41. Auf Zeit gespielt
Ich versuchte, mich innerlich gegen das zu wappnen, was ich gleich zu sehen bekommen würde.
Es gelang mir jedoch nicht.
Ganz gleich in welchem Zustand Sander war und wie die Wächter ihn gefangen hielten, sein Anblick würde mir eine schwere Wunde schlagen, allein aus dem Grund, weil es unserer letztes Beisammensein sein würde.
Lutz, der mir auf dem Fuß folgte, legte den Kopf schief, dann stimmte er mit Bällchen im Maul ein leises Geheul an, als würde ihm der Ernst der Lage ebenfalls zusetzen – und möglicherweise stimmte das auch, schließlich steckte in meiner massigen Bulldogge ein Sensibelchen, das Sander innig liebte. Als Tammo mir eine Hand auf die Schulter legte, musste ich mich ernsthaft zusammenreißen, um nicht in Tränen auszubrechen. Später würde noch ausreichend Zeit sein, um zu verzweifeln und zu trauern, jetzt musste ich erst einmal dafür sorgen, dass Sander frei kam. Auch wenn das bedeutete, dass ich ihn für immer an Tiamat verlieren würde.
»Es wird schon gut gehen«, versuchte Tammo mich zu beruhigen.
Nein, das wird es nicht. Wir sind nicht hier, damit es gut ausgeht, zumindest nicht für Sander. Doch ich hütete mich davor, den Gedanken laut auszusprechen und damit Filippa auf eine Spur zu bringen.
Die Dachluke war vergrößert und die klapprige alte Stiege gegen eine Holztreppe ausgetauscht worden, sodass nun problemlos zwei Mann nebeneinander hinaufsteigen konnten. Der Wachdienst trat erst zur Seite, als Filippa ihnen den eindeutigen Befehl dazu gab. Zu gern hätte ich gewusst, ob die Waffen in ihren Händen mit echten Geschossen oder mit Betäubungsmunition geladen waren. Ich tippte auf Letzteres, denn im Zweifelsfall durften sie Sander nicht töten, solange sie das Tor nicht unter Kontrolle hatten und ihn möglicherweise noch brauchten. Trotzdem schob ich mich eingeschüchtert an den Wachen vorbei und folgte Filippa, die die Treppe bereits erklommen hatte.
Mit pochendem Herzen blickte ich über den Rand der Luke.
Nirgendwo schlängelte sich ein grüner Zweig, auf dem bereits die ersten Knospen hervorbrachen. Vermutlich war die florale Veränderung für die Wächter nicht interessant genug gewesen und sie hatten sie kurzerhand gerodet.
Kaum hatte ich den Dachboden betreten, packte Filippa mich hart am Oberarm. »Dort drüben ist das Kuckucksei, wegen dem du dich von uns allen, sogar von deinem Vater, abwendest. Schau ruhig hin.«
Genau das tat ich.
Ich sah ein Paar aufmerksamer und schwer bewaffneter Wächter, das einen Käfig mitten im leer geräumten Dachgeschoss bewachte. Die eng aneinanderstehenden Gitterstäbe waren fest im Boden verschraubt und mit einer schwer gesicherten Tür versehen. Ein Stück abseits des Käfigs surrte ein Generator, der unabhängig vom Stromnetz des Hauses war. Er war mit den Stäben verbunden, was nichts Gutes verhieß.
Im Zentrum des Käfigs stand Sander auf einer schwarzen Gummimatte, die Hände hinterm Rücken in Handschellen gefesselt, die linke Hand war schwarz verbrannt. Offenbar hatte Filippa ihn allein herausfinden lassen, dass die Stäbe unter Strom gesetzt waren. Den Kopf hatte er in den Nacken gelegt und er starrte durchs gläserne Dach hinaus in den rot verfärbten Abendhimmel. Keine Reaktion verriet, ob er bemerkt hatte, wer den Dachboden betreten hatte. Von seiner Kleidung war ihm lediglich die schwarze Trainingshose geblieben. Das blaue Geflecht auf seiner Schulter leuchtete Azurblau auf, sogar an den Stellen, die von klaffenden Wunden durchbrochen waren. Es sah so aus, als hätten die Wächter mehrere Gewebeproben von der Größe eines 2-Euro-Stücks an den Stellen entnommen, wo eine Linie verlief. Und sie hatten sich nicht die Mühe gemacht, diese Wunden zu versorgen. Genauso wenig wie die Einstichstellen an seinen Armbeugen oder die zahlreichen Blutergüsse und die blutverkrustete Platzwunde an seiner Stirn, von der ich inständig hoffte, dass er sie sich beim Sturz in der Schleuse zugezogen hatte, und nicht etwa, weil ein Wächter ihn misshandelt hatte.
»Nun kommen wir zu deinem Teil der Abmachung.« Filippa sprach leise, als wolle sie Sander nicht aus seiner Trance wecken. »Dein Freund Tammo ruft jetzt bei seiner Schwester an und bestellt sie samt der Silberphiole nach Himmelshoch. Erst wenn ich die Veränderung in den Händen halte und sie überprüft habe, darfst du hinübergehen und dein ach so wichtiges Gespräch führen. Verstanden?«
Mein Blick traf Tammos, der neben mir kniete, um Lutz am Halsband festzuhalten. Der wollte nämlich sofort zu Sander stürmen und ihn begrüßen, was angesichts des unter Strom gesetzten Käfigs gefährlich war. Mit der freien Hand holte Tammo sein Handy hervor.
»Schwesterchen? Ich bin es. Du kannst jetzt beruhigt mit Laboe zur Aftershowparty mit den Leuten vom Musikzentrum gehen, bei uns ist alles im grünen Bereich. Wir sehen uns dann später zu Hause.« Und damit legte er auf.
»War das alles, hast du da nicht etwas Wesentliches vergessen?« Filippa verzog das Gesicht, als habe ihr jemand einen glühenden Span zwischen die Schulterblätter getrieben und sie würde sich nun dafür rächen wollen.
Tammo zeigte sich nicht sonderlich beeindruckt. »Sie können sich ruhig wieder entspannen. Auf die Mädels zu warten, hätte doch viel zu lange gedauert. Deshalb haben wir uns eine kleine Abkürzung einfallen lassen.« Dann kraulte er Lutz hinterm Ohr, ehe er ihm das Bällchen abnahm.
Misstrauisch beobachtete Filippa, wie Tammo sich aufrichtete, das Bällchen auf dem ausgestreckten Handteller liegend. Das blaugrüne Material, aus dem es bestand, begann zu schmelzen und eine Pfütze zu bilden, in die wie von Geisterhand Bewegung kam: Ein winziger Strudel, der sich rasch auszubreiten begann. Die Wachen am Käfig griffen reflexartig an ihre Waffengürtel.
»Das reicht«, herrschte Filippa Tammo an. »Mach sofort, dass es aufhört oder ich lasse euch beide festsetzen. Glaub ja nicht, dass ich mich noch einmal von deinem Trick reinlegen lasse.« Der Bruch in ihrer Stimme verriet die Panik, die sie bei der Erinnerung, was der Strudel zu bewirken vermochte, überkam.
Mit einer sachten Bewegung wischte Tammo über den Ministrudel, der sich sofort wieder beruhigte. »Es ist ganz einfach – wer diese Veränderung in den Händen hält, kann über sie verfügen. Er kann dafür sorgen, dass in den Köpfen der anderen eine rasante Flut Einzug hält oder dass sie lediglich diese winzige Variante sehen. Ich überlasse die Veränderung Ihnen und erkläre Ihnen sogar, wie sie funktioniert, sobald Anouk allein mit Sander gesprochen hat. Was sagen Sie zu diesem Handel?«
Da musste Filippa nicht lange überlegen. Dieses Mal verzichtete sie sogar auf ihre typischen Drohungen, so erpicht war sie auf die Veränderung. »Handel. Pascal und Rehrup«, sprach sie die beiden Wachen an, die vor Sanders Käfig standen. »Ziehen Sie sich auf die untere Etage zurück.«
Die Wächter folgten ihrem Befehl zwar, zogen dabei aber unübersehbar die Stirn kraus. Trotz der ganzen Vorkehrungen schienen sie Sander für ein nicht zu unterschätzendes Sicherheitsrisiko zu halten, das man unter keinen Umständen allein mit irgendwelchen Mädchen lassen sollte.
»Du kannst jetzt zum Käfig gehen, Anouk. Aber verzichte darauf, die Hand zwischen die Stäbe zu stecken, das elektrische Spannungsfeld ist nicht zu unterschätzen. Der Generator ist übrigens ebenfalls gesichert – nur für den Fall, dass du auf die Idee kommen solltest, ihn dir genauer anzusehen. Deinen Freund unter Verschluss zu behalten, war schwieriger als gedacht. Für ihn scheint nichts anderes als ein Ausbruch zu zählen, egal, welchen Schaden er sich bei seinen waghalsigen Unternehmungen zufügt. Wenn du ihn davon überzeugen kannst, dass er trotzdem nicht entkommen wird, wäre dieses Gespräch tatsächlich zu etwas nütze.«
Ich starrte Filippa nur an, bis sie den Blick abwendete.
»Ich warte mit der Frau Wächterin so lange unten bei der Treppe, bis du hier fertig bist.« Tammo wirkte, als habe er jetzt das Sagen übernommen. Sofort schnaufte Filippa gereizt durch die Nase. »Dann kann ich Sie schon einmal an die Veränderung heranführen«, schob er beschwichtigend hinterher.
Als Tammo sich der Luke näherte, wünschte ich mir plötzlich, er würde bleiben, denn ich wusste nicht, wie ich das Gespräch mit Sander durchstehen sollte, obwohl ich zugleich nichts anderes wollte, als bei ihm zu sein und seine Stimme zu hören. An den wenigen Minuten, die uns zur Verfügung standen, hing mehr, als ich ertragen konnte. Ein Schluchzen unterdrückend, schlug ich mir die Hände vors Gesicht und spürte, wie sich eine Träne auf meine Wange stahl. Bevor Tammo ging, berührte ich ihn zaghaft, und er lächelte, als er meine Hand streifte. Die Träne rann zwischen seine Finger und verschwand in seiner hohlen Hand.
»Keine Angst«, sagte er. »Obwohl … So mies gelaunt, wie Sander aussieht, ist ein wenig Angst vermutlich durchaus angebracht. Hat was von einem eingesperrten Gorilla, der nur auf eine Gelegenheit lauert, jemandem den Kopf abzureißen. Wenn sie ihn nicht in Ketten gelegt hätten, würde er sich bestimmt vor die Brust schlagen und mit seinem Wutgebrüll Himmelshoch zum Einsturz bringen. Pass auf, dass er dich nicht beißt.«
»Sofort stopp, Herr Freibaum. Du weißt ganz genau, dass nur ich fiese Sachen über Sander sagen darf. Und jetzt mach dich aus dem Staub und nimm Lutz mit, okay?«
Tammo blinzelte mir noch einmal zu, dann war ich mit Sander allein auf dem Dachboden.