4. Schlagabtausch
Unter dem Esstisch ertönte Schnaufen und Schmatzen.
Lutz war ohne Frage gerade ein sehr zufriedener Hund. Chinesisches Essen war seiner Meinung nach ein ganz besonderer Schmackofatz, den man möglichst lautstark verzehrte, wie es in China schließlich zum guten Ton gehörte.
Über der Tischplatte herrschte dagegen eisernes Schweigen.
Genau wie ich saß Sander vor einer Schale voll lauwarmem Essen, die unbenutzten Stäbchen zwischen den Fingern. Obwohl in unserem Panoramafenster an diesem Abend eine wunderbare Aussicht auf den Pamir geboten wurde, samt einem Miniatur-Zeltlager mit Ziegenherde und Wachfeuer, musterte Sander mich über den Tisch hinweg. Unwillkürlich bedeckte ich meine geschwollene Oberlippe und rechnete jeden Augenblick mit einem fiesen Spruch.
Meine Erwartung wurde umgehend erfüllt. »Tut mir leid, es sagen zu müssen, aber eine Hand reicht zum Bedecken deines Herpes nicht aus. Das Teil hat mittlerweile die Ausmaße des Mount Everest angenommen.«
»Durch dein Gestarre wird es bestimmt nicht besser. Vielen Dank auch, jetzt fängt es schon wieder an zu kribbeln.«
»Ich starre dich überhaupt nicht an.«
»Wie nennst du es sonst, wenn du jemanden unter dräuenden Augenbrauen heraus beobachtest?«
Ruckzuck fuhren Sanders Brauen in die Höhe. »Niemand außer dir benutzt so ein altmodisches Wort wie ›dräuend‹, du verbringst eindeutig zu viel Zeit mit deinen Büchern. Wenn du anfängst, mich einen ›bösen Buben‹ zu schimpfen, halte ich dir den Mund zu – Herpes hin oder her.«
»Da stellt man dir eine ganz normale Frage und was kommt dabei heraus? Man wird bedroht. Das Sozialverhalten deiner spitzohrigen Kameraden aus dem Kellerloch färbt langsam ab, wenn du mich fragst.«
»Ratten sind ausgesprochen sozial veranlagt«, verkündete Sander, während er anfing, mit den Stäbchen Furchen in den Reis zu ziehen. »Allerdings verkehren in unserem Keller keine Ratten, sie sind zu intelligent, um sich in Tiamats Nähe zu begeben. Die wissen halt, wann ihr Überleben ernsthaft gefährdet ist. Offenbar greift da der gleiche Instinkt, der dich auf Abstand hält.«
»Wie charmant.« Mit Mühe unterdrückte ich das Verlangen, Sander mit frittierten Reisbällchen zu bombardieren. »Beäugst du mich deshalb so kritisch, weil du es mir übel nimmst, dass ich darauf bestehe, im Umfeld des Tors zu leben, aber außerstande bin, entsprechend auf mich selbst aufzupassen?«
»Wenn man dir so zuhört, könnte man glatt auf die Idee verfallen, ich würde dich bespannern. Noch einmal fürs Protokoll: Ich habe dich nicht angestarrt und auch nicht beäugt, sondern nur zu dir hinübergesehen, weil du mir zufälligerweise gegenübersitzt. Außerdem könntest du ruhig einmal lobend erwähnen, dass ich nicht eine einzige Bemerkung über deine Oberlippe gemacht habe, obwohl die durchaus Fantasien weckt.«
»Mount Everest«, hielt ich dagegen.
Die Furche im Reis geriet schief. »Das gilt nicht, das ergab sich mehr so aus der Situation heraus. Du hast mich durch dein Abgetaste quasi dazu gezwungen, die Angelegenheit zu kommentieren.«
»Als ob ich dich bösen Buben zu irgendwas zwingen könnte. Oder soll ich dich lieber einen hundsgemeinen Fiesling nennen?«
Sander ließ die Stäbchen fallen und hielt sich demonstrativ die Ohren zu. »Wie gern wäre ich jetzt im Keller und müsste mir dieses verquaste Zeug nicht anhören, lalala. Dann lieber auf der Jagd nach etwas Todbringendem, trallalala.«
Ich schaute mir das Theater einen Moment lang an, dann lockte ich Lutz mit einem Stück Hühnchen an und kraulte ihm die Nackenfalte, was ich mit demonstrativer Hingabe tat. Augenblicklich stellte Sander seine Störfrequenz ein.
»Ich glaube nicht, dass diese ganzen künstlichen Geschmacksstoffe im Essen das Richtige für einen Hund sind.«
Wohl wissend, wie sehr ihn der Aufmerksamkeitsentzug mitten im schönsten Schlagabtausch quälte, ignorierte ich Sander. Es war ein albernes Spiel zwischen uns, das wir nichtsdestotrotz stets mit Leidenschaft betrieben: Uns gegenseitig auf die Palme bringen, und zwar ohne Gnade oder Rücksicht auf Verluste. In selbstkritischen Momenten fragte ich mich manchmal, ob wir mit diesem Gepricke überspielten, dass wir jede ernsthafte Unterhaltung vermieden, als berge ein echtes Zwiegespräch lauter Falltreppen, seit wir den Kinderschuhen entwachsen waren. Und in ganz besonders selbstkritischen Momenten gestand ich mir sogar ein, dass ich diesen Fiesitäten-Austausch in Kauf nahm, weil ich trotz allem gern mit Sander sprach und unsere Fopperei besser war als Schweigen.
Entsprechend hielt ich meine Ignorierstrategie nicht sonderlich lange durch, sondern unterbrach Sanders »Anouk bringt ihren heiß geliebten Lutz durch das Verfüttern von Menschenessen langsam, aber sicher um«-Monolog mit einer Drohung »Wenn du dieses dumme Gerede nicht sofort einstellst, probiere ich demnächst einmal aus, wie dir Hundefutter bekommt.«
»Das würdest du nie im Leben bringen.«
»Nun, ich bin die Königin der Küche in unserem Himmelshoch-Verein, und bislang hast du immer brav gegessen, was ich dir vorgesetzt habe. Sogar die Pansen, die ich in den Eintopf getan habe, nachdem du dich über meine Idee, eine Gefährlichkeitsskala für die Besucher zu entwickeln, lustig gemacht hast.«
Ha! Da hatte ich jemanden eiskalt erwischt. Ich konnte richtig sehen, wie die Farbe aus Sanders Gesicht wich, während er seine Erinnerung nach besagtem Eintopf durchforstete. Dann versuchte er, die Situation mit einem schiefen Grinsen zu retten.
»Das hast du nicht getan, dafür bist du viel zu wohlerzogen.«
Ich setzte mein Pokerface auf. »Lutz haben die Reste vom Eintopf jedenfalls geschmeckt. Der frisst eben alles, was mit Pansen in Kontakt gekommen ist.«
Spätestens jetzt stand fest, dass Sander die Essensschalen auf dem Tisch nicht mehr anrühren würde. Den fahlen Gesichtston hatte ich heute schon einmal gesehen, als ich die Tentakel erwähnt hatte, während er in den Muffin biss. Meine Sprüche wirkten bei ihm offenbar nachhaltiger als jede Diätabsicht. Nicht dass er so etwas nötig gehabt hätte, durch seinen Bewegungsdrang verbrannte er ohnehin jedes Gramm Energie sofort. Mir selbst war allerdings auch nicht nach Essen zumute, denn ich war viel zu aufgeregt nach unserem Match. Dabei hätte ich locker noch einen draufsetzen können, indem ich mir genüsslich das süßsauere Gemüse einverleibte und dabei entsprechende Kommentare über die Konsistenz abließ.
Mitten in unser Schweigen hinein betrat Jakob das Esszimmer.
Natürlich fiel es meinem Vater nicht auf, dass wir beide augenblicklich erstarrten, denn er war viel zu sehr daran gewöhnt, dass die Gespräche verstummten, sobald er auftrat. Das lag an seiner Ausstrahlung, der man sich nur schwerlich entziehen konnte. Sie schien ein bestimmtes Areal im menschlichen Hirn zu aktivieren, das daraufhin alles ausblendete, das nicht in direktem Zusammenhang mit Jakob stand. Als kleines Mädchen hatte diese Reaktion bei mir dazu geführt, dass ich bisweilen Angst vor meinem Vater hatte, als könne er meine Welt anhalten, wenn er es nur wolle. Erst später begriff ich, dass so etwas gar nicht in seiner Absicht lag, vor allem da seine eigene Welt mehrmals mit Gewalt zum Stehen gebracht worden war: an dem Tag, als er die Aufgabe als Wächter anstelle seines Vaters übernahm und seine eigenen Zukunftspläne hintenanstellte, und dann noch einmal kurze Zeit später, als meine Mutter uns verließ. Nach außen hin war keiner dieser beiden Brüche im Auftreten meines Vaters zu entdecken, schließlich war Jakob kein Mann, der nachsichtig mit sich oder anderen umging. Wer sonst hätte sich einen aufreibenden Job bei einer Bank zugemutet, während er die Verantwortung für ein Tor trug, dessen wahre Ausmaße er vorm Zirkel verschleierte?
Und dabei sah Jakob durchweg wie aus dem Ei gepellt aus. Ich hatte meinen Vater am Wochenende noch nie mit einem Bartschatten gesehen oder ihn dabei erwischt, wie er ein Nickerchen hielt. Vermutlich glaubte Jakob, das gesamte System, das er mit so viel Härte gegen sich selbst aufgebaut hatte, würde zusammenbrechen, sobald er sich auch nur eine Sekunde gehen ließ. Deshalb funktionierte er rund um die Uhr, entweder im Dienst seiner Bank, die ihm seine Leistung kaum angemessen vergüten konnte, oder im Dienst am Tor. Es war somit kein Wunder, dass ich mich in der Gegenwart meines Vaters oftmals als überflüssige Person mit überflüssigen Bedürfnissen fühlte. Und das, obwohl er mit mir für seine Verhältnisse relativ sanft umsprang, während Sander oftmals die volle Härte seiner Strenge zu spüren bekam, egal, wie sehr er sich in Jakobs Nähe zusammenriss und seine scharfe Zunge im Zaum hielt. Meistens jedenfalls. Und wenn es doch einmal mit Sander durchging, sorgte ich schleunigst für ein Ablenkungsmanöver. Gerieten die beiden Männer trotzdem aneinander, war das ungefähr genauso stressig, wie neben einem Wahnsinnigen zu stehen, der mit seinem Zeigefinger an dem roten Knopf zur Zündung einer Atombombe herumspielte.
Bevor mein Vater ins Esszimmer kam, hatte er seinen edlen Geschäftsanzug noch rasch gegen einen Wollpulli und ein dunkles Paar Hosen eingetauscht, was seinem Auftritt jedoch keinen Abbruch tat. Selbst in einem Pyjama sah er nicht wie eine Privatperson aus.
»Es ist sehr nett von euch, mit dem Essen auf mich zu warten, aber das wäre nicht nötig gewesen.«
Ich schenkte Jakob ein Lächeln, das er erwiderte, während er am Kopfteil des Tisches Platz nahm. Allerdings bemerkte ich, dass das Lächeln keineswegs seine Augen erreichte. Vermutlich war er in Gedanken noch bei den zerbrochenen Salzzeichen oder bei einem Problem auf der Arbeit, tröstete ich mich.
Jakob nahm eine Schachtel mit gedämpftem Tofu und begann zu essen.
Eine unangenehme Stille breitete sich aus.
Während ich mit der einen Hand anfing, mir als Übersprungshandlung Bratnudeln in den Mund zu schieben und mit der anderen Hand Lutz unterm Kinn zu kraulen, saß Sander reglos da und sorgte dafür, dass die gefühlte Temperatur sich dem Nullpunkt näherte. Keine Ahnung, ob er das absichtlich machte oder ob er nicht wusste, wie er sich ansonsten in Jakobs Nähe verhalten sollte. Solange es um das Thema Tiamat-Wacht ging, klappte es mit den beiden hervorragend. Sie waren Vollprofis, auch wenn Papa das Sagen hatte. Aber sobald etwas wie eine familiäre Situation entstand, breitete sich emotionaler Frost aus.
Während ich den Bratnudelklumpen herunterwürgte, was leichter gesagt als getan war, zerbrach ich mir den Kopf, womit ich diese Runde auflockern konnte. Das war meine Aufgabe, denn von den beiden Herren würde sich keiner dazu herablassen, das Eis, das sekündlich dicker wurde, zu brechen.
»Übrigens habe ich neulich ein wenig im Netz herumgestöbert und herausgefunden, dass man Geschichte auch als Fernstudium belegen kann«, verkündete ich. »Wenn ich nächstes Jahr mit der Schule fertig bin, brauche ich Marienfall also gar nicht verlassen.«
Mein Vater legte seine Stäbchen ab. »Warum solltest du nach dem Abitur in Marienfall bleiben wollen?«
Gute Frage. Weil ich mein Zuhause trotz all der lauernden Probleme mochte? Weil das bisschen Familie, das ich hatte, mir wichtig war? Weil ich triftige Zweifel daran hegte, dass Jakob und Sander als Duo funktionierten? Ich war vielleicht kein Wächtermaterial, aber ich hielt dieses Haus zusammen, so viel stand schon einmal fest. Nur wollte ich das den beiden nicht unbedingt unter die Nase reiben.
»Na ja, meine Freunde bleiben hier: Laboe wird eine Ausbildung im Musikzentrum als Veranstaltungstechnikerin beginnen, und Moritz wird auf keinen Fall dieses Schuljahr packen, dafür hat er einmal zu oft auf Durchzug geschaltet und aus Protest gegen Schulstumpfsinn leere Blätter bei Prüfungen abgegeben. Und Becks will Psychologie in Göttingen studieren, das ist nur drei Zugstunden von Marienfall entfernt. Die kommt jedes Wochenende nach Hause, ist doch klar. Also was soll ich da woanders zum Studieren hingehen? Einmal davon abgesehen, dass dem armen Lutz auf seine letzten Tage wohl kaum ein Studentenwohnheim zuzumuten ist.«
Bei der Nennung seines Namens ließ Lutz ein Kläffen vernehmen, das wohl »Jawohl, Lutz – das bin ich!« heißen sollte.
»Das mit Lutz zählt als Argument nicht, weil du ihn auf keinen Fall irgendwohin mitschleppen wirst. Der Hund gehört zur Inneneinrichtung von Himmelshoch und damit ist alles gesagt.«
Schau an, da fand Sander endlich seine Sprache wieder und dann kam so was dabei heraus.
»Lutz ist mein Hund«, stellte ich richtig und suchte die Schalen nach einem übrig geblieben Reisbällchen ab, um es ihm an den Kopf zu werfen. Gerade noch rechtzeitig fiel mir ein, dass mein Vater sicherlich wenig begeistert davon wäre, wenn seine fast erwachsene Tochter Lebensmittel durch die Luft katapultierte. Eine seiner demütigenden Zurechtweisungen brauchte ich heute Abend nun wirklich nicht.
So ganz ohne Beschuss war Sander allerdings nicht kleinzukriegen. »Lutz ist unser Hund und ›unser‹ bedeutet in diesem Fall zwei zu eins. Jakob und ich gegen dich. Du hast das Nachsehen, Herzchen, sieh es ein.«
»Sprich nur für dich selbst, Alexander.« Mein Vater bekam gar nicht mit, dass Sander ihn wegen seines vollen Namens anfunkelte, weil seine Aufmerksamkeit auf mich gerichtet war. »Dein Wunsch, Geschichte zu studieren, ist also immer noch vorhanden? Eigentlich hatte ich gehofft, das würde sich mit der Zeit von selbst geben, genau wie alle anderen fixen Ideen auch.«
Wunderbar. Da bot man netterweise ein Gesprächsthema an, und die Herren hatten nichts anderes zu tun, als sich wie die Geier auf die erstbeste Schwachstelle zu stürzen, als sei sie ein Filetstück. »Ich finde Geschichte als Studienfach nun einmal interessant.«
»Über die Vergangenheit zu forschen, ist wenig lukrativ«, gab mein Vater zu bedenken.
»Da gibt es hundert gute Gründe, die gegen ein Geschichtsstudium sprechen, aber du redest natürlich über Kohle.« Sander schüttelte verächtlich den Kopf, während ich staunte, dass er mir, wenn auch bloß indirekt, zur Seite sprang. »Es ist eine Sache, wenn du möchtest, dass Anouk banktechnisch in deine Fußstapfen tritt, aber ›Spekulation‹ kann man leider nicht studieren, soviel ich weiß.«
Oje, Sander begann, scharf zu schießen. Das kam in der letzten Zeit auffallend häufig vor, als würde er einen unausgesprochenen Groll gegen Jakob hegen. Gut möglich, dass seine Anspannung auch mit den Veränderungen am Tor zusammenhing, die ihm sichtlich schlaflose Nächte bescherten. Bislang reagierte mein Vater darauf mit Zurückhaltung, als würden die Kommentare an ihm abprallen, oder er strafte Sander mit Missachtung, was bei ihm immer hervorragend funktionierte. Der Rest der Welt mochte Sander glatt am Hintern vorbeigehen, aber wir Parsons hatten Gewicht. Wenn Jakob sich nicht von ihm reizen ließ, dann war das für Sander der Beweis, dass er als Person nicht wahrgenommen wurde. Und von Jakob nicht wahrgenommen zu werden, fühlte sich an, als würde man nicht existieren.
»Also, warum mir Geschichte zu studieren so wichtig ist, auch wenn sich damit keine Reichtümer erlangen lassen, liegt vor allem daran, dass … Wie soll ich es sagen?«, plapperte ich los, bevor Sander die nächste rhetorische Bombe platzen ließ. »Geschichte hat so etwas … Verbindliches. Da steht schon alles fest, man muss es nur richtig erfassen und festhalten. Den Gedanken finde ich total beruhigend, also dass man schon weiß, was passiert ist. Natürlich weiß man es noch nicht wirklich, sonst müsste man ja nicht forschen, aber im Prinzip steht es fest: Das alte Rom ist untergegangen, genau wie das Reich der Majas, und Spanien beherrscht auch schon lange nicht mehr die Weltmeere. Das sind unumstößliche Fakten. Ich mag das.«
»Demnach sagt dir an Geschichte besonders zu, dass sie keine Unwägbarkeiten enthält«, brachte mein Vater es mit seiner präzisen Art auf den Punkt.
»Genau. Unser Leben ist ein einziges Chaos, und wenn es schlecht läuft, bekommt das Chaos ein Krakengesicht und springt durchs Tor, um einem das Leben zu rauben. Da ist es doch beruhigend zu wissen, dass die Geschichte wirklich Geschichte ist. Alles Schlimme ist schon lange vorbei. Ich fände es traumhaft, mich intensiv mit Dingen zu beschäftigen, bei denen nicht mit irgendwelchen Kastenteufeln zu rechnen ist. Auf diesem Gebiet ist das höchste der Gefühle ein Streit darüber, wie eine historische Quelle auszulegen ist. Vollkommen ungefährlich das Ganze.«
Der Gesichtsausdruck meines Vaters gefiel mir gar nicht. Anstatt mir auf die Schulter zu klopfen und zu betonen, dass ich mir das wohl ganz genau überlegt habe, krauste er die Stirn. »Dass dir das Leben in Tiamats Nähe nicht bekommt, war mir durchaus klar. Aber es gibt mir zu denken, dass es dich derartig verunsichert.«
Die Unterhaltung entwickelte sich in eine vollkommen verkehrte Richtung. »Ich verstehe nicht ganz, wo da ein Zusammenhang bestehen soll.«
»Jakob versucht dir zu sagen, dass ihm erst jetzt aufgefallen ist, dass du dich übertrieben stark nach Verlässlichkeit in deinem Leben sehnst«, klärte Sander mich auf. »Dieses ganze schräge Lebensregeln-Ding und dein sentimentaler Hang, alte Dinge um dich zu scharen und ständig aufzuräumen oder andere zum Aufräumen zu nötigen, obwohl es eindeutig Zeitverschwendung ist. Offenbar haben die Besucher und das Wissen, dass es Tore zwischen den Realitäten gibt, dich tief verunsichert. Warum würdest du sonst so scharf darauf sein, so was Staubtrockenes wie Geschichte zu studieren? Das ist nichts anderes, als sich vor der Welt zu verstecken.«
Mein Vater nickte bekräftigend.
Das war ja klar, dass die beiden ausgerechnet in diesem Punkt einer Meinung waren, auch wenn sie ansonsten nichts übereinbekamen. Ich begann aus lauter Frust mit den Zähnen zu knirschen.
Unterdessen redete Sander munter weiter, wobei er einen überraschenden Pfad einschlug. »So, wie es aussieht, solltest du diese Fernstudiumsache echt machen, damit du in Marienfall bleiben kannst. Denn zum einen wäre es falsch, vor deinen Ängsten davonzulaufen, und zum anderen sollte dein Bedürfnis nach Sicherheit erfüllt werden. So ein unfreiwilliger Ortswechsel würde dich garantiert um dein seelisches Gleichgewicht bringen, und um das ist es ohnehin nicht sonderlich gut bestellt. Anders kann ich mir deinen Hang zu Liebesromanen, ehrlich gesagt, nicht erklären.«
Diese Sichtweise war so gar nicht in Jakobs Sinn. »Was redest du bloß für einen Unsinn?«
»Wieso Unsinn? Ist doch alles ganz logisch und darüber hinaus auch noch die harmonischste Lösung. Denn wenn Anouk bleibt, müssen wir uns nicht darüber streiten, wer einen größeren Anspruch auf Lutz hat. Und darum dreht sich diese Diskussion im Kern doch.«
Jakobs Miene strahlte pure Verachtung aus, obwohl er nicht mehr tat, als die Mundwinkel zu senken. »Es ist mir nicht entgangen, dass du es darauf anlegst, mich herauszufordern, Alexander. Normalerweise kümmert mich das nicht weiter, aber wenn du anfängst, Anouk dafür zu benutzen, dann gehst du zu weit.«
Sander sprang von seinem Stuhl auf, als habe jemand eine Rakete unter ihm gezündet. »Ich würde Anouk niemals benutzen! Genau wie du will ich nur das Beste für sie, aber im Gegensatz zu dir traue ich ihr durchaus zu, dass sie selbst entscheiden kann, was genau das Beste für sie ist.«
»Was weißt du schon über meine Tochter?« Die Stimme meines Vaters war nicht mehr als ein bedrohliches Flüstern.
»Ich will nur verhindern, dass du den Fehler begehst, für sie Entscheidungen zu treffen, die ihr Leben maßgeblich beeinflussen. Bei einem Kind mag das noch angehen, aber das ist sie schon lange nicht mehr.«
»Benimmst du dich deshalb so abstrus, weil dir aufgefallen ist, dass sie kein kleines Mädchen mehr ist?«
»Unterstell mir ja nichts!«
»Das Recht hast also nur du, indem du voraussetzt, ich würde nicht die richtigen Entscheidungen für meine Tochter treffen. Das ist es doch, worauf du hinauswillst.«
In Sanders Gesicht arbeitete es, als wolle eine Entgegnung aus ihm hervorbrechen, die er mit aller Gewalt zurückhalten musste, wenn er sich jemals wieder mit Jakob im selben Raum aufhalten wollte. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, drehte er sich um und verließ das Esszimmer.
Das Blut rauschte lautstark hinter meinen Schläfen, während mein Vater sich den Mund abwischte.
»Ich vermute, dir ist ebenfalls der Appetit vergangen? Nun, es ist ja auch schon spät.«
Mehr als ein Nicken brachte ich nicht zustande.
Als würde ihn jede Bewegung Kraft kosten, stand Jakob auf. »Dann wünsche ich dir eine gute Nacht. Ich werde mit Lutz um den Block gehen, dann musst du dir darum keine Gedanken mehr machen.«
Ich blieb noch eine ganze Weile allein am Esstisch sitzen und betrachtete das Nomadenlager mit seinen erdfarbenen Zelten und den winzigen Lagerfeuern. Es war einfacher, sich auf die schwarzen Punkte zu konzentrieren, die Menschen waren, bis mir die Augen schmerzten, anstatt darüber nachzudenken, was mein Vater in der Auseinandersetzung mit Sander zwischen den Zeilen gesagt hatte und was Sander trotz seiner unübersehbaren Wut nicht ausgesprochen hatte.
Die beiden teilten ein Geheimnis.
Ein Geheimnis, das mich betraf?
Das konnte doch unmöglich sein, oder?