20. Wahrheitssuche
Abseits der Landstraße sah ich bereits die ersten Häuser von Marienfall auftauchen, als mein Handy piepste. Lutz und ich quälten uns gerade Meter für Meter voran. Er, weil er nach der Toberei mit seiner besten Freundin Lolle am Ende seiner Kräfte war, und ich, weil Grandmama darauf bestanden hatte, mir die Taschen mit Nervenfutter zu füllen. Selbst gemachtes Karamell mit Salzkristallen – unwiderstehlich. Natürlich hatte ich die Hälfte bereits aufgefuttert, noch bevor ich den Hof der Laboes verlassen hatte, und nun verklebte das Karamell mir ordentlich die Magenwände.
»Komm, Lutz, wir gönnen uns eine Pause. Ich muss die Überdosis Zucker verdauen.«
Mein Fahrrad stand noch nicht richtig, da hatte der Hund sich schon der Länge nach auf den begrünten Seitenstreifen geschmissen. Das erste Gras sah wirklich einladend aus und bestimmt war es schön weich. Ich holte mein Handy aus der Tasche und wollte mich dann zu Lutz gesellen, aber als ich sah, von wem die Nachricht kam, war mir nicht mehr nach Sitzen zumute. Sie war von Tammo.
Habe ich dich angesteckt?
Eine schlichte Frage, aber mir wurde ganz anders. War das wirklich erst gestern gewesen, dass ich mit Tammo in die Stadt spaziert war, meine Hand in seiner? Tatsächlich. Wie war es bloß möglich, dass ich ihn vollkommen vergessen hatte? Sander hatte es mit Bravour geschafft, meine Welt auf den Kopf zu stellen. Seitdem war ich vollauf mit den Folgen des Kusses beschäftigt, sodass kein Platz mehr für etwas anderes vorhanden war. Ich wusste nicht, was ich von Sander halten sollte. Ich wusste nicht, wie ich zu meinem Vater stand, und konnte mich nicht einmal darüber freuen, dass meine Mutter mich nicht verlassen hatte, sondern mir von Tiamat geraubt worden war. Aber das war falsch, schließlich führte ich auch ein Leben außerhalb von Himmelshoch, das mir wichtig war. Tammo hatte es nicht verdient, vergessen zu werden, nur weil ich kopfstand.
Null angesteckt! Hatte bloß eine unruhige Nacht & bin deshalb nicht zur Schule, tippte ich hastig.
Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten: Genau wie ich. In Gesellschaft kommt man übrigens schneller wieder auf die Beine.
An meinem Daumnagel knabbernd, starrte ich die Zeilen an. Dann fasste ich einen Entschluss.
Stimmt, ist medizinisch bewiesen. Soll ich dich besuchen?
Tammos Antwort kam schneller, als ich blinzeln konnte.
Ja!
Eine halbe Stunde später stand ich vor dem Haus der Freibaums, in der Hand eine Papiertüte mit Hundeleckerlis für Lutz, den ich direkt im Garten unter einem Baum anband und ihn mit ein paar Entschädigungshappen fütterte. Die Bulldogge hatte nämlich sofort zu knurren begonnen, kaum dass wir das Grundstück betreten hatten. Die Hundekekse zeigten insofern Wirkung, dass Lutz nicht ganz so bedrohlich knurrte, denn Knurren, Sabbern und Schlucken gleichzeitig überforderte selbst einen Könner wie ihn.
Ich wedelte mit der Papiertüte vor seiner Sabberschnauze. »Da sind noch mehr Schmakofatze drin. Nur damit du Bescheid weißt: Gutes Betragen lohnt sich. Also sei schön brav und führ dich nicht wie ein Berserker auf.«
Mein Gerede war Lutz offenbar schnurz, denn er stand plötzlich stramm, die Lefzen bis zum Anschlag hochgezogen. Ein Blick über die Schulter verriet mir, dass Tammo in die Haustür getreten war und verlegen lächelte.
»Die Hundebestechung klappt wohl nur, solange ich nicht in der Nähe bin. Dabei gilt dein Lutz doch als Schmusehündchen, sogar meine Schwester schwärmt von ihm. Und das, obwohl Becks Hunde in der Regel nicht leiden kann, sie ist eben eine waschechte Katzenliebhaberin, Fritzfratz geht ihr über alles. Den darf deine Bulldogge als einzige Ausnahme jagen, alle anderen, die sich dazu erdreisteten, würden sofort erschossen. Mindestens.«
»Lutz ist sonst nie so aggressiv drauf«, bekräftigte ich, weil mir das Benehmen meines Hundes hochnotpeinlich war. »Normalerweise ist er ein ganz Lieber, vor allem wenn was Feines zu fressen in Aussicht steht. Ich kann mir dieses Geknurre beim besten Willen nicht erklären.«
Es war Tammo anzusehen, dass ihm die Situation ebenfalls unangenehm war. Wer wird schon gern schwach von der Seite angemacht, als sei er ein Schwerverbrecher? Anstatt mich zu begrüßen, blieb er sicherheitshalber im Türrahmen stehen, während ich mich mit meiner widerspenstigen Töle herumplagte, die gerade dazu ansetzte, den Baum, um den ich die Leine gebunden habe, notfalls mit Stamm und Wurzeln auszureißen.
»Tja, möglicherweise hat ein Mitglied deiner Familie den Hund speziell darauf abgerichtet, jeden Jungen anzufallen, der sich dir nähert.« Tammo versuchte sich an einem lockeren Lächeln, aber eine Spur seiner Verunsicherung blieb.
Ich überprüfte noch einmal, ob Lutz’ Leine richtig festgebunden war, und tätschelte ihm den Kopf, was ihn jedoch nicht weiter interessierte. Seine gesamte Aufmerksamkeit war auf seinen erklärten Feind gerichtet, während er riss und zerrte, was das Zeug hielt. Sah ganz so aus, als würden die beiden nicht einmal dann Freunde werden, wenn wir Tammo von oben bis unten mit Leberwurst einrieben. Nun, die frische Luft im Vorgarten würde Lutz schon nicht schaden.
Zögernd blieb ich vor Tammo stehen. Wie sollte unsere Begrüßung denn nun am besten aussehen?
Tammo nahm mir die Entscheidung ab, indem er mir einen Kuss auf die Wange gab, das Hundegeheul im Hintergrund eisern ignorierend. Dann schlüpften wir gemeinsam ins Haus.
»Soll ich dir einen Kaffee kochen oder hast du deine Müdigkeit nach der schlaflosen Nacht bereits überwunden?«
»Ich fühle mich gerädert, aber es geht. Was trinkst du denn oder kommt noch alles wieder retour?«
Tammo hatte mich in die Küche geführt, wo er ein wenig unschlüssig mitten im Raum stehen blieb. Dann deutete er auf den Sodastreamer. »Auf Wasser ist Verlass, das bleibt intus. Ansonsten bin ich immer noch auf Zwangsdiät, obwohl es mir so weit schon recht gut geht.«
Das glaubte ich sofort. Der ungesunde Grünstich war verschwunden, das Kupferhaar glänzte und auch seine Körperhaltung war wieder voller Kraft. Nur seine Bewegungen verrieten, dass er noch nicht ganz wieder der Alte war. Für gewöhnlich zappelte Tammo mit einer Mischung aus überbetont lässig und Sportsgeist herum, die Hände stets in Bewegung, genau wie die Füße. Jetzt bewegte er sich zurückhaltend, fast ein wenig suchend. Das war mir schon vorher aufgefallen, ich hatte es aber seiner Schwäche zugeschrieben. »Du siehst verhältnismäßig fit aus. Das ging ja schnell.«
Während Tammo Wassergläser aus dem Schrank holte, blinzelte er mir zu. »Irre ich mich oder sagst du das irgendwie mit einer Prise Misstrauen?«
»Na ja, es ist nur …« Ich kämpfte mit mir, ob ich es ihm tatsächlich auf den Kopf zusagen wollte. Dann entschied ich, dass es schon ausreichend Ungereimtheiten in meinem Leben gab. Wenn ich mit ihm zusammen war, wünschte ich mir Ehrlichkeit und Klarheit. »Es ist nur, dass du mir seit deiner Krankheit ganz verändert vorkommst – was du sagst, wie du es sagst und wie du dich verhältst. Allein, dass wir beide jetzt hier zusammenstehen, hätte ich noch vor ein paar Tagen für schier unmöglich gehalten.«
»Ganz so überraschend ist das nun auch wieder nicht, schließlich habe mich schon vorher für dich interessiert.«
»Ja, aber nur weil ich nicht sofort anbeißen wollte, als du mich angeflirtet hast, das hat deinen Ehrgeiz geweckt. Ich kann mir allerdings nicht vorstellen, dass ich wirklich dein Typ war.« Was eigentlich zu der Frage führte, warum sich das urplötzlich geändert hatte, aber die verkniff ich mir lieber.
Einen Moment lang machte sich Tammo noch an dem Streamer zuschaffen, dann gab er auf und stellte sich vor mich. Seltsamerweise beunruhige mich seine Nähe nicht im Geringsten, obgleich er mir so nah kam, dass ich die winzigen weißen Sprenkel im Blau seiner Augen sehen konnte. Meine Atmung blieb ruhig, und mein Herz tat nur einen kleinen Sprung, als Tammo über meine Wange streichelte. Ganz behutsam.
»Und, bin ich jetzt dein Typ?«
»Ich bin auf jeden Fall gern mit dir zusammen.« Wahrheitsgetreuer konnte ich die Frage nicht beantworten.
Tammo lachte leise. »War das nun ein Kompliment oder eine nette Abfuhr?«
»Es ist so, wie ich sagte: Ich verbringe gern Zeit mit dir.«
»Okay.« Tammo machte einen Schritt zurück und kratzte sich im Nacken. »Ich bin auch froh, dass du da bist. Machen wir uns also einen schönen Tag, bevor Becks nach Schulschluss hier einfällt und dich in Beschlag nimmt. Wir sollten was für unsere Entspannung tun, und das möglichst im Haus. Nicht, dass uns zu guter Letzt doch noch jemand sieht und sich fragt, warum wir eigentlich nicht im Unterricht sind. Nachdem wir gestern so viel Glück gehabt haben, sollten wir nicht noch einmal darauf bauen. Schwimmst du gern?«
»Herr Freibaum, wenn du mir jetzt was von ganz lockerem Nacktbaden erzählst, dann hetze ich dir Lutz auf den Hals.«
Tammo riss abwehrend die Hände in die Höhe. »Keine Sorge, ich hänge an meinem Leben. Wir haben für Gäste Badesachen da, denn ob du es glaubst oder nicht, unser Pool wird bei vielen Gelegenheiten von Besuchern genutzt. Bestimmt ist in der Badezeug-Sammlung auch was Geeignetes für dich dabei.«
»Daran habe ich keinen Zweifel, irgendein Stück, aus dem deine Schwester schon vor Jahren rausgewachsen ist, wird mir schon passen.«
»Du bist mir nie klein vorgekommen«, versuchte Tammo mich aufzubauen.
»Weil du im Stehen immer über mich hinweggeschaut hast. Ich bewege mich unter dem Radar der Normalgewachsenen.« Wenn es um meine Größe ging, neigte ich leider konsequent zu Selbstmitleid.
»Ach, daran lag es also. Gut, dass ich dich jetzt auf meinem Radar habe.«
Es ging nicht anders, ich musste Tammo anstrahlen. Im Ernst, das war doch mal ein anständiger Junge: Flirtete, machte Komplimente und trat nach dem ersten Kontakt nicht sofort wieder die Flucht an. Zwar löste er keinen Tornado in meinem Inneren aus wie Sander, aber dafür tat er mir gut. Für heute musste das erst einmal reichen.
Das Haus der Freibaums stand auf einem sanft abfallenden Hügel, sodass der Pool zwar im Keller lag, aber über eine Fensterfront verfügte, die auf den Garten hinausging. Eins der Fenster stand offen und ließ die Frühlingsluft herein, die so gut roch, dass man dafür gern eine Gänsehaut in Kauf nahm. Der Pool selbst war einfach wunderschön. Das Wasser lief über die blaugrau geflieste Umrahmung – wenn man schwamm, machte es den Eindruck, als würde es keine Begrenzung geben. Das war schon ziemlich luxuriös und der Grund, warum Becks den Pool kaum erwähnte. Das Prachtstück war ihr ein wenig peinlich, wie sie mir bei einem Rundgang durchs Haus erzählt hatte, als ich vor ein paar Monaten das erste Mal zu Besuch gewesen war. Tammo dagegen hatte weniger Hemmungen, den Pool bei jeder Gelegenheit in seinen Erzählungen zu erwähnen, und es gab zweifelsohne mehr als ein Mädchen an unserer Schule, das alles darangesetzt hätte, um mit ihm in trauter Zweisamkeit zu plantschen. Gern auch ohne Leihbikini.
Irgendwas mache ich falsch, dachte ich beim Durchsehen der Badesachen. Mich haut weder der Pool noch die Aussicht auf Wasserspiele mit dem Schulschwarm um, obwohl ohne Frage beides toll ist. Hat ganz den Anschein, als ob bei meiner Herstellung die Schaltstelle fürs Funkenschlagen übersehen wurde. Obwohl … Ich hatte Funken geschlagen, gestern erst, und die folgende Feuersbrunst hatte gefährliche Ausmaße angenommen. Dann lieber lauwarm baden. Unter diesem Motto entschied ich mich für einen weißen Bikini, bei dem das Unterteil saß, wohingegen das Oberteil knapp ausfiel und meine Vermutung bestätigte, dass dieses gute Stück Becks zu einer Zeit gehört hatte, als es bei ihr oben herum noch nicht viel zu verbergen gab. Im Gegensatz zu mir.
Unschlüssig zupfte ich am Stoff herum und fragte mich, ob mir beim ersten Schwimmzug wohl alles herauskugeln würde, was rund und einen Tick zu groß war, und ob ich nicht doch lieber den anderen Bikini anziehen sollte, bei dem das Höschen eine Nummer zu groß ausfiel. Nur erschien die Alternative, von der Hüfte abwärts plötzlich im Feien dazustehen, auch nicht gerade verführerisch. Derartig in Anspruch genommen, schnappte ich mir beim ersten Handyklingeln das Gerät und nahm das Gespräch an, ohne zuvor auf die Nummer zu sehen.
Ein großer Fehler, wie sich sogleich herausstellte.
»Hi, ich bin’s«, erklang Sanders verhaltene Stimme.
Prompt spielte ich mit der Idee, das Gespräch wegzuklicken, nur leider machten meine Finger nicht mit. Die weigerten sich schlicht, den entscheidenden Knopf zu drücken, während mein Mund – ohne Befehl meinerseits – sagte: »Na du. Wie geht es dir?« Ich hätte mich augenblicklich ohrfeigen können.
Sander machte ein Geräusch wie ein Ball, dem die Luft ausging. »Dreckig, um ehrlich zu sein. Ich habe mich gestern echt selbst übertroffen. Eigentlich rufe ich aber an, um zu hören, wie es dir geht. Jakob meinte, du wärst krank und ich solle ein Auge auf dich haben, was durchaus schwierig ist, wenn du nicht im Haus bist. Er hat sogar angedeutet, dass er früher nach Hause kommen will, was der eindeutige Beweis ist, dass er sich Sorgen um dich macht. Mein Auftrag lautet, bei ihm durchzurufen und Bericht zu erstatten. Also, was sage ich dem besorgten Herrn Papa?«
»Das es mir besser geht.« Was durchaus stimmte. Spätestens seit ich Sanders Stimme in meinem Ohr hatte, liefen alle Programme wieder auf vollen Touren. Im Spiegel erhaschte ich einen Blick auf meine glühend roten Wangen und bemerkte gerade noch rechtzeitig, dass ich gefährlich kräftig an den seitlich geknoteten Bändchen des Bikinihöschens herumzupfte, während »SanderSanderSanderSander« als Endlosschleife hinter meiner Stirn ablief. Mist. »In Wirklichkeit bin ich noch am Verdauen, wenn du verstehst, was ich meine. Und nebenbei versuche ich, an meinem gewöhnlichen Alltag festzuhalten, sonst werde ich nämlich verrückt.«
»Falls du jemanden zum Reden brauchst …«
»Ich war heute Morgen bei Grandmama«, unterbrach ich ihn, bevor er mich in Versuchung führte, indem er sich als Schulter zum Ausheulen anbot. Das würde ich nämlich kaum ablehnen können.
»Oh, da bist du also schon gewesen. Das trifft sich, genau das wollte ich dir nämlich gerade vorschlagen. Grandmama ist nämlich die Einzige, die das drauf hat. Ich meine, helfen, ohne dass man erst einmal lang und breit erzählen muss, worum es geht.«
»Moment. Du wolltest mich zu Grandmama schicken?«
»Jemand anderes wäre mir in diesem speziellen Fall nicht eingefallen.«
»Was ist mit dir, du Pinsel?«
Totenstille am anderen Ende der Leitung.
»So ist das also. Du drückst dich vor der Verantwortung«, resümierte ich bitter. »Erst bringst du mich in einen solchen Schlamassel und dann lässt du mich damit allein.«
»Nein!« Ich konnte Sander regelrecht vor mir sehen, wie er dieses ›Nein‹ unter Druck ausstieß. Vermutlich musste gleich wieder die Wand dran glauben. »Ich will mich vor rein gar nichts drücken, ich wäre heilfroh, wenn wir miteinander sprechen könnten, nichts lieber als das. Aber wie stellst du dir das vor?«
»Keine Ahnung«, flüsterte ich ins Handy, nicht sicher, ob ich wütend, verzweifelt oder gar überdreht war, weil ich mich trotz allem freute, seine Stimme zu hören.
»Sag mal, Anouk, ist alles okay bei dir?« Tammo stand vor dem Umkleideraum, ich konnte seine nackten Zehen unter dem Türschlitz sehen. »Wenn nichts Passendes beim Badezeug dabei ist, kann ich mal oben in Becks Schrank nachsehen. Die hätte bestimmt nichts dagegen, wenn du etwas von ihr anziehst, schließlich seid ihr gut befreundet.«
»Eine Sekunde«, haspelte ich ins Handy. »Nee, du, alles okay. Ich hab was gefunden, das sitzt nur so elend knapp, dass ich noch ein bisschen dran Rumfummeln muss. Geh schon mal ins Wasser, ich komme gleich nach.«
»Zu knapp?«, echote Tammo. »Behalt es an und such ja nicht weiter. Versprochen?«
Ich wartete, bis er fortgegangen war. »Sander?«
Aus dem Handy drang ein hämisches Lachen. »Zeigt Tammo dir seinen Pool? Wart ’s ab, in spätestens zehn Minuten zeigt er dir noch ganz was anderes. Viel Spaß dabei.«
»Stopp. Diese Art von Anspielung kannst du dir sparen, das ist absolut …«
»Hey, amüsier dich, ich bin der Letzte, der ein Problem damit hat. Tammo ist ein super Trostpreis … Oder eher sein Pool. Das Teil ist berühmt-berüchtigt. Mann, du machst es richtig, mein Liebes. Warum sich Sorgen machen, wenn man auch Spaß haben kann? Also ab mit dir.«
»Sander, du kannst mich nicht täuschen, ich weiß, dass dir das gerade gegen den Strich geht. Also lass das blöde Rumgerede und hör zu. Mit Tammo und mir …«
»Mit Tammo und dir wird es gleich lustig. Wozu sollte ein knapper Bikini ansonsten gut sein? Und ich weiß auch, wie so ein Typ wie Freibaum tickt. Du glaubst doch wohl nicht wirklich, dass der nur eine Runde nett schwimmen will? Aber nur zu, mach’s ruhig. Ich werde es genauso halten, sobald Jakob hier in Himmelshoch die Stellung übernimmt. So, wie dein Vater am Telefon klang, war der eh schon auf dem Weg zum Zug. Je eher er auftaucht, desto besser.«
»Warum tust du mir weh? Schon wieder?«, fragte ich, dann drückte ich das Gespräch weg und stellte das Handy aus. So nicht, beschloss ich. So darfst du nicht mit mir umspringen, egal, wie sehr ich für dich brenne.
Tammo saß am Beckenrand mit dem Rücken zu mir. Einem ziemlich beeindruckenden Rücken. Machte ganz den Anschein, als wäre das viele Basketballspielen tatsächlich zu mehr nütze als einem Sack voll Pausenhofgeschichten. Das Wasser umflutete ihn und auf unerklärliche Weise erweckte es den Eindruck, als würde es ihn umtanzen, glücklich darüber, an ihm entlangzufließen. Er warf mir einen Blick zu, ein vergnügtes Blitzen in den Augen.
»Schick«, sagte er, wobei ihm das Kunststück gelang, keinen Deut anzüglich zu klingen. Dann glitt er ins Wasser und begann zu schwimmen.
Verführungskünste sahen anders aus.
Ich fühlte mich gleich leichter und dafür war ich ihm dankbar. Ich sprang kurz unter die Dusche, dann steckte ich den großen Zeh ins Wasser.
»K-k-k-kalt.«
Tammo machte unter Wasser eine Kehrtwende und schwamm auf mich zu. Er bewegte sich unglaublich geschmeidig, als sei er in seinem wahren Element. »Vertrau mir, es ist nicht kalt. Du frierst nur, weil du da draußen stehst und vor dich hin tropfst. Nimm dir ein Herz und spring in den Pool.«
So weit mein Brustkorb es zuließ, pumpte ich Luft hinein, dann hopste ich ohne jede Eleganz die Treppe hinab, bis mir das Wasser über den Bauchnabel ging. Meine Eingeweide zogen sich zusammen. Ich konnte nicht länger an mich halten und stieß einen Schrei aus, der Tammo zum Lachen brachte.
»Los jetzt, diese Rauszögerei macht alles bloß schlimmer.«
»Eiskalt!«, stieß ich noch einmal hervor, ehe ich losschwamm. Tatsächlich verflüchtigte sich die Kälte wie von Zauberhand.
Im Vergleich zu Tammo durchpflügte ich geradezu unbeholfen die Bahn. Obwohl ich gerne schwamm, hatte ich von Anfang an Schwierigkeiten gehabt, die Arm- und Beinbewegungen zu koordinieren, was mich wie eine Raupe in Aktion aussehen ließ und meinen alten Schwimmlehrer in den Wahnsinn getrieben hatte. Mir machte das nichts aus, Hauptsache ich blieb über Wasser, denn Tauchen war so gar nicht meins. Allein bei dem Gedanken begannen meine Nebenhöhlen zuzugehen. Vermutlich saß tief verankert in meinem Stammhirn das Bild des Maelstroms, wodurch mir jede Form von Unterwasserwelt verdächtig erschien.
Tammo schwamm ruhig neben mir her, nur gelegentlich tauchte er ab, allerdings ohne eine Haiattacke oder Ähnliches zu veranstalten, was Jungs in der Regel ja für spaßig hielten. Und zu sehen gab es auch nichts, wie ich mich immer wieder rasch überzeugte, indem ich mein Bikinioberteil abtastete. Offenbar fühlte Tammo sich pudelwohl und auch meine Verspanntheit löste sich nach und nach.
»Und, ist dir immer noch kalt?«, fragte Tammo nach einiger Zeit.
»Überhaupt nicht, es ist großartig. Sogar viel schöner, als ich erwartet habe. Ist das Meerwasser?« Ich leckte über meine Lippen und schmeckte zu meiner Verwunderung lediglich Chlorgeschmack heraus.
»Nein, wie kommst du darauf?«
»Weil …« Ich suchte nach der richtigen Beschreibung, allerdings fiel mir nur etwas ein, was sich seltsam angehört hätte: Das Wasser umbettete mich, trug mich, legte sich schützend um mich. Es fühlte sich nicht an wie Wasser, sondern nach mehr, als wäre es nicht bloß das bekannte Element, sondern würde eine Seite offenbaren, die mir bislang unbekannt gewesen war. Vermutlich hätte Tammo mir einen Vogel gezeigt, wenn ich ihm damit gekommen wäre. »Es erinnert mich an ein Solebecken, wo man sich auf dem Rücken treiben lässt, ohne einen Finger zu krümmen. Geborgen, irgendwie. Ich mag das.«
»Das ist doch großartig, genau so soll es sein.«
Tammo sah so erfreut aus, dass ich mich über meinen Eiertanz wunderte. Warum sagte ich nicht frei heraus, wie es mir gerade erging? Meine Vorsicht ihm gegenüber war unnötig, denn im Gegensatz zu Sander hatte er mir noch nie wehgetan oder mich abgekanzelt. Trotzdem hielt ich die Deckung ihm gegenüber geschlossen. Nun, hier war meine Chance, es zu ändern. Ich würde fortan auf Tammo vertrauen, denn in der Nähe dieses Jungen ging es mir gut.