Kapitel 16
Der Raum für Hellseher war 131, und Cristos Rubio hielt dort Hof im großen Stil.
Als Wayne den Raum betrat, saß Rubio im Schneidersitz in der Mitte des Raums auf dem Boden. Seine Augen waren geschlossen, seine Hände lagen mit den Handflächen nach oben auf seinen Knien. Er trug sein Markenzeichen, einen lilafarbenen Umhang, der durch eine Schnur aus Seide um seinen Hals auf seinen Schultern gehalten wurde. Sein faltiges braunes Gesicht war von Geheimnissen geprägt, und seine Haut sah aus, als ob sie abblättern würde. Seine Augen waren klein, dunkel und glichen denen eines Reptils.
Ein junger Mann saß vor Rubio. Zwischen ihnen befand sich ein Satz Karten. Der junge Mann hielt eine der Karten an seine Brust gepresst.
»Die Karte, die Sie halten, ist die Karosieben«, sagte Rubio mit seinem ausgeprägten spanischen Akzent.
Der Mann drehte die Karte um und warf sie auf den Boden, wo sie von dem halben Dutzend Zuschauer angestarrt wurde. Es war die Piksechs.
»Drei von acht«, sagte der Mann.
Rubio öffnete seine Augen. Das linke begann umher zu schweifen und richtete sich auf eine Ecke des Zimmers. Im Mittelalter wurden diejenigen mit umherschweifenden Augen als Seher betrachtet, und die Glücklichen unter ihnen konnten sich ihr Brot durch Wahrsagen, vorzugsweise einer glücklichen Zukunft, verdienen. Der Rest von ihnen wurde auf dem Scheiterhaufen verbrannt oder aus dem Land gejagt.
»Heben Sie ab«, sagte Rubio.
Der Mann folgte der Anweisung und Rubio berührte die oberste Karte. Die Zuschauer wurden still, so als ob auch sie versuchten, mit der Karte Kontakt aufzunehmen. Wayne bewunderte Rubios Sinn für Dramatik, das geschickte Verlängern des Momentes. Rubio nahm seine Finger von der Karte, der Mann nahm sie auf.
»Es fühlt sich an wie der Herzbube«, sagte Rubio.
Der Mann drehte die Karte um und enthüllte dabei, dass Rubio korrekt vorhergesagt hatte. Oder die in den Mustern auf der Rückseite versteckten Markierungen richtig interpretiert hatte.
»Vier von Neun«, sagte der Mann mit einem Anflug von Ehrfurcht.
»Ist er ein Betrüger?«, flüsterte eine Frau im hinteren Teil des Zimmers.
»Wahrscheinlich«, sagte ein Mann in einem schwarzen Rollkragenpullover. »Aber es ist eine gute Show.«
»Ich habe die Karten selbst geprüft«, sagte Wayne. »Er ist sauber.«
Soweit ich weiß.
Wayne war über das Internet auf Cristos Rubio gestoßen, als er sich gedacht hatte, dass ein Hellseher das Konferenzprogramm abrunden würde und einigen der weniger engagierten Teilnehmern einen Grund geben würde, auf die Geisterjagd-Touren zu verzichten.
»Noch einmal«, sagte Rubio. »Ich sollte eine Trefferquote von mindestens 50 Prozent erzielen können.«
Der Mann führte den Vorgang noch einmal aus und dieses Mal erriet Rubio korrekt die Kreuzdrei. Dies rief ein paar »Oohs« und »Aahs« hervor, und auch Gemurmel. Gelbaugh, der mit seinem patentierten Grinsen an die Wand gelehnt stand, verkündete: »Kaum das, was man ein kontrolliertes Experiment nennen könnte.«
Der Mann, der die Karten gab und dessen Gesicht so spitz war wie das eines Wiesels, sagte: »Warum versuchen Sie es nicht mal?«
Gute Vorstellung, dachte Digger. Vielleicht sollte ich das zu einem festen Bestandteil von Haunted Computer Productions machen.
Gelbaugh bahnte sich einen Weg durch die Menge und bewegte sich dabei wie ein Sheriff in einem Kinofilm auf dem Weg zu einem Showdown. »Lassen Sie es uns mit meinem Kartensatz versuchen«, sagte er, während er in seinen Blazer griff. »Dann wissen wir, dass alles in Ordnung ist.«
Solange ihr Schurken nicht unter einer Decke steckt.
Gelbauch brachte ein Kartenspiel mit einem aufwändigen, mystischen Design auf den Rückseiten hervor, reichlich ausgestattet mit Sternen, Monden, Kometen und anderen Himmelskörpern vor einem mitternachtsblauen Hintergrund. Er legte den Stapel auf den Couchtisch und sagte: »Nehmen Sie eine von diesen.«
Rubio berührte den Stapel, schloss die Augen und runzelte die Stirn, wobei die tiefen Furchen so erodiert waren wie die Anden in Peru, seinem Heimatland. Seine dichten schwarzen Augenbrauen bewegten sich auf und nieder als Ausdruck seiner Konzentration. »Das sind keine Spielkarten«, flüsterte er nach einem kurzen Moment.
»Klar sind sie das«, sagte Gelbaugh. »Wir spielen doch ein Spiel, oder?«
»Übertreiben Sie’s nicht«, sagte Wayne.
»Wo ist das Problem?« Gelbaugh blickt die versammelten Zuschauer an, von denen einige ihn stumm zu unterstützen schienen. »Wollen Sie verhindern, dass jemand hinter den Vorhang blickt?«
Wayne wollte sich gerade mit der Notwendigkeit eines weiteren verbalen Scharmützels mit Gelbaugh abfinden, als sich Rubio mit wieder erstarkter Stimme zu Wort meldete: »Ich verstehe.«
Gelbaughs Lächeln wurde von einem O der Überraschung abgelöst, und Waynes Puls schlug aufgrund des billigen Sieges schneller. Wenn Gelbaugh mit kaltem und starrem Abzugsfinger tot auf der Straße liegend zurückgelassen wurde, wären die Teilnehmer der Konferenz endlich in der Lage, sich zu entspannen und sich zu amüsieren.
»Okay«, sagte Gelbaugh. »Schießen Sie los.«
»Es ist Tarot«, sagte Rubio.
Gelbaughs Gesicht wurde teilnahmslos. »Offensichtlich«, sagte er. »Das Design legt es nahe.«
»Aus Indien.«
»Falsch. Die Karten sind aus Polen.«
»Entworfen in Polen. Bedruckt in Indien.«
Gelbaugh ließ sich nicht durchschauen. »Die meisten Drucksachen werden in Indien hergestellt.«
»Es verlagert sich gerade nach Hongkong und China«, sagte ein Mann, der eine Krawatte trug, auf der ein Geist zu sehen war, der einen Martini trank. »Ich bin in der Werbebranche. All die gefährlichen Chemikalien und keine Vorschriften, außerdem gibt es da mehr Handelsschiffe.«
»Vielen Dank für Ihre Ausführungen«, sagte Gelbaugh. »Aber ich bin mir sicher, dass Sie alle gerne zur Jagd auf die Produkte Ihrer Fantasie zurückkehren würden, also bringen wir es zu Ende.«
»Narr«, sagte Rubio.
»Vielen Dank. Aber lassen Sie sich durch Ihre Beschimpfungen nicht in Ihrer Konzentration stören.«
»Der Narr. Drehen Sie sie um.«
Gelbaugh drehte geschickt die oberste Karte um. Sie zeigte einen tanzenden Hofnarren mit einem idiotischen Grinsen im Gesicht. »Ah, gute Arbeit. Die Chancen sind eins zu siebzig – Sie sollten sich nach der Konferenz auf den Weg nach Las Vegas machen.«
»Sie ist richtig herum, das bedeutet den Beginn einer Reise. Geistig, emotional oder physisch. Entscheidungen und unerwartete Vorkommnisse stehen bevor.«
»Ebenso vage wie jedes Tageshoroskop oder ein Glückskeks. Bezieht sich das auf mich oder auf Sie?«
»Auf mich. Für Sie steht sie auf dem Kopf. Unüberlegte Entscheidungen, unbesonnene Handlungen, leichtsinniges Verhalten.«
Gelbaugh grinste und blickte im Zimmer umher. »Sind irgendwelche Damen anwesend, die erfahren möchten, wie leichtsinnig mein Verhalten sein kann?«
Eine Frau errötete, aber die meisten von ihnen machten ein finsteres Gesicht. Die Energie im Zimmer wurde greifbarer, die Erwartungshaltung wandelte sich zu Ungeduld. Wayne wollte nicht einschreiten, aber er fühlte sich verpflichtet, den toleranten Gastgeber zu spielen.
»Die nächste Karte«, sagte Wayne. »Wenn er zwei aus siebzig richtig errät, hat Christos – und mit ihm die Hellseherei – gewonnen.«
»Der Señor hat mich gerade als Spieler bezeichnet«, sagte Gelbaugh. »Ist irgendjemand bereit, 500 Dollar auf die nächste Mutmaßung zu setzen?«
Rubio schüttelte bestürzt den Kopf, aber der Werbemensch hob die Hand, als sei er ein Bieter bei einer Nachlassversteigerung. »Ich bin dabei, Arschloch.«
»Sie haben den Mann gehört«, verkündete Gelbaugh den Anwesenden, während er noch einmal abhob und die Karte mit dem Narren zur Seite schob.
Rubio streckte die Hand aus und legte seinen Zeigefinger auf den Kartenstapel. Einer seiner Mundwinkel zuckte. Im Zimmer war es so still, dass Wayne den entfernten Aufzug ins Erdgeschoss hinunter fahren hören konnte.
»Suchen Sie sich etwas Melodramatisches aus, wie den Gehängten«, sagte Gelbaugh. »Oder den Teufel.«
»Bitte scherzen Sie nicht mit diesen Dingen«, murmelte Rubio mit zusammengepressten Lippen. Der Finger auf der Karte zitterte. »Ritter der Kelche.«
Gelbaugh drehte die Karte um und grinste, bevor er sie auf den Tisch legte, damit sie von allen gesehen werden konnte. Der Werbemensch atmete tief ein. »Münzsieben. Ich vermute, das bedeutet Münzen für mich.«
»Okay, er gewinnt. 500«, sagte Wayne mit falscher Heiterkeit. »Was halten Sie davon, wenn wir das hier beenden und uns etwas Anderem widmen?«
»Doppelt oder nichts«, sagte der Werbemensch.
»Bitte«, flehte Rubio.
»In Ordnung, ich könnte einen Tausender gebrauchen, vor allem, wenn man bedenkt, wie teuer diese Konferenzen sind«, sagte Gelbaugh und hob noch einmal ab. »Vielleicht kann ich mir dann ein unterschriebenes Pressefoto von Digger Wilson leisten.«
Rubio legte schicksalsergeben und in sich zusammengesackt seine Hand auf den Kartenstapel und schloss die Augen. Seine dunkle Haut war blass geworden und Schweißperlen glitzerten wie Juwelen auf seiner Stirn. Auch den Zuschauern war das Unbehagen anzumerken.
»Es hat keinen Sinn«, sagte Rubio nach ein paar Sekunden voller Spannung.
Ohne hinzugucken streckte Gelbaugh seine Hand in Richtung des Werbemenschen aus. »Leicht verdientes Geld.«
»Warten Sie«, sagte Rubio. Seine Schultern zuckten, so als ob sie von Elektrizität mit niedriger Spannung durchströmt wurden. Zwei Frauen, die miteinander geflüstert hatten, beugten sich vor. Die ganze Gruppe hatte sich um den Tisch geschart, so dass die Luft muffig und warm geworden war.
»Ich sehe eine gebogene Form«, sagte Rubio. »Ein ›S‹.«
»Schwerter, Stäbe, der Stern, die Sonne, die Hohepriesterin, die Kaiserin ... hab ich irgendwas vergessen? Ach ja, das Rad des Schicksals. Das grenzt es nun ja wirklich nicht sonderlich ein.«
Wayne musste sich eingestehen, dass der Mann sein Tarot kannte. Gelbaugh war sehr belesen auf jedem Gebiet, das er ins Lächerliche ziehen wollte.
»Nein, nein, das hier ist eine andere Karte«, sagte Rubio.
»Etwas aus der großen Arkana?«
»Sind diese Karten ohne römische Ziffern?«
»Nett. Er spielt Unwissenheit vor.«
»Ich kenne diese Karten nicht sehr gut. Es ist nicht gut, die Zukunft zu kennen.«
Gelbaugh zwinkerte dem Werbemenschen zu: »Vor allem, wenn die Zukunft mies ist.«
»Die Form bewegt sich vor einem grünen Feld.«
»Könnte die Sonne sein«, sagte eine der Zuschauerinnen.
»Schhh«, sagte eine andere.
»Das hilft nicht«, sagte Gelbaugh. »Jede Mutmaßung hat die gleiche Wahrscheinlichkeit wie alle anderen.«
»Schlange« sagte Rubio bestimmt.
»Ha. Die Wahrscheinlichkeit ging gerade von gering auf null. Es gibt keine Schlange im Tarot.«
»Schlange«, beharrte Rubio, dessen Augenbrauen sich senkten. Sein Gesicht legte nun feste Entschlossenheit an den Tag.
»Ihre letzte Antwort?«
»Schlange.«
Gelbaugh drehte die Karte um und enthüllte dabei eine gezeichnete Schlange, die sich aus einer Wiese in einen Baum wand. Die Illustration war im gleichen Stil wie die anderen Karten, obwohl Wayne noch nie von so einer Karte im Tarot gehört hatte.
Gelbaughs Grinsen war auf seinem Gesicht gefroren, so als ob er lebendige Würmer gekostet hatte und er sie bitter fand. »Ein Trick«, sagte er.
»Kein Trick«, antwortete Rubio. »Es ist Ihr Kartensatz, wenn Sie sich erinnern wollen.«
»Diese Karte ist nicht Teil meines Satzes.«
Rubio drehte die Karte um, so dass die Bildseite nach unten zeigte. »Das Design stimmt überein.«
»Ich habe diesen Satz seit Jahren. Die Karte gehört nicht dazu.«
Wayne überlegte sich, wer so einen Aufwand für einen Streich betreiben würde. Gelbaugh war wirklich verärgert und ignorierte dabei die Tatsache, dass Rubio die Karte richtig geraten hatte. Oder vielleicht war »geraten« auch das falsche Wort. Der runzelige Peruaner hatte seine früheren Mutmaßungen mit demonstrativer Gelassenheit verkündet, aber sein Bestehen auf der Antwort »Schlange« hatte Leidenschaft und Stolz ausgestrahlt, und auch ein wenig Furcht. Nun schuldete Gelbaugh Anerkennung, aber alles was er zu bieten hatte, war Wut.
Gelbaugh schlug mit seiner Faust auf die Tischplatte und brachte dabei die restlichen Karten durcheinander. »Es muss jemand in meinem Zimmer gewesen sein«, sagte er. »Ich hatte den Satz weggeschlossen.«
»Nur die Hotelangestellten haben Zimmerschlüssel«, sagte Wayne.
Der Werbemensch schlug Gelbaugh auf den Rücken und sagte: »Wir sind quitt.«
»Er hat betrogen«, sagte Gelbaugh, der wütend die Karten zählte. »Es dürfen nur 70 Karten sein.«
»Vielleicht hat er die Karte mit seinem Geist verändert«, sagte eine Frau in einem zerknitterten Seidenpullover.
Wayne trat näher, um die Karte in Augenschein zu nehmen, als Gelbaugh sie aufnahm. Ihre Wachsschicht zeigte die gleichen Spuren von Abnützung wie die anderen Karten, sie war keinesfalls neu. Sie glich den anderen Karten in allem außer ihrem Motiv. Wayne fragte sich, was die Schlange wohl bedeuten würde, wenn sie Teil der Arkana wäre. Vermutlich würde sie alle historischen und psychologischen Metaphern schlangenhaften Verhaltens nahelegen – Versuchung, Gift und Kaltblütigkeit, mit der Kehrseite des Abwerfens einer alten Haut. Und natürlich gab es dann auch noch die Freudsche Interpretation der männlichen Genitalien.
Cristos Rubio lehnte sich erschöpft und in sich zusammengesunken zurück. »Schlange«, flüsterte er mit Bestimmtheit.
»... 37 ... 38 ... 39 ...« Gelbaugh zählte.
»Er hat sie unten vom Stapel hervorgezogen«, sagte jemand.
»Ich traue ihnen beiden nicht«, sagte jemand anderes.
»Cristos hat mir geholfen, meine Autoschlüssel zu finden«, sagte eine Frau, die nun so über dem selbsternannten Hellseher stand, als ob sie seine Filmrechte vermarkten wollte.
»... 67, 68, 69.« Gelbaugh berührte die Schlangenkarte, die noch immer auf dem Tisch lag. »Siebzig. Jemand hat eine ausgetauscht.«
»Es ist Ihr Kartensatz«, sagte Wayne.
Gelbaugh stand und hielt die Tarotkarten ungeordnet in seiner Hand. »Sie stecken alle unter einer Decke«, sagte er. »Sie auch, Digger.«
»Hey, Sie haben sich nicht einmal dafür angemeldet, sich die Karten legen zu lassen«, sagte Wayne.
Gelbaugh deutete mit einem erbosten Finger auf Rubio. »Wenn Sie Gedanken lesen können, dann wissen Sie, was Ihnen blüht.«
Gelbaugh griff nach der Schlangenkarte und verließ fluchtartig den Raum. Rubio lächelte, und Wayne bemerkte zum ersten Mal, dass der Kopf des Hellsehers eine große Ähnlichkeit mit der abgerundeten, reptilischen Form der Schlange aufwies.