Kapitel 21
Ronnies Nase schmerzte.
Nicht so sehr, dass davon das Pulsieren an der Seite seines Kopfes, wo ihn Whizzer getroffen hatte, verschwand, aber mehr als schlimm genug. Whizzer hatte ihn böse angeblickt, als die Days in die Kirche gekommen waren, hatte sogar versucht aufzustehen, aber einer von Whizzers dumpfbackigen Brüdern hatte ihn zurückgehalten. Whizzer grinste über seine Zigarettenkippe hinweg ein Wir seh’n uns nach dem Gottesdienst-Grinsen.
Ronnie präsentierte ihm versteckt seinen Mittelfinger und folgte seiner Mutter in die zweite Reihe. Tim saß zwischen Ronnie und Mom und sah sich mit einem ehrfürchtigen Gesichtsausdruck in der Kirche um. Tim war nicht schwer zu beeindrucken. Ronnie hatte ein wenig gezittert, als er die Treppenstufen zur Kirche hochstieg, aber nun, da er drinnen war und sehen konnte, dass es auch nur eine Kirche wie jede andere war, nur ein bisschen älter, konnte er seine Angst im Zaum halten.
Er erkannte die meisten Menschen in der Kirche, auch wenn er nicht von jedem den Namen wusste. Da saß die unheimliche Mama Bet McFall, die letzte Woche vorbeigekommen war, um Mom ein paar Gläser eingelegte Okraschoten zu verkaufen. Jeder, der überhaupt Okra aß und gar noch einlegte, musste bekloppt sein. Außerdem war sie Archer McFalls Mutter, und Ronnie wusste, dass Archer etwas mit den Problemen zwischen seinen Eltern zu tun hatte.
»Zappel nicht«, flüsterte Mom zu Tim, der vor Aufregung wild mit den Beinen geschlenkert hatte. Er lehnte sich auf der Bank zurück und saß für etwa zwanzig Sekunden still. Dann fingen seine Beine wieder an, sich zu bewegen.
Ronnie blickte seine Mutter an. Sie wirkte glücklich, ihre Augen glänzten im Kerzenlicht, in ihren Mundwinkeln zeichnete sich ein Lächeln ab. Sie hatte seit Jahren nicht mehr so viel gelächelt, niemals in der Baptistenkirche, kaum jemals zu Hause, nicht einmal beim Heimatfestival in der Schule, als Dad sie für einen Clogging-Stepptanz auf die Tanzfläche gezerrt hatte. Aber nun war sie glücklich und sie hielt die Hände über ihr Herz, als wollte sie hineingreifen, es packen und dann verschenken.
Die anderen Gemeindemitglieder flüsterten miteinander und waren ebenso aufgeregt wie Tim. Es stand etwas bevor. Man konnte es in der Luft spüren wie eine schwache Dosis Elektrizität, etwa so wie der Schock, den man bekam, wenn man ein Kabel zwischen den beiden Polen einer Autobatterie berührte. Nicht schlimm genug, um ernsthaft wehzutun, aber mehr als genug, um sich unbehaglich zu fühlen.
Es fühlte sich an wie einer dieser Wendepunkte. Ronnie fand es gar nicht gut, dass so viele Wendepunkte in so kurzer Zeit auftraten. Wenn man sich in zu viele unterschiedliche Richtungen wandte, verknotete man sich und wusste am Ende nicht mehr, in welche Richtung man eigentlich ging.
Mama Bet drehte sich um und lächelte den Days zu. Ihr fehlten drei Zähne und ihr Grinsen sah aus wie das einer makaberen Kürbislaterne. »Ich bin froh, dass du heute kommen konntest, Linda«, sagte sie. Ihre Worte klangen feucht und verschnupft.
»Ich würde für nichts in der Welt darauf verzichten wollen«, antwortete Mom mit diesem leeren und zufriedenen Lächeln.
»Sehe, du hast die Jungs mitgebracht.« Mama Bet nickte Ronnie zu, dann streckte sie die Hand aus, um Tims Kopf zu tätscheln. »Der kleine Timothy Day. Was hältst du von der Kirche?«
Tim wich vor ihren knotigen Fingern zurück, dann bewegte er seinen Kopf nach links und rechts, so als ob er die Nachwirkung ihrer Berührung abschütteln wollte. »Sie macht nicht so viel Angst«, sagte er in dem kühnen Ton eines Neunjährigen. »Sie soll doch gruselig sein.«
Mama Bets Augen wurden schmaler und einige der Mathesons am anderen Ende der Bankreihe hörten auf zu flüstern und starrten Tim an.
Tim fuhr fort. »Hier soll es doch spuken, aber es ist genau wie in der Baptistenkirche, nur dass es komisch riecht. Wie Wachs und altes Fleisch und–«
Ronnie stieß ihm einen Ellbogen in die Seite.
»Deine Mutter hat hier sehr viel gearbeitet«, sagte Mama Bet. »Sie hat die Kirche richtig sauber gemacht, gemeinsam mit einigen der anderen hier. Sie hat sie der Herrlichkeit Archers würdig gemacht.«
Ronnie runzelte die Stirn. Archers Herrlichkeit? In der Baptistenkirche sprachen sie immer von der Herrlichkeit Jesu und Gottes. Menschen sollten nicht herrlich sein, zumindest nicht, bis sie tot waren. Aber hier war Mama Bet und sagte schlimme Sachen mitten in der Kirche. Und Gott kam nicht aus dem Gebälk, um sie niederzustrecken.
Moms Lächeln verschwand. »Was ist los, Liebling?«, fragte sie Ronnie.
»Prediger Staymore sagt, dass alles für die Herrlichkeit Jesu ist.«
Mom und Mama Bet lachten gemeinsam.
»In dieser Kirche ist das ein bisschen anders«, sagte Mom.
»Du meinst, wie die Methodisten und die Katholiken und all diese anderen Leute, von denen Dad sagt, dass sie es einfach nicht besser wissen?«, fragte Tim.
»So ungefähr, ja«, antwortete Mom. »Nur dass man hier, wenn der Teller herumgereicht wird, nimmt anstatt geben zu müssen.«
»Cool«, sagte Tim.
Ronnie hatte ein komisches Gefühl im Magen, so als ob er einen Stiefel geschluckt hätte. »Mom?«
»Was ist?«
»Warst du jemals in Kalifornien?«
Mom und Mama Bet tauschten Blicke aus. Die Mathesons hatten wieder angefangen, untereinander zu flüstern, wurden aber plötzlich still, als sich die kleine Tür neben der Kanzel öffnete. Mama Bet drehte sich um und blickte nach vorn. Sogar die Kerzen hörten auf zu flackern, so als ob sie es nicht wagten, etwas von dem für den Prediger kostbaren Sauerstoff zu verbrauchen. Die Nacht außerhalb der Fenster wurde noch eine Spur dunkler. Stille breitete sich in der Kirche aus wie Wasser, das in eine Flasche fließt, und dreißig Augenpaare waren auf den Mann in der Tür gerichtet.
Archer überquerte die Bühne wie ein Schauspieler. Moms Mund öffnete sich leicht, als ob sie Zeugin eines Wunders wäre. Ronnie studierte das Gesicht des Predigers und versuchte zu sehen, was die anderen offenbar sahen, diese besondere Qualität, die die Gemeinde bannte. Archers Blick traf den seinen, aber sicherlich bildete sich Ronnie das nur ein, denn der Prediger blickte überall gleichzeitig hin und sah jedem in der Kirche in die Augen.
Ronnie hatte so ausdrucksvolle Augen nur einmal zuvor gesehen. Gemalte Augen. In der farbigen Illustration in seiner Bibel, beim Portrait von Jesus. Traurige, liebende Augen. Augen, die sagten, Ich bin traurig, dass ihr mich töten müsst, aber ich vergebe euch.
Ronnie schauderte. Er wünschte sich, dass Prediger Staymore hier wäre. Der Prediger würde Ronnie mit ruhiger, aber gleichzeitig kräftiger Stimme erklären, dass Jesus das Licht und die Wahrheit und der Weg war, dass der Herr anklopfte und alles, was man tun musste, war, sich zu öffnen. Aber Prediger Staymore war meilenweit entfernt und es war nicht einmal Sonntag. Ronnie wusste gar nicht, ob man an irgendeinem anderen Tag als Sonntag überhaupt gerettet werden konnte.
Wenn ihm Prediger Staymore doch nur alle Regeln mitgeteilt hätte. Dann würde ihm dieser neue Prediger mit seinem friedfertigen Gesicht, den weisen Augen und den zierlichen Händen, die das Pult packten, nicht so viel Angst einjagen. Wenn Ronnie die Regeln kennen würde, wenn er nicht auf die Hilfe des Predigers angewiesen wäre, um Jesus den Weg in sein dunkles sündiges Herz zu zeigen, dann würde sich Ronnie vielleicht nicht vor den Worten fürchten, die sich anschickten, aus dem Mund des Predigers zu kommen. Wenn Ronnie sich sicher sein könnte, dass Jesus noch immer in ihm war, dann würde nichts Anderes eine Rolle spielen. Außer Mom und Tim und Dad.
Aber er war sich nicht sicher.
Archer lächelte vom Pult herab, seine Zähne glänzten im Kerzenlicht. Und neunundzwanzig Menschen lächelten zurück, Mama Bet und Whizzer und Lester Matheson und Mom und sogar Tim. Nur Ronnie zweifelte. Es schien so, als ob auf der ganzen Welt nur Ronnie nicht verstand und glaubte.
Und Ronnie fragte sich, ob er der einzige war, der das Sichregen und Scharren im Glockenstuhl hörte.
»Opfer sind die Währung Gottes«, sagte Archer zu seiner Gemeinde, während er das vorbereitete Abendmahl von einer Ablage unter dem Pult nahm. Der Teller war mit einem dunklen Tuch bedeckt, aber auf dem Stoff waren trotzdem Flecken zu erkennen. Archer atmete den süßen Duft ein.
Den Ritus auszuführen gefiel Archer am Messias-Spielen am besten.
Riten waren wichtig für die Kirchengemeinde. Das galt für Katholiken, Baptisten, Juden und Muslime ebenso, wie es für die unglücklichen Mitglieder des Tempels der Zwei Sonnen gegolten hatte und nun für diejenigen im Schoß der roten Kirche galt. Es war die Handlung, die sie zu einer Gemeinschaft machte und an Archer band, die sie willig machte, in der Währung von Opfern zu bezahlen. Und die Aufgabe des Predigers war, dafür zu sorgen, dass die Show den Eintrittspreis wert war.
»Und Gott sandte seinen Sohn, der die Welt in die Irre schickte«, sagte Archer und hob das Abendmahl. »Und dieser Sohn, der schreckliche, gotteslästerliche Jesus, den sie Christus nannten, gab den Menschen sein Fleisch, damit sie verunreinigt würden. Und Gott blickte herab und er sah, dass das Böse auf die Welt losgelassen war.«
Archer blickte seine Gemeinde an. Die »alten Familien«. Das lebendige Fleisch derjenigen, die vor so vielen Jahrzehnten Wendell McFall ermordet hatten. Sie hatten ihre Reinigung verdient. Wut loderte in seiner Brust, aber er behielt das sanftmütige Lächeln auf seinem Gesicht. Einer seiner Mundwinkel zuckte, aber er bezweifelte, dass das von irgendjemand bemerkt wurde. Die Lämmer waren zu sehr auf die Gabe fixiert.
»Und weil wir verunreinigt wurden, müssen wir gereinigt werden«, fuhr er mit anschwellender Stimme fort, auf den Höhepunkt hinarbeitend.
Er fühlte das Sichregen im Glockenstuhl und erkannte, dass sich sein Schatten ein neues Opfer ausgewählt hatte. Heute Nacht würde es der Junge sein.
Aber zuerst mussten die Familien die Bitterkeit ihres Verrats zu schmecken bekommen. Sie mussten das Ausmaß ihrer Frevel erkennen. Sie mussten sich der Reinigung würdig erweisen. Er würde sie speisen. Matheson, Buchanan, Potter, Day, alle.
Er blickte herab auf seine Mutter in der ersten Bankreihe. Sogar seine teure Mutter musste gereinigt werden. Vielleicht hatte sie es mehr verdient als alle anderen. Der Ritus war seine heilige Pflicht, der Grund, weshalb er zur Gestalt geworden war. Er würde sie nicht enttäuschen.
Archer hielt den Teller vor sich und blickte nach oben.
Denn du bist ein eifernder Gott.
Er senkte den Kopf, um sein Grinsen zu verbergen, dann stieg er vom Podium und gab den Teller seiner Mutter. Er hob das Tuch und beobachtet ihr Gesicht, als sie nach der Kommunion griff. Sie öffnete den Mund und schob den Leib zwischen ihre verrotteten Zähne.
Draußen näherte sich die Welt der Mitternacht.
Frank und Sheila befanden sich auf der Straße unterhalb der Kirche, als die Gemeinde verstummte. Dann begann eine Predigt, die die hölzerne Hülle der Kirche erfüllte, und obwohl sich die Worte zu einem undifferenzierten Klangteppich verbanden, erkannte Frank Archers Stimme.
Durch die Bäume ein paar Meter vor ihnen war zu sehen, wie der verwaschene Körper von Franks Bruder zwischen den hellen Grabsteinen schwebte. In der Stille der Nacht glaubte Frank fast, das Geflüster der Wolken hören zu können, die das Gesicht des Monds berührten. Der Sheriff verstärkte seinen Druck auf Sheilas Hand, zu gleichen Teilen um sich zu vergewissern, dass sie wirklich war, und um seine Furcht zu verringern. Sie drückte zurück.
Samuel drehte sich um, Franks teurer, verstorbener Bruder, Franks größtes Versagen. »Du musst mich noch einmal töten, Frankie«, krächzte Samuel. Obwohl der Geist lächelte, gaben die blauen Augen keine Regung preis.
»Dich töten?« Frank taumelte in den Bereich aus Unkraut und Sträuchern, der den Friedhof umgab. Er wusste, wo Samuel jetzt war. Er erkannte die Form des Grabsteins aus Granit, die beiden Steine daneben. Zu Hause. Samuels Zuhause.
»Samuel?«, sagte Frank mit leiser Stimme. Er hatte hier unzählige Male zu seinem toten Bruder gesprochen, während er in dem saftigen Gras kniete, das durch die Verwesung seines Bruders genährt wurde. Aber er hatte nicht zu träumen gewagt, dass sein Bruder eines Tages antworten würde.
»Töte mich, Frankie«, flehte der Geist und plötzlich war Samuel wieder ein kleiner Junge, nichts, vor dem man sich fürchten musste, nur ein verängstigter, verlorener und einsamer kleiner Junge. Ein Bruder. »Du musst mich befreien.«
»Warum ich?«, fragte Frank.
»Weil es dir wehtun wird«, sagte Sheila. Samuels Mund verzog sich zu einem boshaften Grinsen, während er zustimmend nickte.
»Was zum Teufel bedeutet das?«, fragte Frank mit Wut auf seine eigene Hilflosigkeit und die Verwirrung, in der er sich befand. Schuld und Angst kämpften einen Kampf, der den großen Schlachtfesten im Alten Testament das Wasser reichen konnte.
»Weil es das Schwierigste ist, das du jemals tun kannst«, sagte Sheila. »Samuel noch einmal zu töten würde dein größtes Opfer sein.«
»Und Opfer sind die Währung Gottes«, fügte Samuel hinzu.
»Hast du deinen Revolver?«, fragte Frank Sheila.
»Nein. Hab ihn im Fluss verloren.«
Frank hastete durch das Gebüsch und kümmerte sich nicht darum, ob ihn die Gemeinde hören konnte. Sheila folgte ihm. Frank kam sich lächerlich vor beim Gedanken, einen Geist zu töten. Aber was konnte er sonst tun? Er hatte endlich eine Gelegenheit, einen alten Fehler wiedergutzumachen, und alles, was er tun konnte, war, ihn zu wiederholen. Er musste Samuel dieses Mal wirklich töten, mit den eigenen Händen. Er musste Samuel von dem befreien, was auch immer oder wer auch immer den Geist des Jungen besaß.
Samuel breitete flehend die Arme aus, auf das wartend, was nach dem Jenseits kommen würde. Sein Mund verzog sich und schwoll an mit den Würmern, die zwischen seinen Zähnen umherkrochen. Einer kroch heraus und wand seinen blinden Kopf hin und her, und Frank musste gegen den Ekel ankämpfen, der sich in seinem Magen ausbreitete. Er durchquerte das Gras und torkelte zwischen Grabsteinen und Denkmälern. Als er sich näherte, konnte er Samuel riechen, der Gestank von Maden und Lehm lag in der Luft.
Er erreichte Samuels Grab, sah den Schatten des Flachrelief-Lamms, las die Worte »Möge Gott ihn schützen und bewahren« und fühlte die vom Fleisch seines toten Bruders ausgehende Kälte, als er die Hände hob, um Samuels Hals zu packen. Und seine Hände trafen auf leere Luft, als die Erscheinung flackerte und sich vor seinen Augen auflöste.
Frank fiel auf Hände und Knie und begann, das Gras auszureißen, wobei er nicht auf seine Schulterwunde achtete.
»Samuel«, schrie er mit sich überschlagender Stimme. Er krallte die Hände in die Erde und ignorierte den Schmerz, als seine Finger auf kleine Steine trafen. Er grub wie ein halb verhungerter Hund auf der Suche nach einem vergrabenen Knochen, die Erde um sich in die Luft werfend. Schließlich fiel er auf dem verunstalteten Grab in sich zusammen. Das tiefe Reservoir seiner Tränen quoll über, das Wasser des Mitleids und Selbstmitleids, das sich über zu viele Jahre hinweg angesammelt hatte.
In der Kirche gewann Archers Predigt an Intensität. Frank lauschte dem irren Rhythmus der Worte, als sein eigenes Gejammer verebbt war. Nach einem langen, langsamen Donnern von Herzschlägen fühlte Frank eine Hand auf seinem Kopf.
»Es ist gut, Frank.« Sheilas Stimme war so beruhigend wie ein sanfter Windhauch an einem Sommerabend, wie Seide auf einem Sonnenbrand.
Er hob das Gesicht aus dem Schlamm, den er produziert hatte. »Ich habe ihn wieder im Stich gelassen.«
»Was konntest du tun? Gerade eben oder vor zwanzig Jahren? Es ist nicht deine Schuld.«
Er blickte ihr in die Augen. Sie waren voller Verständnis, Vergebung und Mitgefühl. All das, was er niemals zuvor in den Augen einer Frau gesehen hatte. All das, wonach er niemals gesucht hatte – bis jetzt.
»Ich weiß nicht warum, aber Samuel braucht mich noch immer«, sagte Frank.
Ein Schatten fiel über Sheila, als eine große dunkle Gestalt vor den Mond trat. Frank erstarrte. Welchen Irrsinn ließ die Nacht als Nächstes auf sie los?
»Man muss diese Dinger mehr als einmal töten«, sagte die bedrohliche Gestalt.
David Day.
Der Lauf von Davids Gewehr blitzte Unheil verkündend im Mondlicht auf. Sheila spannte ihre Muskeln an, bereit David anzugreifen. Der Sheriff griff nach ihrem Arm, um sie zurückzuhalten.
»Nur, dass nicht ich es sein kann, der tötet«, sagte David.
Frank vermutete, dass bei dem Schreiner eine Schraube locker war. David hatte an diesem Tag bereits einmal sein Gewehr auf ihn gerichtet und damit bewiesen, dass er gefährlich war. Aber es war etwas Verschwörerisches in Davids Tonfall und seine Augen waren auf die Kirche gerichtet anstatt auf Frank und Sheila.
»Wovon reden Sie?«, fragte ihn Frank.
Sheila fuhr dazwischen: »Er ist verrückt, Frank.«
»Und was ist hier nicht verrückt?«, antwortete David und kniete hinter einem Zementengel nieder, dessen Flügel vom Regen so in Mitleidenschaft gezogen waren, dass die Federn nicht mehr im Detail zu erkennen waren. Er richtete das Gewehr auf eines der Kirchenfenster und blickte durch das Zielfernrohr. Frank und Sheila schien er völlig vergessen zu haben.
In der Kirche überschlug sich Archers Stimme, wobei die Worte weiter unverständlich waren. Es erinnerte Frank an die alten Filmaufnahmen, die er von den Reden Adolf Hitlers gesehen hatte, die gleichen donnernden und wahnsinnigen Tiraden. Er hatte sich immer gefragt, wie man so dumm sein konnte, sich jemandem anzuschließen, der so offensichtlich verrückt war. Nun erlebte er die Art von seltsamer Macht und Charisma, mit der die Menschen hinters Licht geführt werden konnten, die Macht, die sie all ihre eigenen Hoffnungen und Herzen und sogar ihre Menschlichkeit vergessen ließ.
Es war die Art von Macht, die Archer besaß. Oder die ihn besaß.
Eine Macht, die kein Mensch haben sollte, weil kein Mensch mit ihr umzugehen verstand. Aber Archer war nicht menschlich. Frank blickte den an sein Gewehr gekauerten David an und fragte sich, ob überhaupt irgendjemand menschlich war. Dann spürte er Sheilas Hand in seiner eigenen.
Ja. Da war jemand, der menschlich war.
Jemand, der lebte und atmete und liebte.
»Was haben Sie mit ›Man muss diese Dinger mehr als einmal töten‹ gemeint?«, fragte Frank David.
Der Mann drehte sich um mit gespenstischen Schatten auf seinen Augen. »Erinnern Sie sich, was ich Ihnen heute bei uns im Haus gesagt habe? Dass ich Archer so oft töten werde, wie es nötig ist?«
»Ja?«
»Als er mit all diesen Mädchen von hier nach Kalifornien gegangen ist, hat er den Tempel der Zwei Sonnen gegründet. Ich weiß nicht, ob Sie davon wissen, aber ich vermute, das war nur ein weiteres Werk des Teufels. Ich bin hingefahren, um Linda zurückzuholen. Sie war achtzehn. Zum Teufel, sie wusste nicht, was sie tat. Und ich tippe, ich auch nicht. Alles was ich wusste, war, dass ich sie liebte und dass ich sie nicht ohne einen Kampf aufgeben würde.«
»Manche Menschen müssen nicht gerettet werden«, sagte Sheila.
»Nehmen Sie es mir nicht übel, Detective, aber mit ihren billigen Weisheiten werden Sie sich in dieser Gegend nicht mal einen Becher schmutziges Wasser kaufen können«, sagte David. »Ich bin zu Lindas Wohl nach Kalifornien gegangen, nicht zu meinem eigenen. Und dann habe ich gesehen, was mit einem von den Mädchen passiert ist, das mit Archer dorthin gefahren war.«
Franks Magen zog sich zusammen. Archers Stimme geiferte, dröhnte, erreichte Stufen der Raserei, bei der nicht einmal ein baptistischer Erweckungsprediger in einem Zelt mithalten konnte.
»Er hat sie umgebracht«, sagte David. »Und aufgeschnitten. Er hat ihr Herz herausgeschnitten und vielleicht auch noch anderes. Nach dem ersten Teil habe ich meine Augen geschlossen. Aber erst, nachdem ich gesehen hatte, wie sie den Teller mit dem Fleisch herumreichten.«
»Genauso, wie er es hier gemacht hat«, flüsterte Frank. Dann erinnerte er sich an den merkwürdigen Geschmack, den er im Mund gehabt hatte, nachdem er Archers Gottesdienst beigewohnt hatte. Was war in diesen verlorenen Stunden passiert?
»Nein«, sagte Sheila, die ungläubig den Kopf schüttelte.
Aber es gab nichts mehr, das unglaublich war. Sie hatten beide gesehen, wie Archer vor ihren Augen seine Gestalt verändert hatte. Sie hatten beide beobachtet, wie Sheila fünf Mal aus kürzester Entfernung auf ihn geschossen hatte. Und doch war der Prediger hier, hütete seine Herde, sammelte die herumirrenden Lämmer, fütterte sie mit dem Wort.
»Deshalb hab ich ihn erschossen«, sagte David. »Ihn umgebracht – dachte ich zumindest.«
Eine große Wolke schob sich vor den Mond und verdunkelte vorübergehend den Hügel. Die in der Kirche brennenden Kerzen stellten die einzige Lichtquelle dar. Es gab keine Straßenbeleuchtung in Whispering Pines, und die verstreut liegenden Häuser wurden von den Hügeln verdeckt. Frank fühlte sich, als ob sie die einzigen Menschen auf der Welt wären, als ob alles außerhalb des Friedhofs und der ihn umgebenden Berge in ein dunkles Nichts gefallen wäre. Und dass das, was noch an Zivilisation blieb, an Menschlichkeit, Hoffnung und Vernunft, sich genau hier aufhielt. Frank und Sheila und David. Archer und seine Gemeinde.
Und die Kirche.
Die rote Kirche mit ihren goldenen Augen.
Die Kirche, die Samuel verschlungen hatte.
Die Kirche, die auch Franks Vater und seine Mutter auf dem Gewissen hatte.
Die Kirche, die in ihren befleckten und widerspenstigen Brettern Geheimnisse barg.
Die Kirche, die die Schuld der alten Familien angehäuft hatte, die lüstern auf ihre Hochzeiten geblickt und bei ihren Begräbnissen gelauscht hatte und sich am weichen, schwärmerischen Überfluss ihrer Gebete weidete.
Die Kirche, in der die Geister der Erinnerung hausten.
Die Wolke zog weiter und der Mond verbreitete wieder sein unheilvolles Licht. Der Kirchturm drängte in den Himmel, das missgestaltete Kreuz war vor dem Nachthimmel kaum zu erkennen. Die Äste des Hartriegels baumelten im sanften Wind und streichelten den Kirchturm wie eine Mutter ihr Baby. Im Glockenstuhl bewegten sich die Schatten, die Dunkelheit teilte sich.
»Sie sehen es auch, oder?«, fragte David.
Frank nickte.
»Was?«, fragte Sheila.
»Das Glockenmonster«, sagte David.
»Das Ding, das Samuel umgebracht hat«, fügte Frank hinzu.
Ja, die Kirche war verantwortlich, nicht Frank. Wenn die Kirche nicht all diese Jahre überdauert und Legenden angesetzt hätte wie Moos auf einen Stein, dann wären Frank, Samuel und die anderen in jener schicksalhaften Halloween-Nacht nicht hier gewesen. Wenn es Wendell McFalls Sünden nicht gegeben hätte, wäre keine der Tragödien passiert. Wenn, wenn, wenn.
Wenn Samuel noch am Leben wäre, wäre er nicht tot. Wenn Samuel noch tot wäre, wäre er kein Geist.
Davids nächster Satz unterbrach Franks Gedankengang und brachte ihm das dem Fluss zu verdankende Frieren, das er zu verdrängen versucht hatte, ins Bewusstsein zurück.
»Sie sind derjenige, der ihn töten muss, Sheriff.«
»Wovon reden Sie?«, fragte Sheila.
»In Ihnen fließt das Blut«, sagte David, Sheila ignorierend. »Sie gehören zu den alten Familien. Deshalb sind meine Kugeln nutzlos. Jemand, der zu Archer gehört, muss es tun.«
Vielleicht. Sheila sagte nichts, aber Frank wusste, was sie dachte. Ihre Kugeln hatten Archer auch nichts anhaben können. Vielleicht war es wirklich die Art und Weise, wie das hier funktionierte.
Wendell McFall war von seiner eigenen Gemeinde getötet worden. Und wenn Wendell hinter der Sache steckte, wenn Wendell ein ruheloser Geist war, der für immer an die Kirche gebunden war, dann musste sich das Geschehen vielleicht noch einmal so abspielen...
Frank ballte die Hand zur Faust und rieb sie gegen seine Schläfe. Der Schmerz ließ ihn die törichten Gedanken vergessen. Was half es schon, wenn er zu verstehen versuchte, warum Whispering Pines den Bach runter ging? Wichtig war, dafür zu sorgen, dass es aufhörte.
»Er hat Recht, Frank«, sagte Sheila. »Ich weiß, es hört sich lächerlich an – und du weißt ja, dass ich nichts von all dem glaube –, aber wenn es bei diesem Spiel überhaupt Regeln gibt, hört sich diese ziemlich plausibel an. Das war es, was Samuel dir sagen wollte.
»Meine Jungs sind da drin«, sagte David und nickte Richtung Kirche. »Sie müssen sie retten. Und auch Linda. Ich vermute, wenn ihr Gott vergeben kann, kann ich es auch. Ich tippe, wenn man jemanden rettet, ist man ihm verpflichtet.«
David streckte Frank sein Gewehr hin. Er blickte zum Glockenstuhl, zu dem zitternden Gewebe der Dunkelheit. Frank nahm das Gewehr.
Es war schwer und fühlte sich in seinen Händen ungewohnt an. Er hatte Waffen nie sonderlich gemocht. Als Junge hatte er gejagt, später hatte er genug Treffsicherheit unter Beweis gestellt, um die Polizeiausbildung zu bestehen, aber seitdem hatte er kaum geschossen. Als er vor acht Jahren zum Sheriff gewählt wurde, hatte er aufgehört, ein Pistolenhalfter zu tragen.
»Was, wenn Sie sich irren?«, fragte Frank David.
»Er irrt sich nicht«, sagte Sheila. »Archer sagt, Opfer sind die Währung Gottes.«
Franks Kiefer verspannte sich. »Was hast du gesagt?«
Sheila blieb stumm, ihr Gesicht war blass im Mondlicht. Frank wollte sie noch einmal fragen, wollte sie schlagen, wollte etwas tun, um ihre Worte aus seinem Gedächtnis zu löschen, sie dazu bringen, sie zurückzunehmen und hinunterzuschlucken, aber der Tag starb, während er vor ihr stand.
Mitternacht.
Die Nacht wurde vom ersten Glockenschlag zerrissen.