26. Im Dickicht verstrickt
Um Marienfall erstreckten sich Felder und Wiesen, das Land war so eben, dass der Blick weit schweifen konnte. Nur am Meer war der Horizont noch weiter entfernt.
Sander hielt die Bandit auf einem Feldweg an, der von Weiden umgeben war. »Hierher komme ich, um einen klaren Kopf zu bekommen, wenn mir wieder einmal alles zu viel wird. Es ist ein guter Ort, um sich zu sortieren oder um einfach nur herumzustehen und Löcher in die Luft zu starren. Weit und breit kein Mensch, der einen stört.«
Das Gras leuchtete im Frühlingsgrün und an einigen Stellen unter den Bäumen hatten sich Reste des morgendlichen Nebels gehalten. Es war ruhig, kein Motorenlärm zu hören, nur leises Muhen. Auf einer Weide standen Kühe, deren cremefarbenes Fell leicht gewellt war und ihnen etwas Urwüchsiges verlieh. Ganz anders als die Standardmilchkuh, die einen von den Kühlregalen der Supermärkte anstarrte. Neugierig und entspannt zugleich blickte die kleine Herde erst die Bandit und dann uns an. In ihren seelenvollen Augen konnte man vergehen.
Mit einiger Mühe kletterte ich vom Sitz des Motorrads und nahm den Helm mit tauben Fingern ab. Sogleich rann mir das Wasser aus meinem nassen Haar, das sich in der Fütterung angesammelt hatte, den Nacken hinab und verstärkte das Kältegefühl. Meine Zähne schlugen aufeinander, aber das ignorierte ich, genau wie die Gänsehaut. Langsam ging ich auf die Herde zu und streckte dem am nächsten stehenden Tier meine Hand entgegen, die sofort beschnüffelt wurde. Es mussten Jungtiere sein, die noch alles spannend fanden, aber nicht so spannend, dass sie vor Aufregung aus dem Häuschen gerieten. Ihr Leben war gut, ein gemächlicher Fluss mit massenhaft frischem Gras, einem Endloshimmel und gelegentlich einer lärmenden Maschine, die was zum Beschnuppern vorbeibrachte. Nur allzu gern hätte ich mit ihnen getauscht.
Sander gesellte sich zu mir und streichelte ein Tier zwischen den Augen, was dieses mit einem zufriedenen Schnauben belohnte. »Wie sollen wir beide die Monsterkiste nun anpacken, die Braver-Besucher-Tammo uns eingebrockt hat?«
Ich verlor mich noch eine Weile in dem friedlichen Anblick der Kühe, dann schlug ich vor, ein paar Schritte zu gehen. Dann müssen wir einander wenigstens nicht in die Augen sehen.
»Der Hase … Also dieses Schmusetier, von dem Tammo gesprochen hat …« Es war so schrecklich schwer, es auszusprechen. »Damals als Madelin verschwunden ist, habe ich Löffel verloren und ihm schrecklich nachgeweint. Meine Mutter muss ihn gesucht und gerade in dem Moment gefunden haben, als es passiert ist.« Es – was mochte sich dahinter verbergen? Verzweifelt suchte ich nach einer Antwort, denn solange ich mir darüber den Kopf zerbrach, musste ich mich meiner Trauer nicht stellen. Meine Mutter. Ich hatte Madelin wiedergefunden, nur um sie sofort wieder zu verlieren. Endgültig, wenn ich Tammo richtig verstanden hatte. Es war schlicht zu schmerzhaft, mich dem Verlust zu stellen. »Was ist nur tatsächlich an dem Tag geschehen, an dem Tiamat erwacht ist? Weiß es überhaupt jemand? Weiß es Jakob, oder hat auch er sich bloß eine Geschichte zurechtgelegt, um nicht mit einer Leerstelle leben zu müssen?«
»Es sind einfach zu viele offene Fragen, zu viele Punkte, die wir unmöglich mit Sicherheit benennen können. Eigentlich ist es alles in allem ein ziemliches Chaos.« Sander sprach leise, als rechne er damit, dass, wenn er lauter reden würde, ich davongeweht werden würde wie ein Blatt im Wind. »Eins steht jedoch fest: Wenn wir Tammos Behauptungen auch nur in einer Hinsicht ernst nehmen, dann müssen wir alles vergessen, was wir bislang über Tiamat, unsere Aufgabe als ihre Wächter und die Besucher zu wissen geglaubt haben. Mehr als das, wir müssen uns auch einer Menge unangenehmer Fragen stellen, weil wir nie herauszufinden versucht haben, was eigentlich genau auf der anderen Seite des Tors los ist.«
Ich ahnte, worauf er hinauswollte. »Was Tammo über dich gesagt hat …«
Augenblicklich unterbrach Sander mich. »Na, im Prinzip nichts Neues. Einer von der Braven-Besucher-Sorte ist rübergekommen, um die Bruchstelle zwischen unseren beiden Welten zu schließen, und dabei ist etwas schiefgegangen. Deine Mutter ist, aus welchem Grund auch immer, auf die Ozean-Seite gelangt, während dieser Wächter-Besucher verschollen ist. Nach allem, was Tammo erzählt hat, steht zu befürchten, dass er mit einem kleinen Jungen, der sich gerade zufällig in der unmittelbaren Nähe aufgehalten hat, verschmolzen ist. Offenbar hatte der Typ die Nummer mit dem Einnisten nicht so gut drauf wie Tammo, deshalb hat er das Ganze ordentlich versemmelt und außer ein paar blauen Linien ist nichts von ihm übrig geblieben. Oder Jakob hat ihn erledigt, bevor er in den Gastkörper geschlüpft ist. So reime ich mir das jedenfalls zusammen. Klingt plausibel, oder?«
So hat Tammo das aber nicht gesagt, ganz im Gegenteil. Er sprach von einem Fließenden, der in einer festen Form geboren wurde, der es nicht nötig hatte, sich bei einem Menschen einzunisten … Doch diesen Gedanken behielt ich wohlweislich für mich. Stattdessen starrte ich auf den holprigen Weg vor mir, denn ich wollte auf keinen Fall Zweifel in Sanders Augen sehen, Zweifel an seiner eigenen Auslegung der Ereignisse. Mir machten meine eigenen bereits genug zu schaffen. Wer war der Junge mit den schwarzen Strubbelhaaren, dem bizarren Klamottengeschmack und dem Hang zur Hitzköpfigkeit, der an meiner Seite ging und dessen nasse Stiefel bei jedem Schritt knirschten, in Wahrheit?
Abrupt blieb Sander stehen und presste seine Handballen gegen die Schläfen, als wolle er mit Gewalt seinen Schädel vorm Explodieren bewahren. Seine feuchte Kleidung klebte an ihm und betonte das Beben, das seinen Körper durchlief – allerdings nicht wegen der Kälte, wie bei mir, sondern weil er unter einer enormen Anspannung stand. Die Energie, die er dabei verströmte, drang bis zu mir durch, und ihre Berührung ließ mich erschaudern. Ich kannte diese Reaktion von Sander, war mit ihr vertraut. Sie war etwas Besonders, nicht von dieser Welt.
Dann senkte Sander die Hände und sah mich an. Ganz direkt.
Den Blick vom Weg zu nehmen, ist ein Fehler gewesen, erkannte ich sofort. Jetzt liest er dir deine Bedenken und noch mehr deine Angst von der Nasenspitze ab.
Was Sander natürlich auch prompt tat. »Ich bin keiner von denen.« Der Bruch in seiner Stimme verriet, dass er sich dessen keineswegs sicher war. Genau wie ich.
»Und wenn es doch so wäre, fände ich es nicht schlimm.«
»Es wäre nicht schlimm, wenn ich nicht menschlich bin? Wenn mein ganzes bisheriges Leben eine einzige Lüge gewesen ist?« Sander schüttelte den Kopf, während in seinen Augen Verzweiflung und Wut miteinander kämpften. »So naiv bist du nicht, dass du das glaubst, Anouk. Meine Weltsicht mag gerade überwiegend aus Fragezeichen bestehen, aber in dieser Hinsicht bin ich mir absolut sicher: Ich bin ein Mensch, durch und durch, genau wie du – und keine perfekt gelungene Nachahmung!«
Meine Hände fuhren vor, um nach Sander zu greifen, verharrten aber auf halbem Weg. Zuerst musste ich ihm etwas geben, das ihm in diesem Durcheinander Halt bot und zugleich bewies, dass es mir wirklich nichts ausmachte, falls Tammo die Wahrheit über ihn gesagt hatte. »Unten am Grund des Strudels hast du mich atmen lassen«, flüsterte ich. »Das ist es doch, was zählt. Du bist ein Wesen zweier Welten, warum auch immer. Diese Erkenntnis verwandelt dein Leben nicht zwangsläufig in einen Scherbenhaufen, denn so oder so bleibst du Sander.«
»Alexander, wenn man es genau nimmt. Alexander, der Beschützer. Diesen ätzenden Namen hat Jakob mir gegeben. Nach den heutigen Erlebnissen frage ich mich, ob dahinter nicht mehr steckt als eine ätzende Namenswahl. Weil er ahnte, dass ich ihm helfen würde, Tiamat in seinem Sinne zu kontrollieren. Oder weil er wusste, was ich in Wirklichkeit bin.« Das Beben, das Sander in seiner Gewalt hatte, wurde schlimmer. Fast befürchtete ich, es könnte ihn zerreißen, seine äußere Hülle sprengen und seinen wahren Wesenskern freisetzen, ein Geschöpf aus einem Reich, das sich der Ewige Ozean nannte. Durch sein T-Shirt drang verdächtig bläulich schimmerndes Licht. »Nein«, murmelte er. »Nein.« Dieses Mal lauter und bestimmter. »Nein! Das ist alles eine gottverdammte Lüge! Nichts anderes als ein Trick von diesem verdammten Besucher, um uns dranzukriegen. Sieh mich an, Anouk. Sieh mich richtig an und nicht knapp an mir vorbei, als würdest du meinen Anblick nicht länger ertragen. Sag mir, dass ich keine Lüge bin, kein Irrtum und kein Fehler, den irgendwer irgendwo begangen hat.«
Darüber musste ich nicht nachdenken. »Das bist du nicht, nichts von alldem, das weiß ich. Und für mich ändert sich auch nichts durch Tammos Geschichte, zumindest nichts, was meine Gefühle für dich betrifft. Ich will mit dir dort weitermachen, wo wir auf dem Dachboden aufgehört haben, daran kann nichts und niemand etwas ändern.«
Meine Antwort war absolut wahrhaftig und offenbar genau das, was Sander am dringendsten brauchte. Wie im Rausch schlang er seine Arme um mich, so heftig, dass ich beinahe das Gleichgewicht verlor. Seine Berührung war hart und elektrisierend, raste über mich hinweg, ein einziger Schauer. Ich versuchte mich an ihn zu schmiegen, doch die Spannung in seinem Körper war zu groß, es war nicht der Augenblick für tastende Liebkosungen. Er zog mir die Jacke über die Schultern, während sein Mund den meinen suchte, ungestüm und hungrig. Nichts ging schnell genug, nichts war stark genug, um seinem Aufruhr entgegenzuwirken. Ich verstand ihn, verstand ihn nur allzu gut, denn auch in mir tat sich das Verlangen auf, all die wirren Gedanken und Ängste beiseitezuschieben und etwas Wahrhaftiges zu tun. Einen Beweis dafür zu liefern, dass nichts zwischen uns stand und dass es egal war, was sich als endgültige Wahrheit herausstellen würde.
Da waren nur noch sein Mund, seine Hände, der mitreißende Rhythmus seines Körpers, eine Ahnung, dass dies hier anderes war als die sanften Küsse unterm Dach. Es war ein Sog, der sich zwischen uns auftat und mich mitriss, dazu verleitete, meine Hände nicht länger erforschend, sondern erobernd über seinen Nacken zu treiben, angefacht von der Art, wie er den Atem anhielt, um mich im nächsten Moment nur noch eindringlicher zu küssen.
Diese Bindung zwischen uns ist echt. Das ist es, was zählt …
Ich wollte ihn das Verlangen spüren lassen, das er in mir hervorrief, dafür sorgen, dass er sich genauso in meinen Berührungen verlor wie ich in seinen. Meine Hände waren dabei, einen Weg unter sein Shirt zu suchen und von seiner kühlen und zugleich brennenden Haut Besitz zu nehmen. Nur mit Not beherrschte ich mich so weit, nicht einfach zu zerren, bis der Stoff nachgab. Jede Sekunde zählte, denn mit jeder Sekunde wuchs die Gefahr, aus diesem Taumel zu erwachen … Und wenn wir erwachten, würde er dann bleiben oder ein weiteres Mal vor mir flüchten?
Als ich meine Hand auf seinen Bauch legte, bemerkte ich die angespannten Muskeln, spürte, wie die harten Schläge seines Herzens bis hierhin getragen wurden. Sander unterdrückte ein Stöhnen, das halb von Erregung und halb von Ungeduld erzählte.
Nimm, was er dir jetzt geben will, denk nicht an später.
Es wäre so einfach gewesen, mich an Sander zu wärmen und zu reiben, bis ich Funken schlug, und zugleich eine Bindung einzugehen, die der Tiefe meiner Empfindung gerecht wurde. Aber während wir einander umschlungen hielten, uns küssten und einander hastig die Kleidung abzustreifen bemühten, nisteten sich Zweifel ein. Was wir taten, war zu langsam und zu schnell zugleich. In einem Moment glaubte ich, es nicht länger ertragen zu können, dass wir voneinander getrennt waren, und im nächsten stockte mir der Atem, während Sanders Lippen die Senke unter meinem Schlüsselbein erkundeten.
So hin und her gerissen ich war, ich wollte diesen Weg gehen.
Mit ihm.
Die Vorstellung, es nicht zu tun, war kaum zu ertragen, aber ich ahnte, dass eine solche Verbindung nicht von Dauer wäre, genau wie der Kuss unter dem gläsernen Dach es nicht gewesen war. Der Moment wäre rasch vorbei, und danach bliebe ein schaler Nachgeschmack, weil er nicht zu halten imstande war, was er versprochen hatte: Dass wir ein Bündnis besiegelten, indem wir alles vergaßen und uns liebten, als gäbe es die Welt nicht mehr und mit ihr auch keine Fragen, keine Ängste und vor allem kein Danach. Aber das Danach ließ sich bereits erahnen, wie ein dunkler Film breitete es sich aus unter der Leidenschaft, mit der wir uns küssten, aneinanderdrängten und mit unseren Händen hastig unbekanntes Land erforschten.
Gegen den Willen meines Körpers entzog ich mich Sander, vorsichtig, darauf bedacht, dass er sich nicht zurückgestoßen fühlte oder gar auf den falschen Gedanken kam, ich würde ihn nicht länger wollen, nun, da ich mir unsicher war, in wessen Armen ich eigentlich lag. Ich ließ die stürmischen Küsse verspielter werden, dämpfte die Dringlichkeit mit Milde und schmiegte mich an ihn, anstatt mich wie eben noch gegen ihn zu pressen, als gälte es, mit Gewalt ineinander zu verschmelzen. Während ich ihn besänftigte, bekam ich auch meine eigene Lust in den Griff, eine Lust, hinter der sich die Verzweiflung verborgen hatte, wie ich erst jetzt erkannte. Ich bedeckte Sanders Gesicht mit federleichten Liebkosungen und streichelte durch sein feuchtes Haar, während seine Hände sich nur widerwillig von Regionen meines Körpers zurückzogen, an denen ich nie zuvor von jemand anderem berührt worden war. Sein schwerer Atem klang mir in den Ohren und ließ mich einen Augenblick an meiner Entscheidung zweifeln, so gut hörte es sich an.
»Ich will mit dir zusammen sein, aber nicht aus nackter Verzweiflung oder aus der Angst heraus, dich zu verlieren«, erklärte ich ihm.
Mit einem Seufzen legte Sander seine Stirn auf der Einbuchtung meiner Schulter ab, während seine Finger meine Taille entlangwanderten. Auf und ab, auf ein Zeichen wartend, um sich erneut einen Weg unter den Stoff zu bahnen. »Anouk«, raunte er.
Ich musste unwillkürlich lächeln. Die Art, wie er meinen Namen aussprach, verriet mehr als jede denkbare Erklärung. »Ich weiß, ich will doch auch nicht aufhören, aber vertrau mir. Sobald wir uns einigermaßen abgekühlt haben, werden wir froh darüber sein, einander nicht die Schürfwunden an Rücken und Knie verarzten zu müssen.«
Sanders Lachen steckte mich sofort an, obwohl es verhalten war. »Wenn das der einzige Grund für deine Zurückhaltung ist … Ich kenne da eine Methode, bei der man mit möglichst geringem Bodenkontakt auskommt. Autsch, nicht die Fingernägel in meine Rippen bohren. Das war doch nur ein Angebot. Vermutlich würde die Stellung ohnehin nicht hinhauen, dafür muss man nämlich einen guten Gleichgewichtssinn mitbringen, über den du bekanntermaßen nicht verfügst. Anouk, hör auf! Das ist kein Kitzeln sondern Kneifen, was du da machst.«
»Ja, das ist es und ich fühle mich dadurch definitiv besser. Du und deine Kommentare, es ist wirklich zum Verrücktwerden.« Obwohl ich einen strafenden Tonfall anschlug, war ich ihm ausgesprochen dankbar für sein Geflachse, denn es half besser als jede andere Reaktion, die Situation zu überbrücken.
»Was heißt hier ›Kommentare‹? Das ist ein ernst gemeinter Vorschlag gewesen, aber du machst ja gleich einen Rückzieher, nur weil ein bisschen Akrobatik gefragt ist.«
»Liebe machen und Akrobatik geht, meiner Meinung nach, überhaupt nicht zusammen. Allein die Vorstellung ist albern.«
Endlich erreichte das Lachen auch Sanders Augen. »Hast du eben wirklich ›Liebe machen‹ gesagt? Das ist ungefähr so, als würdest du ›mit 270 Sachen auf der Bandit über die leere Autobahn heizen‹ einen gepflegten Sonntagsausflug nennen. Mann, wir müssen echt mal an deinem Sprachschatz arbeiten.«
»Ach, ja? Wie sagst du denn dazu? Halt, vergiss die Frage, ich möchte es lieber nicht wissen. Ich habe da so eine dunkle Ahnung. Belassen wir es dabei.«
Das verlegene und gleichermaßen befreiende Grinsen wollte nicht aus meinem Gesicht weichen, also ließ ich es einfach, wo es war. Auch Sander grinste, die Wangen gerötet und von Kopf bis Fuß zerzaust. Von dem blauen Glimmen war zu meiner Erleichterung nichts mehr zu sehen. Auch nicht von seiner Brille, worüber ich ausgesprochen froh war angesichts der Tatsache, dass meine Locken vermutlich wie Drahtspiralen zu Berge standen und es mir noch nicht gelungen war, meine Kleidung wieder zu ordnen. Als könne er meine Gedanken lesen, hob Sander meine Jacke auf und half mir hinein, dann nahm er meine Hand und deutete mit dem Kopf in Richtung seines Motorrads.
»Wir sollten uns langsam auf den Rückmarsch machen, Jakob sitzt garantiert bereits auf heißen Kohlen. Ich hatte ihm nämlich versprochen, dich umgehend nach Hause zu bringen.«
Obwohl seine Worte mich durchaus erreichten, reagierte ich nicht. Ich kenne Sanders Hände schon mein halbes Leben lang, aber ich hätte nie gedacht, dass sie perfekt zu meinen passen, stellte ich fest. Alles an ihm passt zu mir, sobald er mir nur einmal nah genug kommt. Warum gestehe ich mir das erst jetzt ein?
Während ich über mich selbst staunte, hob Sander mein Kinn an und suchte meinen Blick. »Hör mal, Anouk. Ich weiß, du bist erschöpft und bestimmt auch durcheinander, aber wir können Jakob nicht länger warten lassen. Es wird ohnehin schon elend kompliziert, ihm eine überzeugende Ausrede anzudrehen, wo wir uns so lange herumgetrieben haben.«
»Wir müssen es Jakob erzählen, er hat ein Recht darauf, alles zu erfahren, was Tammo uns gesagt hat«, platzte es aus mir heraus.
Sander kratzte sich am Halsausschnitt seines Shirts, auf der Seite, wo sich die blauen Linien befanden. »Vermutlich hat er das«, stimmte er mir zu. »Allem voran muss er erfahren, was mit Madelin geschehen ist. Es ist nur … Dann erfährt er auch von der anderen Sache.«
Die andere Sache – die Frage, wer Sander in Wirklichkeit war. »Vielleicht ist Jakob nie wie ein Vater zu dir gewesen, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass er dich deshalb im Stich lassen würde. Nur die anderen Wächter, die sollten besser erst einmal nichts davon erfahren.«
»Die Wächter.« Sanders Blick schweifte über die Weiden. Der Himmel hatte sich weiter zugezogen, doch das spärliche Licht ließ die Landschaft nur noch einnehmender erscheinen. Alles war mild und ein wenig entrückt. »Irgendwie habe ich das ungute Gefühl, dass die Wächter nicht sonderlich begeistert sein werden, wenn sich herausstellen sollte, dass ihr Tun zumindest in Tiamats Fall nicht nur überflüssig, sondern sogar verkehrt ist.«
Ohne rechten Grund wanderten meine Gedanken zu den Tarotkarten, die Grandmama für Sander gelegt hatte. Hatte er den Tod, von dem sie erzählten, bereits am Grund des Tropfens erlitten, als Tammo seine wahre Herkunft verraten hatte, oder stand ihm dieses Etappe noch bevor? Und wenn es so weit war, würde der Tod wirklich nicht mehr als eine Häutung sein, die notwendig war, um sich zu verändern? Oder stand sie womöglich doch für ein unumstößliches Ende? Gleichgültig, worauf es hinauslaufen würde, ich hatte den Verdacht, dass diese Karte erst noch ausgespielt werden würde.