7. Fehlschlag
»Versuch es noch einmal.«
»Auf keinen Fall!«
»Memm hier nicht rum, los jetzt.«
»Nein.«
»Anouk.« Sander knurrte meinen Namen. »Nun mach schon.«
»Ich sagte: nein! Und dabei bleibt es. Wir haben es bereits hundert Mal gemacht und hundert Mal bist du ausschließlich am Meckern gewesen. Dabei bin ich echt schnell genug für dieses blöde »Ein Mann greift dich frontal an«-Szenario. Wir haben das nämlich bereits im Selbstverteidigungskurs an der Schule geübt, ich gemeinsam mit Moritz. Übrigens äußerst erfolgreich, seitdem zuckt der Gute jedes Mal zusammen, wenn er mich sieht. Davon einmal abgesehen, bringt die Nummer nichts im Fall eines fischigen Besuchers, schließlich haben die meistens keine Arme und eher Kiemen anstelle von Kehlköpfen. Wenn du mir etwas beibringen willst, dann am besten, wie man ein Seemonster außer Gefecht setzt, damit stehe ich wenigstens auf der sicheren Seite. Oder noch besser, wir üben mit deinen geliebten Stöcken.«
Sander rieb sich entnervt die Nasenwurzel. »Als ob du nicht die erstbeste Gelegenheit nutzen würdest, um dich unter spektakulären Umständen selbst aufzuspießen. Bevor ich mit dir eine Kampftechnik wie Arnis übe, musst du erst einmal beweisen, dass du deinen Körper und nicht nur dein Mundwerk unter Kontrolle hast.«
»Ha! Jetzt hast du dich verraten. In Wirklichkeit glaubst du auch nicht daran, dass ich trainierbar bin. Dir liegt dieser ganze Kampfsportkram im Blut, während ich mehr der Harmonietyp bin. Ich bin gut im Dauertelefonieren und darin, den richtigen Kinofilm auszusuchen, aber eben nicht im Schmerzen zufügen. Ganz im Gegensatz zu dir, der seine Umwelt schon mit seinem schieren Anblick tyrannisiert. Allein dieser gelb-schwarz gestreifte Pulli von vorhin … Gib es endlich zu, wir machen das hier nur, weil es dir Freude bereitet, mich zu quälen.«
»Mädel, wenn du glaubst, es bereitet mir Freude, mich mit deinen Schneckenreaktionen herumzuplagen, dann hast du keine Ahnung, was das Wort Freude tatsächlich bedeutet. Es hat jedenfalls rein gar nichts mit Langeweile und Kopfschmerzen zu tun.«
Ich stemmte die Hände in die Hüften. »Kopfschmerzen? Woher willst du denn plötzlich Kopfschmerzen haben?«
»Die bekomme ich von deiner Jammerei.«
Ich hätte nicht fragen sollen, war ja klar.
»Seit wir vor einer gefühlten Ewigkeit mit dem Training begonnen haben, beschwerst du dich unentwegt, anstatt endlich einmal deinen Hintern in Bewegung zu setzen.«
»Na warte!«
Angetrieben von meiner verletzten Eitelkeit stürzte ich vor, um Sanders Kehlkopf einzudrücken, genau so, wie er es mir die ganze Zeit über beizubringen versuchte. Ich zog den Ablauf perfekt durch, ein schneller Schritt nach vorn, Hand zur Faust mit Daumen nach außen, gekrümmte Fingerknöchel vor, das Ziel fest im Blick – nur dass dort, wo eben noch mein Ziel gewesen war, gähnende Leere herrschte.
Sander war blitzschnell zur Seite getreten und versetzte mir einen Schlag aufs Hinterteil, sodass ich einige Schritte weiterstolperte.
»Der Schneckenvergleich hat es nicht richtig getroffen, Zeitlupe ist passender.«
Auf meinen Wangen, die ohnehin schon vor Anstrengung glühten, entfachte sich ein regelrechtes Feuer. Es war so erniedrigend, auf einem Gebiet herausgefordert zu werden, auf dem man von Anfang an auf verlorenem Boden stand. Sander lag die Kampfkunst im Blut, er hatte Wahnsinnsreaktionen und zeigte eine erstaunliche Kreativität, wenn es darum ging, seine Gegner mit Alltagsgegenständen auszuschalten. Einmal hatte er sogar einen besonders üblen Besucher, der direkt aus dem Mariannengraben entstiegen schien, mit einem Kugelschreiber erledigt. Wie sollte ich dagegen ankommen?
Mit erhobenem Kinn nahm ich die Ausgangsstellung ein, fest entschlossen, es ihm zu zeigen. Ich hatte mich angestrengt, von Anfang an, aber wenn das nicht reichte, würde ich eben noch eine Schippe drauflegen. Als Sander jedoch einen bedrohlichen Schritt auf mich zumachte, wich ich intuitiv zurück. Genau das, was er mir in den letzten Stunden hatte abgewöhnen wollen. Nicht zurückweichen, angreifen!
Sander stöhnte und schmiss seine Brille auf den Klamottenhaufen in der Ecke, um sich besser die Schläfen massieren zu können.
»Hey, die brauchst du doch«, wandte ich kleinlaut ein.
»Nicht bei dir.« Das war kein Spott, sondern pure Entmutigung, die aus ihm sprach. »Sieht danach aus, als wäre das Training keine so brillante Idee gewesen, vielleicht hören wir jetzt lieber auf.«
»Wie du meinst. Hören wir für heute auf … Oder mehr so generell?« Unsicherheit machte sich in mir breit. Ich hasste diese Übungen, aber noch mehr hasste ich es, Sander resigniert zu erleben, was nichts anderes bedeutete, als dass ich ein hoffnungsloser Fall war. Mit dieser Erkenntnis war ich plötzlich genauso wenig einverstanden wie mit dem abrupten Ende der Übungsstunde. »Komm schon, noch ein letzter Durchgang, ja? Und ich verspreche dir, dass ich es dieses Mal ernsthaft darauf anlege, dich zu verletzen.«
Mehr als ein Achselzucken hatte Sander nicht für meine Kehrtwende übrig. »Einverstanden. Aber mach schnell.«
Genau das habe ich vor, dachte ich und griff ihn an.
Dieses Mal klappte es, wobei schwer zu sagen war, ob es an meiner Entschlusskraft, an Sanders fehlender Brille oder schlicht daran lag, dass er immer noch resigniert herumstand, anstatt in Angriffshaltung zu gehen. Letztendlich war es gleichgültig, denn schon ein paar Sekunden später zählte einzig und allein, dass ich ihm einen kräftigen Schlag gegen sein rechtes Ohr verpasste. Um den Kehlkopf zu treffen, hatte es dann leider doch nicht gereicht.
Zuerst entging mir, wie er zurücktorkelte und dann in die Knie ging, weil meine Fingerknöchel ganz unerwartet schmerzten. In den Filmen schüttelte der Held nie seine Schlaghand aus und jammerte, er habe sich sämtliche Knochen gebrochen. In der Realität war das durchaus denkbar, so wie in meinem Fall. Erst danach bemerkte ich Sanders gekrümmten Rücken und die Art, wie er sich das Ohr hielt. Und selbst dann wog ich erst einmal ab, ob er mich hochnahm. Das war doch ein Ding der Unmöglichkeit, dass ausgerechnet ich, das Mädchen, für das Selbstverteidigung Flucht bedeutete, Superhelden-Sander wirklich und wahrhaftig getroffen hatte. Dann warf ich meine Vorsicht über Bord und hockte mich neben ihn auf den Boden.
»Tut es echt weh? Ist etwas kaputt gegangen? Glaub mir bitte, ich habe null damit gerechnet, dich zu erwischen. Ach, das tut mir so leid, wirklich sehr leid.«
Als ich erst einmal damit anfing, mich zu entschuldigen, konnte ich gar nicht wieder aufhören. In meinem ganzen Leben hatte ich niemandem je auch nur ein Haar gekrümmt, und jetzt litt der arme Sander möglicherweise unter einem Trommelfellriss und würde mit einem gestörten Gleichgewichtssinn leben müssen. Ungeachtet der Tatsache, dass ihm meine Berührungen normalerweise widerstrebten, schlang ich meinen Arm um seinen Rücken und streichelte über die Hand, mit der er sein Ohr bedeckte, als wolle er den Druck des Schlages ausgleichen.
In meiner Verzweiflung presste ich mein Gesicht gegen seinen Oberarm, um mein dummes Geplapper einzustellen. Erst jemanden verletzen und dann auch noch ein Drama veranstalten – das ging ja mal gar nicht.
Der vertraute Geruch unseres Waschmittels und Sanders weniger vertrauter Geruch stiegen mir in die Nase. So tief es ging, atmete ich ein und fragte mich, wann ich ihm das letzte Mal so nah gewesen war. Vermutlich als kleines Kind, als es noch zu unserem Alltag gehört hatte, einander Trost zu spenden. Damals hatte er noch nicht nach dieser Mischung aus Salz und frisch geschlagenem Holz gerochen.
»Nichts Schlimmes passiert«, murmelte Sander beruhigend in meine Sprechpause hinein. Wie zum Beweis senkte er die Hand.
»Da ist ja Blut!« Mir blieb fast das Herz stehen. Was hatte ich nur angerichtet in meinem Wahn, ihn von meinem Kampfgeist zu überzeugen?
»Höchstens ein paar Tropfen. Es steckte zwar ganz schön viel Power hinter deinem Schlag, aber du hast mich bloß gesteift. Oh Mann, dass hört sich an, als habe jemand in mein Ohr eine Muschel samt Meeresrauschen eingebaut. Witzig.«
»Lass die dummen Sprüche, ich habe dich verletzt. Möglicherweise sogar zum Krüppel geschlagen.«
Sander lachte, nur um im nächsten Moment das Gesicht schmerzvoll zu verziehen. Zwischen Wangenknochen und Ohr, wo meine Fingerknöchel ihn erwischt hatten, verfärbte sich die Haut dunkelrot. »Es hat auch einen Vorteil: Jetzt höre ich dich nur noch mit halber Lautstärke.«
Ich versetzte ihm einen Schlag aufs Schulterblatt, nur ganz leicht, denn sicher war sicher.
Sander sah mich ernsthaft verwundert an. »Hey, was hast du denn plötzlich? Du machst ein Gesicht, als hätte ich dir das Trommelfeld zerschlagen und nicht umgekehrt.«
»Kannst du dich daran erinnern, wie du als Kind von dieser Riesentanne im Park runtergesprungen bist, um deinen Mut zu beweisen, und dir dabei den Fußknöchel verstaucht hast? Ich habe dich den ganzen Weg zurück ins Haus gestützt, obwohl du schon damals einen Kopf größer gewesen bist als ich. Anschließend habe ich dir sogar einen kalten Wickel gemacht, so, wie ich es bei der ›Sendung mit der Maus‹ gesehen hatte.«
»Du hast Kirschjogurt auf eins von diesen Erbstücken aus Spitze gepappt«, sagte Sander lachend. »Jakob hat beinahe einen Herzinfarkt bekommen, zuerst weil er dachte, ich hätte einen offenen Bruch wegen dem ganzen Weiß und Rot, und dann wegen des Spitzenteils. Und als Älterer von uns beiden habe ich die ganze Schimpfe abbekommen, während du heulend daneben gestanden hast.«
»Ich war gerade erst sieben Jahre alt und Papa hat mir furchtbare Angst gemacht. Natürlich habe ich geheult, er ist schrecklich, wenn er wütend ist.«
In Sanders Augen zeigte sich unerwartete Ernsthaftigkeit, als er mich ansah. »Darum habe ich Jakob ja auch nicht verraten, dass es deine Idee mit dem Wickel gewesen ist, obwohl er dann vermutlich mit seiner Meckerei aufgehört hätte. Du bist halt sein kleines Mädchen.«
Die Resignation, mit der das sagte, setzte mir zu. Als habe er es schon vor langer Zeit akzeptiert, bei Jakob weit abgeschlagen in der zweiten Reihe zu stehen. Und dabei musste ich schon um Papas Aufmerksamkeit kämpfen. »Du bist ihm auch wichtig«, versuchte ich mit größtmöglicher Überzeugung vorzubringen.
»Ich bin für Jakob wichtig, weil Tiamats Bewachung für ihn wichtig ist. Ansonsten verbindet uns beide nichts.«
»Wie kannst du das sagen? Schließlich hat er dich damals ohne Zögern aufgenommen.«
»Ja, als Torwächter, aber nicht als seinen Sohn. Du bist alt genug, um den Unterschied zu erkennen, Anouk. Aber in Wahrheit hast du das doch auch schon längst. Warum sonst hast du niemals einen Bruder in mir gesehen?«
Der Widerspruch lag mir auf der Zunge, doch ich schluckte ihn runter. Eine Lüge hätte uns beiden nicht weitergeholfen. »Du warst immer schon anders«, gestand ich stattdessen ein.
Als Sanders Rückenmuskeln sich unter meinem Arm bewegten, dachte ich, er würde mit den Schultern zucken, um seine Gleichgültigkeit zu demonstrieren. Dann begriff ich, dass ihm meine Umarmung unangenehm wurde, und ich zog mich zurück. Sander nutzte die Gelegenheit und rückte ein Stück von mir ab. Auch ansehen mochte er mich offenbar nicht länger, denn sein Blick schweifte durch die Bibliothek, von der bloß noch die deckenhohen Regalreihen und die Bücherstapel auf der Balustrade an ihre ursprüngliche Verwendung erinnerten. Ansonsten war alles auf Sanders Training zugeschnitten.
»Es ist sowieso ein Wunder, dass uns die Leute diese affige Geschwisternummer abnehmen.« Sander tastete unbewusst sein verletztes Ohr ab. »Während meiner Schulzeit wusste ich nie, ob ich darüber lachen oder den Kopf schütteln sollte. Du und ich – wir könnten gar nicht verschiedener sein. Allein vom Äußeren her sind wir wie Tag und Nacht. Offenbar sehen die Leute nur das, was sie sehen wollen. Nicht wahr, Anouk? Darin bist du doch auch nicht schlecht.«
Ich verstand die Anspielung nicht. »Das ist Unsinn, ich verschließe meine Augen nicht vor der Wahrheit. Ich weiß, wer du bist.«
Sander stand auf und machte ein paar Schritte, wie um seinen Gleichgewichtssinn zu prüfen. Dann ging er zu dem Regal, in dem er seine Stöcke und andere Dinge, mit denen er trainierte, lagerte. Anstatt jedoch eine der Waffen aufzunehmen, stand er regungslos da.
»Woher willst du etwas über mich wissen, was ich nicht einmal selbst weiß?«
Seine Frage umkreiste mich, während ich unfähig war, sie an mich heranzulassen. Mein Mund schnappte auf, ohne dass ich einen Laut von mir gab, und meine Hände strichen, entgegen meinem Willen, die Trainingshose glatt, nachdem ich aufgestanden war. Als Sander mit einem langen Stab zu trainieren begann und mich ignorierte, trat ich den Rückzug an. Bei der Tür blieb ich allerdings noch einmal stehen und warf ihm einen Blick zu. Er hatte recht, ich wusste wirklich nicht, wer dieser Junge war, der dort selbstverloren die sorgsam einstudierten Bewegungsabläufe durchspielte, als seien sie eine Form der Meditation und nicht darauf ausgerichtet, die Welt – oder zumindest unsere Kleinstadt – in den Angeln zu halten.