1. Ein ungebetener Besucher
Schon klar, ich hätte es kommen sehen müssen.
Normalerweise hätte ich ja auch gar nicht dort gestanden … Jedenfalls nicht eine Sekunde länger als nötig, wenn ich mich an die Absprache gehalten hätte, in einem solchen Fall sofort und ohne Zögern in den sicheren Raum zu flüchten.
Absprachen sind eine Sache, ein krakenartiges Etwas von den Ausmaßen eines Kleinwagens auf dem heimischen Dachboden eine ganz andere. Vor allem sobald dieses Etwas versucht, eine Form anzunehmen, mit der man sich leichter über die rissigen Deckenbalken bewegen kann. Die langen, sich grazil bewegenden Tentakel sahen schlicht zu faszinierend aus! Wie ein Designervorhang pendelten sie herab, während der Kopf des Kraken von unsichtbaren Mächten eingedrückt und gewrungen wurde, während er langsam seine Form veränderte. Als hätte das nicht ausgereicht, um einen zu bannen, verursachte das Geschöpf glitschige Geräusche von der Sorte, bei der man eine Gänsehaut bekommt und sich schütteln möchte.
Kurzum, es war einfach zu fesselnd, um mich aus dem Staub zu machen.
Dabei herrschte an Spannung eigentlich kein Mangel in meinem Leben.
Jetzt gerade noch weniger als zuvor, denn der Krake begnügte sich nicht damit, dekorativ zwischen den Deckenbalken hängen zu bleiben.
Warum auch, wenn es in seiner unmittelbaren Nähe einen Appetithappen wie mich gab?
Ein schlanker Arm schwebte auf mich zu, ganz gemächlich, als stände es gar nicht zur Debatte, dass ich die Flucht ergreifen könnte. Kein Wunder, schließlich stand ich stocksteif da, den Mund zu einem stummen O geformt und von dem verrückten Wunsch beseelt, die glänzende Oberfläche des Arms zu berühren, unter der bläuliche Schlieren trieben. Bestimmt fühlt es sich wie Wackelpudding an, dachte ich, dann übernahm endlich mein Restverstand die Führung. Mit einem lauten Knall ließ ich den Bücherkarton fallen, den ich eigentlich zwischen dem Gerümpel hatte verstauen wollen.
Die Spitze des Arms kringelte sich ein, dann schoss sie vor.
Ich schrie und wich wenig elegant aus, indem ich mich auf den Hintern plumpsen ließ.
Der Arm rollte sich ein, und als er sich erneut nach mir ausstreckte, bekam ich noch mit, dass ihm Dornen wuchsen. Dann konzentrierte ich mich darauf, dass meine Beine und Arme sich nicht verhedderten, während ich auf allen vieren den Rückzug antrat.
Gerade als ich die Luke zur Treppenstiege erreichte, erklang ein schlürfender Laut, der nichts Gutes verhieß. Der Krake hatte die Verfolgung über das Dachgebälk aufgenommen. Und er war verflixt schnell, trotz seines deformierten Kopfs und der spröden Unterlage. In meiner Panik stürzte ich mich kopfüber in die Luke, machte einen schrägen Überschlag und landete irgendwie auf den Füßen, wobei meine Waden schmerzhaft gegen die untersten Leiterstufen schlugen. Ich hob mir das Jammern für später auf und stolperte stattdessen den Flur entlang, die Arme weit ausgestreckt für den Fall, dass ich die Kurve bei diesem Tempo nicht bekam.
Und hohes Tempo war vonnöten, wie mir ein Blick über die Schulter bestätigte. Dunkelblaue, dornenbesetzte Tentakel mit pfeilspitzen Enden quollen durch die Dachbodenöffnung. Das Bedürfnis, sie zu berühren, war mir endgültig vergangen.
Ohne Rücksicht auf meine Fingernägel krallte ich mich in die altersschwache Stofftapete und flog um die Ecke.
Vor mir lag der Flur des Obergeschosses, der in einer geschwungenen, nach unten ins Foyer führenden Treppe endete.
Einsam und verlassen lag die Treppe da.
Das war ja mal wieder typisch.
Ich hielt inne, um meine Lungen mit Luft zu füllen, und dann brüllte ich das einzige Sinnvolle in meiner Situation: »Sander, wo zur Hölle steckst du? Beweg deinen Hintern ins Obergeschoss. Sofort!«
Auf das ›Sofort‹ ließ ich ein schrilles Kreischen folgen, weil mir just in diesem Moment auf die Schulter geklopft wurde. Von etwas, das pieksig und glibschig zugleich war. Ich verschwendete keine Zeit damit, mehr über den Klopfer in Erfahrung zu bringen, sondern sprintete los. Nur dass sich der Tentakel nicht abschütteln ließ, er grub seine Dornen wie eine Klette durch das Shirt in meine Haut. Instinktiv fasste ich zu, um ihn abzuwehren. Doch das war ein Fehler, denn die Dornen stachen auch auf der Oberseite heraus. Abgelenkt durch Schmerz und Ekel knallte ich mit der Hüfte gegen den asiatischen Hochzeitsschrank mit seinem Bambusrahmen und stürzte der Länge nach zu Boden.
Während ich noch fiel, hörte ich wildes Hundegebell und Schritte auf den ausgetretenen Holzstufen.
Endlich, dachte ich.
Dann holte der Krake den Arm, an dem ich hing, ein und schleifte mich über den Boden. Es gelang mir, mich an der Truhe festzuklammern, allerdings nur für wenige Sekunden, denn der Arm war zu stark und ich – außer Atem und zittrig durch den brennenden Schmerz – zu schwach. Lediglich ein paar Schritte von mir entfernt türmte sich ein ganzes Knäuel von Fangarmen auf, in dem ich gleich enden würde, umgeben von dem Geruch nach tiefen Wassern. Mein letzter Versuch, mich mit den Füßen bei einem der vorbeiziehenden Türrahmen einzuhaken, scheiterte. Ich brachte nicht einmal mehr die Kraft auf, zu schreien, als endlich ein Schemen auf vier Pfoten neben mir auftauchte und der Tentakel seine Spannkraft schlagartig verlor.
Unsere Bulldogge Lutz hatte zugeschlagen!
Entspannung war allerdings nicht angesagt, denn schon im nächsten Moment schlang sich etwas fest um meinen Fußknöchel.
Sehr fest.
Ich trat mit dem freien Bein blind zu und fand ein Ziel, das zu meiner Überraschung kein bisschen weich war. Ganz im Gegenteil.
»Shit. Anouk, was soll der Blödsinn, warum trittst du nach mir?«
Benommen drehte ich mich auf den Rücken und sah Sander an, der seine von meinem Absatz getroffene Brust rieb. »’Tschuldigung, das war Instinkt.«
»Instinkt? Du hast keine Instinkte, Mann, ansonsten würdest du jetzt wohl kaum flach auf dem Rücken liegen, sondern dich aufrappeln und wegrennen.«
Genervt zerrte Sander mich aus der Reichweite des Kraken, dessen Tentakel nach Lutz’ Angriff starr in der Luft verharrten. Ein Kraftpaket wie unsere englische Bulldogge war auch wirklich atemberaubend, vor allem wenn aus ihrem Maul ein Stück zuckender Tentakel herauslugte. Das war mal eine saubere Kriegserklärung! Und das, obwohl locker ein Dutzend Lutze in den Kraken gepasst hätten. Von solchen Nebensächlichkeiten ließ sich der Bully jedoch nicht beeindrucken, der dämliche Hund hatte schlicht kein Gespür für Gefahr. Seiner Meinung nach war er das mit Abstand gefährlichste Wesen vor Ort.
»Was bist du bloß für ein mieser Wächter?«, fuhr ich Sander an, der mich in Richtung Treppe manövrierte. »Dieses Monster wird Lutz fressen!«
»Blödsinn, denn im Gegensatz zu dir hat der Hund Instinkte.« Sander packte mich unter den Achseln, als ich in mich zusammenzusinken drohte. Ich war für solche Aktionen einfach nicht geschaffen. Unsanft hielt er mich in der Senkrechten, während der Krake seine Schockstarre überwand und mehrere Tentakel gleichzeitig auf Lutz abfeuerte, was dem Hund nicht mehr als ein Knurren entlockte, bevor er in den erstbesten Tentakel biss. »Und ein verdammt großes Ego hat er auch. Jetzt hau endlich ab, Anouk.«
»Gern, sobald du deine Pfoten von mir nimmst.«
Sander zog seine Hände so hastig zurück, als hätte ich mich in null Komma nix in einen stachligen Wabbelkraken verwandelt.
Ich sackte keuchend auf die Knie.
Ohne mich weiter zu beachten, machte Sander kehrt und brach im Vorbeilaufen einen der Bambusstäbe aus der Umrahmung des Hochzeitsschranks.
Unterdessen baute sich das Ungeheuer zu seiner vollen Größe auf, wobei sein Kopf nicht länger an eine eingedellte Tube voll blauem Gelee erinnerte, sondern den groben Umriss eines Mannes angenommen hatte, dessen Unterkörper anstelle von Beinen in unzähligen Tentakeln endete. Die Arme zeichneten sich bereits ab, waren aber noch mit den Seiten verwachsen. Als er jedoch den heranpreschenden Sander erblickte, spreizte er sie ab und öffnete seine Hände, in deren Innenflächen zwei Münder voller Zähne klafften.
Kurz vor dem Krakenmann blieb Sander stehen, hob den Bambusstab auf Brusthöhe, zielte und warf ihn mitten in die dunkelste Stelle des Leibes, die gleichmäßig pulsierte. Der Stab versank bis zur Hälfte mit einem schmatzenden Geräusch und für einen Moment fielen die reißzahnbewehrten Arme schlaff herab. Dann packten sie den Stab und zogen ihn heraus, während das Wesen auf seinen Tentakeln die Wand seitwärts hinaufzurutschen begann.
Der Anblick, wie Sanders Schulterblätter vor Schreck unter seinem Shirt zusammenzuckten, war eine Rarität, einfach, weil er äußerst selten überrascht war.
»Was hast du in Bio gemacht, Bleistifte auf der Nasenspitze balanciert? Kraken haben nicht bloß ein Herz und Schluss, da gibt es noch zwei weitere«, klärte ich ihn auf.
»Du bist ja immer noch da.« Sander warf mir einen giftigen Blick zu. »Willst du unbedingt noch einmal gerettet werden?«
Ich sparte mir eine Antwort und rutschte auf meinem Hinterteil die Treppenstufen runter, weil ich meinen Wackelbeinen nicht über den Weg traute. Ganz anders als die beiden Tentakelzähmer war ich keine Kämpfernatur, mir wurde allein bei der Vorstellung schummerig, mich mit jemandem körperlich zu messen. Was auch immer Sander anstellte, um an die zwei Kiemenherzen zu gelangen, davon wollte ich nach Möglichkeit kein Zeuge werden. Das Letzte, das ich noch mitbekam, war, wie der Krakenmann sich von der Flurdecke auf Sander fallen ließ und Lutz loskläffte, als gäbe es seine Lieblingspansensorte als Leckerli.
Irgendwann verstummte der Lärm aus Rappeln, Sanders Flüchen und Lutz’ laut kundgetaner Hundebegeisterung im Obergeschoss, und ich konnte aufhören, mein Nagelbett blutig zu knabbern. Das war ohnehin eine Angewohnheit, die ich mir dringend abgewöhnen musste – nicht nur weil Sander sich jedes Mal über meine Sorgen lustig machte, sondern weil ich mir selbst keine Sorgen machen wollte. Zumindest nicht um ihn, bei Lutz war das was anderes, den liebte ich schließlich heiß und innig. Sander hingegen wusste, was er tat. Nun gut, manchmal auch nicht, aber das hatte ihn bislang noch nie in Verlegenheit gebracht.
Trotzdem hatte ich meinen Zeigefingernagel fies eingerissen, als kurze Zeit später die Dusche im Badezimmer anging. Ich schloss daraus, dass an diesem Tag mit keinen weiteren Krakenattacken mehr zu rechnen war und ich den sicheren Raum im Untergeschoss wieder verlassen durfte. Ins Obergeschoss, wo mein Zimmer lag, mochte ich trotzdem noch nicht gehen, also verzog ich mich in die Küche. Dort kümmerte ich mich um meine zerstochene Hand und die geschwollene Schulter, deren Haut gerötet und mit lila Pünktchen übersät war. Zu meiner Erleichterung hatten die Dornen auf den Tentakeln kein Sekret oder Ähnliches in den Wunden hinterlassen, sodass schon bald nichts mehr von der Verletzung zu sehen sein würde. Allerdings war ich immer noch ordentlich aufgewühlt und meine Hände zitterten. Deshalb beschloss ich, ein Ablenkungsmanöver mit meinem Bedürfnis nach Süßem zu paaren: Ich backte Muffins.
Ich war gerade dabei, Schokoflocken in den Teig zu rühren, als Lutz an der Küchentür kratzte. Unsere weiße Bulldogge mit den rehfarbenen Flecken machte, im Gegensatz zu mir, nur einen leicht angeschlagenen Eindruck und ließ, ohne Gewinsel, ihre Blessuren untersuchen. Allerdings verschmähte Lutz den Klecks Muffinteig in seinem Napf, mit dem ich ihm was Gutes tun wollte. Stattdessen verkroch er sich in seinem Korb neben dem Ofen, von wo aus das tiefe Grummeln seines Bauchs verriet, dass gerade eifrig Tentakel verdaut wurden.
Allein bei der Vorstellung schüttelte es mich und – ›ping‹ – kündigten sich die ersten Herpesbläschen auf meiner Oberlippe an, die ich immer bekam, wenn ich mich ekelte. Bitte nicht! Verzweifelt bemühte ich mich, an Schokolade anstelle von fischigem Glibber zu denken, was sich als richtig schwierige Aufgabe herausstellte. Denn kaum waren meine Sinne auf fluffiges Gebäck eingestellt, blitzte der mutierte Krakenmann vor meinen Augen auf, dessen Zähne in den Handflächen sich auch liebend gern in etwas Leckerem vergraben hätten. Vorzugsweise in Mädchen mit Korkenzieherlocken. Dieses Erlebnis würde mich zweifelsohne noch eine Zeit lang verfolgen.
Sander fand den Weg in die Küche, als ich die Muffins gerade zum Auskühlen auf ein Gitter schob. Sein Gesicht war übersät mit feinen Schnitten und lila Punkten, an seinem Nasenflügel klebte ein Rest Blut, und beide Hände sahen aus, als hätte er sie in kochendes Wasser gesteckt. Nichts davon schien ihn zu kümmern, in dieser Hinsicht war er entweder ein großartiger Schauspieler oder bei ihm gab es dort, wo bei normalen Menschen das Schmerzzentrum saß, nur einen Sandsack, auf den man nach Herzenslust einprügeln konnte, ohne dass es ihm wehtat.
Die Augen zu Schlitzen verengt, musterte er mich, bis ihm auffiel, dass seine Brille nicht auf der Nase, sondern auf seinem Kopf saß, umgeben von verwuschelt schwarzem Haar.
Das war so typisch, dass ich es nicht einmal kommentierte. Die dunkel gerahmte Brille war überall im Haus anzutreffen, nur nie auf Sanders Nase, wo sie eigentlich hingehörte. Glücklicherweise waren seine anderen Sinnesorgane hervorragend ausgebildet, ansonsten wäre er vor lauter Blindheit gewiss schon längst einen bizarren Unfalltod gestorben. Das Einzige, was er zu hundert Prozent scharf sah, waren die Besucher von der anderen Seite des Tors. Was meiner Meinung nach kein Geschenk war.
Nachdem Sander die Brille zurechtgeschoben hatte, maß er mich erneut von Kopf bis Fuß, wobei sein Blick besonders lang an meiner malträtierten Schulter und dem mit Pflaster umwickelten Zeigefinger hängen blieb, dann ließ er sich auf seinen limonengrünen Stuhl fallen. Genau: sein Stuhl. Als ich den altertümlichen Küchentisch samt Stühlen abgeschliffen und bunt angemalt hatte, war mir gleich klar gewesen, dass Sander sich exakt das Exemplar mit der schrillsten Farbe aussuchen würde. So war es immer, obwohl er behauptete, sich nichts aus Farben zu machen. Aus Formen übrigens auch nicht, wie sein T-Shirt mit dem Testbild-Aufdruck zu den karierten Hosen bewies. Mir taten allein vom Hinsehen die Augen weh.
»Wow, und ich dachte, ich würde bereits alle geschmacklosen Kombis kennen, die dein Kleiderschrank hergibt.«
Sander zog eine Braue hoch. »Du willst über Klamotten reden? Wie wär’s damit: Zieh dir was mit Ärmeln an, ansonsten flippt Jakob aus, wenn er deine Wundmale sieht.«
»Papa wird heute den letzten Zug nehmen und nicht vor neun Uhr abends eintreffen. Bis dahin sind es noch vier Stunden. Außerdem bringt die Hitze mich um.« Der Backofen des alten Herrenhauses wurde mit Holz beheizt und verwandelte die Küche, selbst an kühlen Märztagen wie heute, problemlos in eine Sauna. Mehr als ein Trägershirt war da einfach nicht drin. »Wie sieht es oben aus?«, erkundigte ich mich.
»Umdekoriert. Diese angestaubte Kommode stand eh nur im Weg, jetzt brauchen wir sie für den Sperrmüll wenigstens nicht mehr extra zu zerlegen. Am übelsten hat es allerdings den Dachboden erwischt, auf den das Ding geflüchtet ist.«
»Hat es schon angefangen?«
»Noch nicht, es werden also weiterhin Wetten angenommen. In was wird sich der vollgerümpelte Dachboden, auf dem Mr Armfüßler sein gewaltsames Ende fand, im Lauf der nächsten Wochen verwandeln? In das größte Boudoir aller Zeiten, auf das selbst Ludwig XVI. neidisch gewesen wäre? Oder gar in ein Sternenzimmer?«
»Ein Sternenzimmer …« Das Wort zündete in mir. »Was genau meinst du damit?«
Natürlich war es albern nachzufragen, nicht nur, weil Sander mir vor lauter Coolness keine Antwort geben würde, sondern auch, weil es meine Vorfreude verriet, die ich ansonsten möglichst sorgfältig verbarg. Ich war nämlich die einzige Person in unserem Haushalt, die den Veränderungen durch die Besucher etwas abgewann. Für Sander waren sie lediglich ein Zeichen seines Versagens und für meinen Vater Jakob die reinste Verschwendung von Energie, die darüber hinaus das Risiko barg, dass jemand etwas von den Vorgängen in unserem Haus mitbekam. Schwer zu sagen, welche von beiden Vorstellungen Papa mehr auf den Magen schlug: Zeit mit Nebensächlichkeiten zu verschwenden oder aufzufliegen.
Wie erwartet verzog Sander keine Miene, sondern lehnte sich über den Tisch, um sich einen Muffin zu schnappen.
Ohne zu fragen.
Warum auch? Schließlich war er der Held und ich bloß die Küchenmaid, die er zu allem Überfluss gerade erst vor dem bösen Ungeheuer gerettet hatte. Das wurmte mich mehr, als ich mir eingestand. Diese ganze Kampfkiste war nichts für mich und für gewöhnlich stand ich dazu, schließlich hatte ich dafür andere Dinge drauf. Aber dass Sander jetzt einen auf überlegen machte, weil er mir armem Lämmchen zu Hilfe geeilt war, wollte ich nun auch nicht so stehen lassen.
Sander, ein Held? Unterschreibe ich. Allerdings nur mit der Anmerkung, dass man auch über eine Daseinsberechtigung verfügt, wenn man außerstande ist, Meeresfrüchte mit Bambusstäben aufzuspießen.
Sander, cool? Ja, meinetwegen. Geschenkt.
Sander, mir generell überlegen? In hundert Jahren nicht!
Gerade als er in den Muffin biss, fragte ich deshalb voller Unschuld: »So hungrig? Wenn du ein paar Stücke vom Besucher übrig gelassen hättest, gäbe es heute gegrillten Tintenfisch zum Abendessen.«
Das war hinterhältig und gemein, aber ich freute mich trotzdem, als Sander bei dem Gedanken an Calamaris das Gesicht verzog. Dann schluckte er, als sei der Happen Schokogebäck ein Stein, und legte den Rest vom Muffin so weit weg wie möglich.
»Lass uns nicht mehr über Tentakel reden, einverstanden?«
»Kein Problem. Obwohl … Die müssen echt lecker gewesen sein, schließlich hat sich Lutz bis zum Anschlag damit vollgestopft.«
Sander hielt sich die Hand vor den Mund, während er mich wütend anfunkelte. Das konnte er gut, darin hatte er Übung.
»Eigentlich ist der Hund ja resistent, weil die Besucher nur leblose Materie verändern. Dieses Mal wäre es jedoch durchaus möglich, dass es zu viel des Guten war und Meister Sabbelschnute gegen alle Regeln mutiert«, plauderte ich unbekümmert weiter. Es war vermutlich kein schöner Zug von mir, aber ich genoss es, endlich einmal Oberwasser zu haben. Ansonsten war es nämlich stets Sander, der mich lässig vor die Wand laufen ließ. »Stell dir mal vor, dem alten Lutz wachsen plötzlich ein paar Engelsflügel. Wäre das nicht abgefahren?«
Beim Klang ihres Namens wälzte sich die Bulldogge schwerfällig auf den Rücken und gab ein pfeifendes Geräusch am unteren Ende von sich.
Sanders Grinsen war nicht mehr als eine Andeutung in den Mundwinkeln. »Dann könntest du ihn als einen weiteren Dekogegenstand in dein schickes Mädchenzimmer stellen.«
Wie aufs Stichwort war meine Überlegenheit dahin. »Wenigstens habe ich ein Zimmer und nicht wie du eine verwahrloste Höhle in den Katakomben, in direkter Nachbarschaft mit deinen fischigen Freunden, denen es in den ungünstigsten Momenten gelingt, durch das Tor zu kriechen. Oder in diesem Fall zu glitschen, und zwar so geschickt, dass du es trotz deines ach so hervorragenden Warnsystems nicht einmal mitbekommst, dass einer im Haus unterwegs ist.«
Aufgebracht knallte ich die benutzten Backutensilien ins steinerne Spülbecken, denn trotz meiner Bettelei hatte Papa es bis heute nicht geschafft, eine Spülmaschine anzuschaffen. Die Welt vor dem Untergang zu bewahren, war eben eine nervenaufreibende Angelegenheit, vor allem, wenn man noch einen offiziellen Job in einer Bank hatte. Inzwischen hatte Sander sich mit einem Geschirrtuch neben mich gestellt und begann abzutrocknen. Die Brille saß erneut schief in seinem Haar. Es kribbelte wie wild in meinen Fingern, aber ich widerstand dem Verlangen, sie ihm auf die Nasenspitze zu schieben.
»Auf die Gefahr hin, als Klugscheißer dazustehen: Ich würde nicht darauf setzen, dass es einer eh schon brüchigen Porzellanschüssel guttut, wenn man an ihr herumreibt, als sei sie Aladins Wunderlampe.«
Ich grummelte nur, scheuerte aber sicherheitshalber mit deutlich weniger Druck.
Wie ein Großteil unserer Haushaltsdinge war auch diese Schüssel ein Erbstück und hatte, wie alles von den Kronleuchtern in den Gesellschaftsräumen bis hin zum Silberbesteck, etliche Jahrzehnte auf dem Buckel, was sie in meinen Augen nur umso schöner machte. Der Rest unserer Einrichtung setzte sich zusammen aus ausgefallenen Stücken, die meine Mutter angeschafft hatte, und veränderten … Nun ja, sagen wir einmal veränderten Objekten, wie etwa die schwarze Stelle im Salonboden, in der wir so lange den Müll und die sich vorm Tor ansammelnden Salzmengen verschwinden ließen, bis sich herausstellte, dass die Dinge wieder auf dem Hinterhof des hiesigen Tante Emma Ladens herauskamen. Die Inhaberin, Frau Lorenz, verkaufte uns bis heute als Strafe nicht einmal ein lumpiges Ei. Aber wie sollten wir ihr bitte schön erklären, dass wir ihren Hinterhof keineswegs als wilde Müllkippe benutzt hatten? Das ging schlecht, ohne unser kleines Geheimnis zu lüften. Von solchen Unannehmlichkeiten einmal abgesehen, hatte unser Zuhause Charakter – und zwar in so mancher Hinsicht.
»Anouk …«, begann Sander, um sogleich wieder zu verstummen.
Trotzdem ahnte ich, worauf dieses gepresste »Anouk« hinauslaufen würde. »Fang gar nicht erst damit an«, knurrte ich.
»Du weißt genauso gut wie ich, dass an diesem Gespräch kein Weg vorbeiführt.«
»Unsinn, Papa muss überhaupt nicht erfahren, dass ich persönlich Bekanntschaft mit Besucher Tintenfisch gemacht habe.«
»Wie willst du es denn vor ihm verheimlichen?«
Das theatralische Augenrollen hatte ich mittlerweile richtig gut drauf, nur leider bekam Sander nichts davon mit, weil er zu sehr mit Abtrocknen beschäftigt war. Das Geschirr würde im Anschluss funkeln und glänzen, so, wie der sich ins Zeug legte. »Indem ich es Papa verschweige, du Genie.«
»Für dich mag das ja angehen, aber ich muss Jakob genau berichten, was passiert ist. Die Salzzeichen vorm Tor bieten nicht länger einen Schutzwall, und das Kraftfeld funktioniert auch nicht sonderlich verlässlich in der letzten Zeit, worauf du eben selbst so charmant hingewiesen hast. Ich habe viel zu spät mitbekommen, dass ein Besucher auf unsere Seite gewechselt ist, nämlich erst als du schon am Krakeelen warst. Insofern du deine Dienste nicht als neues Alarmsystem anbieten willst, wird mir gar nichts anderes übrig bleiben, als mit Jakob zu sprechen.«
S wie Sander, S wie stur, S wie scheißstur.
Ich stemmte die Hände in die Hüften. »Ein gewisser Ausschnitt des Geschehens würde vollauf ausreichen, nämlich genau ab dem Moment, in dem du den Krakenmann mit einem Bambusstab harpuniert hast. Die Vorgeschichte ist doch unwichtig, die kann man getrost unter den Tisch fallen lassen.«
»Super Vorschlag. Auf diese Weise findet Jakob zwar nicht heraus, wie es wieder einmal einem Besucher gelungen ist, unser Sicherheitssystem zu überlisten, aber das macht ja auch nichts.« Sanders Stimme war Ironie pur. »Jetzt mal im Ernst, dieser Glibberhaufen ist nicht nur durch das Tor gelangt, ohne dass Alarm ausgelöst wurde, sondern er hat es sogar unbemerkt bis unters Dach geschafft. Wenn du nicht zufällig deinem Ordnungswahn gefolgt wärst …«
Ich spritzte eine Ladung Spülwasser in Sanders Richtung.
Unbekümmert setzte er erneut an. »Wenn du nicht zufällig deiner Hausfrauenleidenschaft …«
»Entweder du hörst sofort auf damit oder ich tunke deinen Kopf in die Abwaschbrühe.« Ich war vielleicht keine Jeanne d’Arc, allzeit bereit, mich in die Schlacht gegen die Besucher zu werfen, aber von diesem Großmaul ließ ich mir nichts gefallen.
In Sanders grünen Augen war ein eindeutiges »Als ob es einem Mädel wie dir gelingen würde, mich baden zu schicken« zu lesen, aber er ließ es klugerweise dabei bewenden. Den Mund hielt er trotzdem nicht.
»Wenn du nicht zufällig in den Kraken gerannt wärst, wäre er uns vermutlich entwischt. Was das bedeuten würde, weißt du genauso gut wie ich: Es wäre der Anfang vom Ende. Jakob würde mich schlachten, bevor der Wächterzirkel ihn hinrichtet, weil er seit Jahren die Nebensächlichkeit vor ihnen verborgen hat, dass uns Besucher mit ihrer Anwesenheit beehren. Und das, obwohl er doch persönlich bewiesen hat, dass es unmöglich ist, die Barriere aus Salzzeichen zu durchqueren, und unser Tor deshalb auch kein ernsthaftes Risiko darstellt. Jedenfalls nicht so groß, dass der Wächterzirkel seine Lager in Himmelshoch aufschlägt. Deshalb müssen wir ganz genau analysieren, wie es überhaupt so weit kommen konnte, dass dieser Besucher unser Sicherheitsnetz ausgetrickst hat. Unsere alte Diskussion wird also zwangsläufig wiederaufgenommen, und du würdest uns allen einen Gefallen tun, wenn du dich dieses Mal nicht querstellen würdest. Das Internat, von dem Jakob sich Infomaterial hat schicken lassen, sah doch gar nicht übel aus.«
»Das hier ist mein Zuhause! Ich lasse mich auf keinen Fall abschieben. Dir mag so was ja schnurz sein, aber ich habe einen Freundeskreis, der mir wichtig ist. Da kann ich mich nicht einfach absetzen, nur weil du deinen Job vermasselt hast. Außerdem habe ich Ideen und Pläne, die mich an Marienfall binden.« Das war jetzt ein wenig hochgegriffen, darum schob ich rasch ein »Und ein Privatleben habe ich auch« hinterher.
»Anouks berühmtes Privatleben«, ächzte Sander. »Damit meinst du die Nachmittage, die du lesend in deinem Mädchenparadies verbringst, richtig?«
Ich hob drohend den Zeigefinger. »Du hast doch keine Ahnung, weil du unter Privatleben den Moment verstehst, in dem du dich mit Wodka randvoll auf irgendwelchen Partys ausschaltest.«
»Irre ich mich oder ist da eine Spur von Neid in deiner Stimme? Ach nee, du bist ja freiwillig Jakobs liebes Mädchen.«
»Genau, ich bin Papas Mädchen – auch ein Grund, warum ich auf jeden Fall bleibe. Denn wenn ihr beide allein seid, verkommt ihr Männer doch innerhalb kürzester Zeit, vom armen Lutz mal ganz abgesehen. Wenn ich dich nicht unentwegt jagen würde, deinen Anteil der Hausarbeit zu erledigen, würdest du dich eines Tages wundern, warum dein Kleiderschrank keine frischen Klamotten mehr enthält und ein Müllberg dir den Weg zur Haustür versperrt. Papa hingegen würde vermutlich vor lauter Arbeit vergessen, dass er ein Mensch und keine im Dauereinsatz funktionierende Maschine ist. Auch wenn ihr beiden euch das nicht eingestehen wollt: Ihr braucht mich, weil ihr ohne mich gar nicht wüsstet, dass es abseits des Tors so was wie ein normales Leben gibt. Ich bin sozusagen die unentbehrliche Stellvertreterin der Außenwelt, dafür habe ich eigentlich einen Orden vom Wächterzirkel verdient, anstatt einer Fahrkarte nach Höhere-Töchter-Abschiebehausen.«
Leider war meine gesamte Überzeugungsarbeit für die Katz, bei Sander ging das zum einen Ohr rein und zum anderen umgehend hinaus. »Anouk, der Krake war dir wirklich verdammt dicht auf den Fersen. Wenn ich nur eine Sekunde später dazugekommen wäre …« Er brach ab, als sei mir mit Vernunft eh nicht beizukommen.
Womit er eindeutig recht hatte. Also versuchte ich ihn auf eine andere Weise zu überzeugen. »Kannst du dir das denn vorstellen: Ein Leben in diesem Haus ohne mich?«
Für einen winzigen Moment zögerte Sander, fast als würde ihm die Vorstellung zutiefst zuwider sein. Dann verhärtete sich sein Gesicht jedoch auch schon wieder. »In Himmelshoch ist es mittlerweile schlicht zu gefährlich für dich, sieh es ein.«
»Ich habe fast mein ganzes Leben in Himmelshoch verbracht, geschlagene elf von sechzehn Jahren und fünf Monaten, ohne dass mir jemals etwas Ernstzunehmendes zugestoßen ist.«
Sander berührte meine geschwollene Schulter – lediglich flüchtig, weil er wusste, wie sehr der Abdruck der Tentakel schmerzte, aber auch weil er es generell vermied, mir nah zu kommen. Trotz der leichten Berührung stöhnte ich vor Schmerzen auf.
»Es hätte noch viel schlimmer kommen können«, flüsterte er und jede Andeutung von Schalk war aus seinem schmalen Gesicht gewichen.
Schachmatt, gestand ich mir, aber nicht Sander gegenüber ein. Unter gar keinen Umständen würde ich zugeben, wie knapp ich tatsächlich entkommen war. Stattdessen drehte ich mich um und flüchtete auf mein Zimmer, wo ich mich aufs Bett warf. Falls Sander recht behielt und sich die Lage immer weiter verschlimmerte, dann würden sie mich fortschicken, dabei wollte ich um keinen Preis irgendwo anders sein. Dies war mein Zuhause, das einzige, das ich mir überhaupt vorstellen konnte. Ich war eine Parson, wir gehörten zu Marienfall wie der Salzgeruch des fernen Meeres und das flache Land. Auch wenn ich mich an die Orte, an denen wir bis zu meinen fünften Geburtstag gelebt hatten, kaum erinnerte, war ich mir trotzdem sicher, dass sie mir genauso unwichtig gewesen waren wie die Menschen, denen ich dort begegnet war. Nur hier fühlte ich mich heimisch, schlug Wurzeln, verflocht mich mit Freunden, Mitschülern und den Kleinstadtbewohnern von Marienfall.
Und was planten unterdessen die zwei Menschen, die mir am nächsten standen?
Meine Abschiebung.