopf ein wenig zur Ruhe kommen zu lassen. Er überlegte sich, ob er seinen Gürtel mit der Ausrüstung zurücklassen sollte, aber er würde sie vielleicht später noch brauchen. Im neueren Flügel war der Keller niedriger und sie mussten sich ducken, um nach einem Zugang zu suchen. »Sie denken, all das ist nur ein Haufen Blödsinn, oder?«
»Es passieren die seltsamsten Dinge. Wie Frauen, die auf ihre Chance bei mir verzichten. Verrückte Welt.«
Rodneys Sprechfunkgerät begann zu stottern. Batterien, die entleert schienen, enthielten manchmal noch eine letzte Reserve. Oder vielleicht war er aus dem unmittelbaren Einflussbereichs Luzifers hinausgetreten und wieder in den Gnaden Gottes. Er sprach in das Gerät hinein: »Hier Schabe.«
»Du bist noch nicht fertig«, kam die Antwort.
»Wer spricht da?«, fragte Philippe.
Rodney blickte auf die Energieanzeige des Geräts. Sie zeigte ›leer‹. Was immer auch das Gerät zum Leben erweckt hatte, hatte seine eigene Energiequelle benutzt. »Der Boss.«
»Mr. Wilson?«
»Eine höhere Macht.«
»Mehr«, tönte die knisternde Stimme aus dem Walkie-Talkie.
Rodney umklammerte sein Kruzifix. Er schwitzte trotz der feuchten Luft im Keller. Wenn Gott sprach, blieb ihm keine andere Wahl, als zu gehorchen. Er befreite das lange silberne Kruzifix aus seiner Halterung.
»Waaas issscht daaas?«, sagte Philippe, der die Kontrolle über seinen Akzent verlor.
»Seltsame Dinge passieren.« Rodney brachte das Kruzifix mit einem Schwung nach oben, bevor Philippe im Dunkeln die Bewegung wahrnehmen konnte. Es durchbohrte seinen Hals.
»Gak«, brachte der Franzose hervor, während Blut aus der Wunde und seinem Mund schoss. Er schwankte für einen Moment und umklammerte das Kruzifix. Er zog es mit einem Sipp aus seinem Hals und starrte es mit großen Augen an, nicht verstehend, warum Jesus die am Kreuz erlittenen Leiden mit ihm teilen wollte.
»Jesus ist für unsere Sünden gestorben«, sagte Rodney. »Nun wirst du für deine sterben.«
Philippe brach zusammen und Rodney wischte das Kruzifix am Hemd seines Opfers ab. Er wusste nicht, wie die Leiche davongeschafft werden würde – vielleicht würden sich die Seil-Tentakel über den Boden schlängeln oder die Kabel über ihnen würden sie zum Heizkessel bringen. Rodney wollte aus dem Keller heraus sein, bevor das passierte.
Luzifers größter Trick war nicht, die Leute dazu zu bringen, nicht an ihn zu glauben. Sein größter Trick war, dass er besser Gott spielen konnte, als Gott es jemals vermocht hatte.