36. Warteschleife

Nach meinem Abstecher in die Küche, wo ich mir Lutz’ gefüllten Futternapf, eine Wasserflasche und für mich eine Packung Reiswaffeln geschnappt hatte, kam ich am Esszimmer vorbei. Dort führte mein Vater gerade ein leise, aber nichtsdestotrotz eindringliche Unterredung mit Filippa. Obwohl alles, was Filippa von sich gab, nichts Gutes bedeuten konnte, hoffte ich darauf, dass sie noch einiges an Themen auf Lager hatte. Denn je länger sie Jakob beschäftigte, desto besser. Die Lage war auch so schon kompliziert genug, da musste mein Vater nicht noch Zeuge davon werden, wie Sander durch das Tor zurückkehrte.

»Papa«, rief ich in den Raum hinein, obwohl mir das die Aufmerksamkeit sämtlicher anwesenden Wächter einbrachte. »Ich übernehme heute Nacht Tiamats Wache, ich mach’s mir gemeinsam mit Lutz dort unten gemütlich. Darum musst du dich also nicht kümmern, schließlich hast du ja genug anderes um die Ohren.« Nachdem ich einen vielsagenden Blick mit meinem Vater ausgetauscht hatte, schenkte ich Filippa ein böses Grinsen, das sie ohne Wimpernzucken an sich abprallen ließ. »An Sander kommen wir übrigens nicht ran, der hat sein Handy vorsorglich in seinem Zimmer liegen lassen.«

»Vielen Dank, das haben wir auch bereits ohne deine Hilfe herausgefunden«, klärte Filippa mich herablassend auf.

»Ach, haben Sie sein Zimmer auch schon auf den Kopf gestellt? Mensch, ihr Zirkelwächter seid ja echt von der fixen Sorte. Falls ihr Schweinkram auf Sanders Gerät gefunden habt, lasst es mich wissen. Dann hätte ich was in der Hinterhand, wenn er mir das nächste Mal auf die Nerven geht. Da bin ich für jede Munition dankbar.«

»Schweinkram nicht, aber wir sind auf ein interessantes Porträt von dir gestoßen, versteckt unter einem Stapel Bücher.«

Ein klassisches Eigentor.

Die Art, wie Jakob den Kopf schief legte, verriet, dass ihm diese Information überhaupt nicht gefiel – Filippa hingegen mit jedem Moment mehr.

»Über das Verhältnis zwischen dir und Sander sollten wir auch noch sprechen, sobald hier das Gröbste geordnet ist«, flötete sie. »Für eure Außendarstellung ist es schließlich von immenser Bedeutung, dass ihr daran festhaltet, Bruder und Schwester zu sein. Alles andere würde viel zu viel Aufmerksamkeit nach sich ziehen.«

»Über was für ein Porträt von meiner Tochter sprechen Sie?«, fragte Jakob mit heiserer Stimme.

»Filippa redet von einer Skizze, die Laboe gemacht hat. Sander und sie mögen sich, deshalb hat er die Zeichnung aufgehoben. Da sehen Sie mal, was dabei rauskommt, wenn man bei anderen Leuten herumschnüffelt und falsche Schlüsse aus dem Erschnüffelten zieht. Peinlich, peinlich.«

Leider zog meine vermeintliche Überführung nicht, stattdessen hob Filippa eine schmale Braue. »Ach, meinst du Jasmin Laboe, die sich so freimütig zur gleichgeschlechtlichen Liebe bekennt? Und ihretwegen hebt Sander also eine missratene Skizze auf?«

Höchste Zeit für mich, den Rückzug anzutreten, bevor mein Vater Filippa stehen ließ, um mich wegen Sander gründlich auszuhorchen. Schließlich hatte er in der letzten Zeit schon häufiger durchblicken lassen, dass er von Sanders Zuneigung zu mir wusste und absolut nichts davon hielt.

»Also, ich schau dann mal nach, ob Tiamat noch da steht, wo sie stehen soll. Ihr habt ja deutlich Wichtigeres zu tun, und das ist auch richtig so, denn im Augenblick rieselt ja nicht einmal Salz durchs Tor. Es herrschen himmlisch harmlose Zeiten unter Himmelshoch.« Beim Rückwärtsgehen stieß ich gegen einen breitschultrigen Wächter, der mich mit einem Blick maß, als sei ich eine Veränderung auf zwei Beinen, die man nach einer gründlichen Inspektion für immer wegsperren müsste. Ich bedeutete Lutz, mir zu folgen, was er dank seines Futternapfs in meinen Händen auch geradewegs tat.

Das Tor lag verlassen da. Träge und bedrohlich zugleich drehte der Maelstrom seine Kreise, nur gehalten von einer Barriere, die Sander geschaffen hatte, um die Öffnung zwischen unserer Welt und dem Ewigen Meer zu schließen.

Mit einiger Mühe schluckte ich meine Enttäuschung hinunter.

Wie schön wäre es gewesen, durch das Kraftfeld zu treten und Sander zu sehen, der mit baumelnden Beinen auf dem Schreibtisch saß, zum Zeitvertreib Jakobs Briefbeschwerer in Form eines silbernen Erdballs in die Luft warf und mich mit gelassener Miene fragte, was zum Teufel eigentlich in Himmelshoch los sei. Aber er war nicht da, und nichts deutete darauf hin, dass er Tiamat heimlich passiert hatte. An den Wächtern am anderen Ende der Schleuse wäre er sowieso nicht vorbeigekommen, ohne Aufmerksamkeit zu erregen.

Alles ist im grünen Bereich, redete ich mir ein. Mein Pulsschlag schien mir das jedoch nicht abzunehmen und schraubte sich weiter in die Höhe. Ein Abstecher in die alte Heimat geht eben nicht so ruckzuck über die Bühne, wie man das seinem Mädchen verspricht. Bestimmt ist es superspannend dort drüben, und Sander ahnt ja nicht, was in Himmelshoch los ist. Ganz egal jedoch, was ich mir einzureden versuchte, es änderte nichts an dem Kummer, der sich in mir festsetzte.

Nachdem Lutz gefressen hatte, kraulte ich ihn gründlich durch und ließ ihn dann das Veränderdich auf seiner Schmusedecke neben dem Schreibtisch bewachen – er parkte es zwischen seinen Vorderpfoten und schlief prompt mit der Schnauze darauf ein. Ich stellte vor dem Tor das Feldbett auf, das mit Salzkristallen eingestaubt an einer Wand gelehnt hatte. Mein Vater benutzte die Pritsche, wenn ihn bei seinen Nachtschichten doch einmal der Schlaf überkam oder Rückenschmerzen ihn vom Schreibtisch vertrieben. Das gute Stück war hart, aber trotzdem gemütlicher als der Fußboden.

Zuerst setzte ich mich in den Schneidersitz, um auf jeden Fall die ersten Blitze im Maelstrom mitzubekommen, die Sanders Rückkehr ankündigten. Nach einer Weile glaubte ich auch tatsächlich welche zu sehen, aber es waren bloß meine überanstrengten Augen, die mir einen Streich spielten. Langsam glitt ich auf die Seite, hörte das ferne Gespräch der Wächter am anderen Ende der Schleuse, Lutz’ Grunzen und das sanfte Brummen des Veränderdichs, das fast lautlose Mahlen in den Steinwänden und das Knacken der Salzzeichen. Ich ließ zu, dass sich das Blau und Grau der Wasserfluten in meine Gedanken schlichen und mir vorgaukelten, wie Sander mit schwerelosen Bewegungen durch den Ewigen Ozean glitt. Mit vor Staunen weit aufgerissenen Augen sah er sich um, doch was er sah, erkannte ich nicht, das Element dieser Welt sprach nicht zu mir. Zu fremd, zu anders war es. Aber das Bild eines faszinierten Sander, der nicht genug von diesem Blau bekam, beruhigte mich so weit, dass ich einschlief, ohne mir dessen gewahr zu werden.

TIAMAT – Liebe zwischen den Welten
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