6. Bunte Kaninchen und andere Ärgernisse
Laboe parkte ihren klapprigen Fiat Punto wie gewohnt in der Seitenstraße vor unserem Haus. Einen Moment lang saßen wir schweigend nebeneinander und hörten den Song zu Ende, dann stupste sie gegen meinen Arm.
»Einen selbst gemachten Bitterorangenbollo von meiner Grandmama für deine Gedanken.«
»Zwei Bitterorangenbollos.«
Laboe grinste breit und zeigte ihre wunderbar weißen Zähne. »So gierig heute?«
»Wenn es um Süßigkeiten made by Grandmama geht, immer.«
›Grandmama‹ war der Kosename für ihre Oma und stammte noch aus Laboes Kindertagen, als sie kurzerhand die Worte ›Grandmère‹ und ›Großmama‹ zusammengezwirbelt hatte. Passte ja auch wunderbar zu der französischen Dame, deren Enkelkinder in Deutschland aufwuchsen.
Umständlich wickelte ich den Bonbon aus dem Papier und betrachtete ihn einen Moment lang. Ich liebte Grandmamas handgemachte Bonbons, die aussahen wie ungeschliffene Edelsteine und die wie nichts anderes auf der Welt schmeckten. Dieser hier mochte ›Bitterorange‹ heißen, aber die herbe Note war viel komplexer und hinterließ ein Prickeln auf meiner Zunge, bei dem ich meine Sorgen und Erschöpfung vergaß.
Laboe hingegen leider nicht. »Nun komm schon, Anouk, lass dich nicht so lange bitten, dir liegt doch was auf der Seele. Und komm ja nicht auf die Idee, mir eine billige Ausrede anzudrehen, dafür kenne ich dich zu gut.«
Trotz ihrer Drängelei strich ich in Ruhe das Stanniolpapier glatt und sortierte in Gedanken, was ich ihr erzählen durfte und was nicht. Von meinen Freunden war Laboe die Einzige, die eine Ahnung hatte, dass es in Himmelshoch tatsächlich nicht mit rechten Dingen zuging. Normalerweise war es Sander und mir aufs Strengste verboten, Freunde mit nach Hause zu bringen – aus gutem Grund, wie ich zugeben musste. Nicht bloß, weil es schwierig war, unser verzaubertes Panoramafenster zu erklären oder warum die Ballerinafigur aus Porzellan eine Pirouette im Schneckentempo drehte und dabei verflixt echt aussah, sondern weil es wegen der Besucher eben durchaus gefährlich werden konnte. Einmal davon abgesehen, dass eine der wichtigsten Wächterregeln besagte, jeden, der nicht zum Zirkel gehörte, vom Tor fernzuhalten.
An und für sich war es kein Problem, diese Regel einzuhalten, weil die meisten meiner Freunde das verwitterte Herrenhaus am Ende der Efeugasse ohnehin mieden. Die Einwohner von Marienfall kannten Schauergeschichten über Himmelshoch, die seit Generationen erzählt wurden – und bei denen mich stets der Verdacht überkam, dass die Wächter sie absichtlich gesät hatten, um die Leute fernzuhalten. Ein einfacher, aber nichtsdestotrotz effektiver Trick. Davon einmal abgesehen war den meisten das Herrenhaus schlicht zu düster.
Betrachtete man die Vorderseite unseres Hauses, leuchtete mir das auch durchaus ein. Hinter einer mannshohen Steinmauer ragte das Bauwerk drei Stockwerke hoch, wobei es eher schmal als breit war und einen schiefen Eindruck machte. Ein Teil der Front war mit rohen und unregelmäßigen Steinplatten verputzt, sodass es aussah, als hätte sich das Haus mit eigener Kraft aus dem Boden gestemmt. Das Dach lief spitz zu, und seine Schindeln waren im Laufe der Jahre an den Stellen schwarz angelaufen, wo kein Moos wuchs. Auf der Zinne saß ein Wetterkreuz, ein Fanfare pustender Engel, den man allerdings nur sah, wenn man den Kopf in den Nacken legte. Nur auf diese Weise konnte man das Herrenhaus von der Straße aus in seiner ganzen Pracht betrachten und vermutlich hatte es daher auch seinen Namen, der über der Eingangstür in Stein gemeißelt stand.
HIMMELSHOCH.
Sander hingegen meinte, das Haus würde so heißen, weil man lieber in den Himmel schaue anstatt auf das Bauwerk. Dem stimmte ich überhaupt nicht zu, obwohl das Herrenhaus unbestreitbar eine finstere Seite hatte. Aber nur von vorne! Es gab noch eine Menge anderer Facetten, und genau das machte das Bauwerk in meinen Augen so anziehend. Sein Erbauer hatte nicht bloß etwas Beeindruckendes, Schönes oder bloß Nützliches schaffen wollen, sondern vielmehr etwas, das sich nicht mit einem schlichten Wort beschreiben ließ. Himmelshoch war eine Burg, ein Gruselschloss, ein mürber Steinhaufen, ein Kerker und ein Zuhause zugleich. Leider stand ich mit meiner Meinung ziemlich allein da.
Wie gesagt mieden die Marienfaller Himmelshoch nach Kräften. Nur meine liebe Freundin Laboe ließ sich weder von dunklen Gemäuern noch von der Tatsache abhalten, nicht eingeladen zu sein. Dermaßen unbelastet, war sie eines Tages in unserem Garten aufgetaucht. Und da sie dort niemanden antraf, spazierte sie einfach durch die offene Terrassentür hinein. Als ich sie fand, machte sie gerade die Bekanntschaft der Chaiselounge im Musikzimmer, deren Bezug nicht bloß wie knallorange Knete aussah, sondern seit einigen Wochen tatsächlich daraus bestand. Aus Superknete nämlich. Ich hatte Sander zu Hilfe holen müssen, um Laboes Allerwertesten von der Chaiselounge, in der er langsam, aber sicher versank, zu befreien. Zu meiner Erleichterung hatte sie dieses Erlebnis mit Fassung getragen, obwohl ihre Lieblingsjeans danach auf dem Sondermüll gelandet war. Als Enkelin einer Dame, die dem Übernatürlichen stark zugetan war, ging sie sowieso nicht davon aus, dass die Welt streng nach den Naturgesetzen funktionierte. Danach war alles Leugnen sinnlos gewesen, und gemeinsam mit Sander hatte ich Laboe in das Geheimnis von Himmelshoch eingeweiht. Jedenfalls im Groben, sodass ich nun aufpassen musste, nichts Falsches zu sagen. Tiamats Geschichte und die Tatsache, dass es nur ein Tor von vielen war, behielten wir genauso für uns, wie wir den Wächterzirkel verschwiegen. Für Laboe wohnten wir somit in einem hochspannenden Haus, in dem hochspannende Dinge passierten. Nichts war wirklich gefährlich, weil Super-Sander ja alles 1a unter Kontrolle hatte. Zumindest fast immer.
»Gestern gab es einen Überraschungsbesuch aus den Katakomben, der so überraschend war, dass wir ihn erst bemerkten, als er sich bereits auf dem Dachboden häuslich eingerichtet hatte«, erstattete ich Bericht. »Prompt hat Sander wieder die alte Diskussion auf den Tisch gebracht, ob es nicht besser für mich wäre, ein Internat zu besuchen. Letztendlich hat er Papa zwar nichts von den Vorfall verraten, aber es ist nur eine Frage der Zeit, bis der von allein auf dieses Thema zu sprechen kommt. In den letzten Monaten ist die Anzahl der Besuche stetig gestiegen, ohne dass Papa und Sander den Grund dafür ausmachen können. Anstatt einen Weg zu finden, Tiamat zu schließen, verlieren sie mehr und mehr die Kontrolle. Du kannst dir bestimmt vorstellen, wie gereizt die beiden deshalb sind. Die nächste meerblaue Nacktschnecke auf der Kellertreppe bedeutet ohne Zweifel, dass ich im Zug in Richtung Internat sitze.«
Laboe zupfte an ihrer Unterlippe. »Vielleicht wäre es das Beste.«
In meiner Empörung war ich schneller aus dem Wagen raus, als Laboe blinzeln konnte. Ich erreichte bereits das mannshohe Schmiedetor von Himmelshoch, als sie zu mir aufschloss.
»Nun sei nicht gleich beleidigt.« Im Gegensatz zu mir war Laboe nicht einmal ansatzweise außer Atem. Wie kam das bloß, dass alle um mich herum fitter waren, obwohl Sander mich an zwei Tagen die Woche durch die Hölle jagte? »Damit wollte ich überhaupt nicht sagen, dass du ins Internat gehen sollst, sondern dass es in Himmelshoch langsam echt gefährlich wird. Schließlich ist es denkbar, dass dich so ein Besucher das nächste Mal einsloggt und als Britney-Spears-Kopie wieder ausspuckt. Das wäre dann echt gruselig.«
Wir grinsten uns an, Laboe aus tiefstem Herzen, ich nur aufgesetzt. Im Gegensatz zu ihr wusste ich schließlich, dass die Besucher alles andere als Glibberwesen waren, die sich problemlos von Sander ausschalten ließen. Vielmehr wuchsen ihnen erschreckend oft zentimeterlange Stacheln oder mehrere Reihen Haifischzähne. Diesen Aspekt hatten Sander und ich allerdings verschwiegen, ansonsten hätte Laboe vermutlich darauf bestanden, dass Himmelshoch vom Militär dem Erdboden gleichgemacht wird und ihre Grandmama anschließend Grund und Boden mit einem Voodoozauber reinigt. Aus ihrer Perspektive wäre das ja auch richtig gewesen, aber nur weil sie keine Ahnung hatte, wozu Sander als Wächter tatsächlich imstande war und dass Tiamat zwar bewacht werden musste, jedoch auf keinen Fall zerstört werden konnte.
Unter Einsatz meines Körpergewichts gelang es mir, die knarrende Eingangstür des Hauses aufzustemmen, hinter der die halbrunde Empfangshalle lag. Ein wahres Kleinod mit Marmorboden.
Laboe drehte eine Pirouette und sank dann theatralisch gegen das Treppengeländer aus poliertem Mahagoni. »Wie geschaffen für kleine Mädchen, um ›Die Schöne und das Biest‹ nachzuspielen. Diese geschwungene Treppe macht mich echt fertig. Die ist so voll Hollywood, weißt du?«
Ich dachte beim Anblick der Treppe unangenehmerweise daran, wie ich sie am Tag zuvor auf meinem Hosenboden heruntergerutscht war, nachdem mir meine Knie vor Angst den Dienst quittiert hatten – aber das behielt ich selbstredend für mich.
»Ja, es ist ein ziemlicher Programmwechsel. Draußen denkt man: Was für ein Spukschloss. Und sobald man durch die Tür ist, findet man sich in einem Märchen oder, besser noch, in einem Roman von Jane Austen wieder. Genau das gefällt mir, dass Außen und Innen zwei vollkommen verschiedene Angelegenheiten sind.« Ich hielt inne. »Das muss ich mir merken, das ist eine wichtige Regel.«
In diesem Moment kam Lutz um die Ecke gewatschelt und begrüßte uns mit einer Extraladung Sabber. Nachdem das erledigt war, verschwand er in die Küche. Was für ein kluger Hund, er wusste genau, wo dieser Mädchennachmittag enden würde, nämlich am Küchentisch mit lauter leckeren Sachen drauf. Und wenn es erst einmal so weit war, war Master Lutz zur Stelle.
»Dein Pa ist auf der Arbeit?«, vergewisserte sich Laboe. Es war schwierig zu sagen, wem von uns beiden die Vorstellung, plötzlich von Jakob überrascht zu werden, mehr zusetzte. Sogar meine durch und durch selbstbewusste Freundin zog in Gegenwart meines Vaters den Kopf ein.
»Sicher doch. Hast du den geschmacklosen Plastikkürbis bemerkt, der im Vorgarten steht? Wenn Papa unerwartet auftaucht, dreht Sander ihn um, sodass man sein Grinsen nicht länger sehen kann, nach dem Motto ›Du hast jetzt nix mehr zu lachen‹. Na, und heute hat der Kürbis gegrinst.«
»Tolle Idee, ein klassischer Sander, würde ich meinen. Wo steckt das bunte Kaninchen eigentlich?«, fragte Laboe, während sie mit dem Ärmel einen Sabberfaden von ihrer Schlaghose wischte.
»Sander? Der hockt bestimmt unten in seinem Bau, paukt für die theoretische Physikprüfung oder sieht der Zeit beim Verrinnen zu, während er als Endlosschleife seine vergötterten Black Keys hört. Von der Mucke bekomme ich langsam aber sicher Pickel.«
Solange mein Vater nicht von der Arbeit zurück war, war Sander im Haus, für den Fall, dass es Besuch gab. Da Jakob am Tag mit seiner Arbeit als Banker verheiratet war, bedeutete das im Klartext, dass Sander nicht mehr als ein paar Stunden Freiheit in der Nacht zur Verfügung standen. Eigentlich sollte er mir deshalb leid tun, aber ich hatte auf dem Schulhof Gerüchte darüber gehört, auf welche Weise er seinen Ausgang zu verbringen pflegte. ›S‹ stand nach Meinung einiger chronischer Partygänger nicht nur für Sander, sondern auch für ›sensationell‹, und bei einigen älteren Mädchen für ›saugut‹. Meine Theorie dazu lautete, dass er ohne Brille auf der Nase weder wusste, wo er sich gerade aufhielt, was er trank und erst recht nicht, mit wem er sich abgab. Wie auch immer, das ging mich nichts an. Sein Leben.
»Für Sander gilt die Außen-und-Innen-Regel übrigens nicht«, rutschte es mir trotzdem heraus. »Bei dem ist Innen genauso durchgeknallt wie Außen.«
»Im Gegensatz zu dir, die sowohl vom Outfit als auch von ihrer Seele her ein Engelchen ist.«
Laboe zupfte an meinem cremefarbenen Flatteroberteil, mit dem meine Mutter einst ihren Schwangerschaftsbauch kaschiert hatte. Die Hälfte meines Kleiderschranks bestand aus Madelins zurückgebliebener Garderobe, lauter Sachen, die genauso besonders waren wie alles, was meine Mutter zurückgelassen hatte. Nur ertrug mein Vater nach all den Jahren immer noch nicht den Anblick, weshalb ich meist darauf verzichtete, die Stücke zu tragen.
»Es ist wirklich kaum zu glauben, dass Sander und du Geschwister seid«, fuhr Laboe fort. »Noch unähnlicher könntet ihr euch gar nicht sein. Der große, schwarzhaarige Sander mit seinen scharfen Gesichtszügen und die goldige Anouk, deren Rehkitzaugen glatt Bambi die Show stehlen.« Meine Freundin grinste mich verschwörerisch an. »Gib endlich zu, dass ein Besucher deinen Bruder als kleinen Jungen verwandelt hat, vor allem seinen Geschmackssinn. Leugnen ist sinnlos.«
Ich zog eine Grimasse, nicht nur weil der Gedanke an Sanders Outfits grausam war, sondern auch weil ich das Geschwisterthema unangenehm fand. »Die Dinge sind selten so, wie sie auf den ersten Blick scheinen«, wich ich deshalb aus.
»Fürs Leben lernen mit Anouk Parson. Du willst jetzt doch wohl nicht philosophisch werden? Ich hatte gerade eine Doppelstunde Kunst-LK, zu deren Ende hin Moritz einen seiner Anfälle gekriegt und einen Endlosmonolog darüber gehalten hat, dass nichts einen Sinn macht, nicht einmal der Surrealismus in seiner Blütephase. Ich bin immer noch ganz betroffen.« Was wie ein lockerer Spruch klingen sollte, verriet in Wirklichkeit, was Laboe umtrieb.
Ich nickte verständnisvoll. »Ich mache mir auch Sorgen um Moritz. Solange er allerdings abblockt oder eruptiv aus ihm hervorbrechende Ansprachen hält, kann man da nur wenig tun. Außer zu ihm stehen und für ihn da sein.«
»Aber wir sind nicht immer da.«
Das stimmte natürlich. Darüber hatte ich mir auch schon den Kopf zerbrochen, ohne eine Lösung zu finden. In meinem umfangreichen »Vom Leben fürs Leben lernen«-Weisheiten-Schatz befand sich leider keine Anleitung, wie man mit einem schwermütigen Siebzehnjährigen umging, dessen einziger Trost im Cellospiel bestand. Wenn es wenigstens einen erkenntlichen Auslöser für Moritz’ Verzweiflung gegeben hätte, wie Soziopatheneltern, ein tragischer Verlust oder eine unerfüllte Liebe, hätte es wenigstens einen Hebel zum Ansetzen gegeben. Den gab es jedoch nicht, Moritz litt schlicht und ergreifend am Dasein. Mein Vater machte dafür gewisse Hormone verantwortlich, als wären wir Jugendlichen nicht mehr als ein Chemiebaukasten, dessen Inhalt durcheinandergeraten war.
»Möchtest du was essen?« Der Gedanke an Essen würde Laboe hoffentlich aufmuntern, außerdem war die Küche einer der wenigen unveränderten Räume in diesem Haus. Offenbar mochten die Besucher die Nähe des Ofens nicht. Ganz im Gegensatz zu mir, Essen war eins meiner Lieblingshobbys.
Wie erwartet nickte Laboe. »Ehrlich gesagt stehe ich kurz davor, vor Hunger aus den Latschen zu kippen. Dieser Reis-mit-Scheiß, den sie uns heute in der Schulmensa vorgesetzt haben, war doch bestenfalls Schweinefutter. Das wird echt immer übler, wir sollten eine Initiative für menschenwürdiges Essen ins Leben rufen.«
»Dann würde ich Spaghetti Arrabiata vorschlagen, und zwar so scharf, dass sie alles wegbrennt, was noch vom Mensaessen in dir steckt.«
Laboe verbeugte sich tief vor mir, wobei ihr handlanges Haar auf und ab wippte. Ihr krisseliger Schopf stand immer zu Berge, als habe sie in eine Steckdose gefasst, und ließ sich nur von extrabreiten Bandanas zähmen. »Deshalb bin ich deine Busenfreundin, du weißt einfach, was ich brauche, und gibst es mir.«
»Liebend gern, solange es ums Essen geht.«
»Alles andere wäre auch gar nicht möglich, wie du weißt. Schließlich habe ich mein Herz unwiederbringlich an Jennifer Lawrence verloren.«
Nun war es an mir, ein wenig zu schauspielern. Ich schlug meine Hände voller Verzweiflung vor die Brust. »Dass du mir dein Fremdlieben auch immer so herzlos unter die Nase reiben musst! Gut, dann bleibe ich halt meinen ›Lucas‹-Träumen treu. Jungen, die es nur in Kevin-Brooks-Büchern gibt, können sich meiner Zuneigung wenigstens nicht entziehen. Das hast du jetzt davon, du untreue Seele.«
Diese Fopperei zwischen uns war wohl einstudiert und diente zur gegenseitigen Vergewisserung, dass es zwischen uns nur Freundschaft gab. Von meiner Seite aus bestand daran eh kein Zweifel, aber Laboe fühlte sich offenbar sicherer, wenn sie mir gelegentlich durch die Blume sagte, dass sie wirklich und wahrhaftig nicht auf diese spezielle Art an mir interessiert war. Dabei wusste ich das auch so.
Den Nachmittag verbrachten wir plaudernd und Spaghetti essend in der Küche, wobei Lutz sich unterm Tisch als Fußwärmer anbot, solange gelegentlich Nudeln und Parmesanbrocken ihren Weg nach unten fanden. Laboe sprach viel über das ›Feste Feiern‹-Projekt, ein Kinderfest, das vom hiesigen Musikzentrum ausgerichtet wurde. Eigentlich war sie der Typ, der gern abhing, aber wenn sie sich für etwas begeisterte, konnte sie sich richtig ins Zeug legen. Vermutlich gab es dieses Fest nur, weil sie nicht locker gelassen hatte, bis die Stadt und Sponsoren endlich ihre Taschen geöffnet hatten. Mittlerweile stand die Veranstaltung als solche, und nun ging es darum, sie mit Leben zu füllen. Jetzt waren Laboes Freunde und Bekannte dran, jedem wurde eine Rolle in dem Spektakel zugedacht und mir als ihrer engsten Freundin eine der Größten: Ich war die Marketingspezialistin. In diesem Fall war es jedoch ganz leicht, sich etwas einfallen zu lassen, denn das Motto lautete »Der kleine Drache Kokosnuss haut auf die Pauke«.
Gerade als wir überlegten, ob es möglich wäre, aus Pappmaschee und mit viel gutem Willen einen knallroten Kokosnuss samt Stachelschwein Matilda zu bauen, die dann auf dem Marktplatz Werbung für das Fest machen würden, schlurfte Sander in die Küche. In der Hand hielt er eine verbeulte Kaffeekanne, die man zum Warmhalten auf den Ofen stellte. Bestimmt schmeckte die abgestandene Brühe scheußlich, aber Sander war faul und holte nur alle paar Stunden Nachschub. Dermaßen k.o., wie er heute aussah, hatte er den dringend nötig. Dabei war er ein dunkelhäutiger Typ, der selbst im Winter den Eindruck machte, gerade von einem Sonnenscheinurlaub am Meer zurückgekehrt zu sein. Jetzt lag jedoch ein grauer Schleier über dem Bronzeton und Schatten trübten seine ansonsten lebendig grünen Augen ein.
»Das muss ja eine sensationell kurze Nacht gewesen sein«, begrüßte ich ihn.
Sander zuckte bloß mit den Schultern, dann warf er Laboe einen Blick zu. »Hallo … Mädchen.«
Das war ja mal wieder typisch. »Wo ist deine Brille?«
Automatisch fasste Sander sich ins Haar, doch da steckte die Brille nicht. Er betastete den Ausschnitt seines gelb-schwarz gestreiften Pullis, aber dort war sie auch nicht. Ratlosigkeit breitete sich in seinem Gesicht aus.
»Du hast sie in der Tasche von deiner Jogginghose eingehakt«, half ich ihm auf die Sprünge.
Umständlich schob er das Gestell auf seine Nase. »Sieh an, Frau Laboe. Und ich dachte, die miese Beleuchtung sei daran schuld, dass dein Gesicht schwarz aussieht.«
»Scharfe Hose«, konterte Laboe. »Hätte nicht geglaubt, dass Adidas sich traut, etwas in einem derartig schrillen Lila zu produzieren. Bestimmt ein Unikat.«
Sander sah verblüfft an sich herab. »Das ist Lila?«
Erfahrungsgemäß konnte das Geplänkel zwischen den beiden Ewigkeiten so weitergehen, sie hatten sich nämlich stets viel zu sagen, lauter fies verpackte Nettigkeiten. Im Stillen hegte ich den Verdacht, dass, wenn Laboe nicht Mädels bevorzugen würde, die beiden längst ein Paar wären. Denn während mich Sanders Art bis zur Weißglut reizte, war es für Laboe ein Riesenspaß, sich mit ihm einen Schlagabtausch zu liefern. »Wenn Sander seine Sprüche klopft, zeigt er dir damit, dass er dich mag. Ansonsten würde er dich einfach ignorieren. Also nimm es als Kompliment, wenn er behauptet, du wärst die größte Nervensäge auf Gottes schöner Welt. Damit bringt er zum Ausdruck, dass er sein Schwesterherz lieb hat«, hatte Laboe mir einmal erklärt, als ich mich über seine Sticheleien beschwerte. Seitdem behielt ich es lieber für mich, wenn er mir wieder einmal eins seiner angeblichen Komplimente an den Kopf geworfen hatte.
»Der Kaffee auf dem Herd ist frisch gekocht, den kannst du dir gern nehmen, wenn du dafür rasch wieder in dein Kellerloch verschwindest«, schlug ich Sander vor, doch der schüttelte den Kopf.
»Deswegen bin ich nicht hochgekommen, sondern wegen dir. Sag deiner Freundin Auf Wiedersehen, wir beide haben nämlich eine Verabredung.«
Mein Kiefer sackte nach unten. »Wir? Eine Verabredung? Auf keinen Fall. Du fantasierst wohl.«
Sander nahm seine Brille ab und kratzte sich mit dem Bügel hinterm Ohr. Bei jedem anderen hätte diese Geste verlegen ausgesehen, aber eine Reaktion wie Verlegenheit existierte in Sanders persönlichem Universum nicht. »Training«, erklärte er schlicht.
Zweimal die Woche, wenn Papa die Nachmittage von zu Hause aus arbeitete, jagte Sander meine müden Knochen durch die Straßen von Marienfall und zwang mich, Klimmzüge und Ähnliches zu machen, damit ich im Fall eines Zusammenstoßes mit einem Besucher dazu in der Lage war, schleunigst die Flucht anzutreten. Diese Trainingseinheiten waren die reinste Qual, denn ich war alles andere als eine Sportskanone, und Sander kostete die Chance, mich zu schikanieren, voll aus. Zumindest glaubte ich das. Warum sonst zog er die Stunden penibel durch, obwohl er normalerweise zusah, möglichst wenig mit mir zu tun zu haben?
»Wir haben heute Donnerstag, du Nase. Da steht kein Training auf dem Plan.«
»Ach ja. Den Deal habe ich dir ja noch gar nicht erklärt«, brummte er, während er sich an den Tisch setzte und sich meinen Teller mit der restlichen Pasta vornahm.
»Deal?« Ein ungutes Gefühl breitete sich in meiner Magengegend aus.
Laboe lehnte sich im Stuhl zurück und schien die Show zu genießen. Wir zwei Parsons waren ihrer Meinung nach ein spitzenmäßiges Unterhaltungsprogramm. Wie ›Dick und Doof‹ etwa. Leider hatte sie viel zu selten die Gelegenheit, den ›Mini-und-Blindschleiche‹-Vorführungen beizuwohnen, wie sie nicht müde wurde zu betonen.
»Den Deal natürlich, damit ich Jakob nichts von deinem missglückten Rendezvous mit dem Besucher erzähle«, sagte Sander ungerührt. »Dafür erklärst du dich bereit, zwei Trainingseinheiten mehr pro Woche zu absolvieren. Und weil der Herr Papa davon nichts mitbekommen darf, werden wir es im Haus tun, während er seine Lebenszeit in seiner heiß geliebten Bank verschwendet, nur weil sie ihn dort mit Zahlen herumspielen lassen. Passt eh zu dem Programm, das ich mir überlegt habe. Deine Haltung, dich lieber auffressen zu lassen, als dich zu wehren, hat mich drauf gebracht. Da die Besucher immer öfter vorbeischauen und du unbedingt in Himmelshoch bleiben willst, wirst du halt lernen müssen, dich zu verteidigen.«
Das war ja wohl kaum sein Ernst! Es gab viele Dinge, in denen ich okay bis gut war. Allerdings hatte kein einziges davon auch nur das Geringste mit Sport, geschweige denn mit Kampfsport zu tun, weswegen ich im Zweifelsfall für Wegrennen war.
»Vergiss es, ich lasse mich auf keinen Fall als lebender Sandsack missbrauchen. Du willst ja nur deinen Spaß mit mir haben.«
Sander verzog verächtlich das Gesicht. »Mit dir? Immer.«
Es gab Szenenapplaus von Laboe. »Einfach nur großartig. Wollt ihr gleich mit dem Training anfangen? Fände ich super. Ich verkrümele mich auf die Balustrade der Bibliothek, damit ich nicht im Weg bin, wenn ihr euch gegenseitig durch den Raum werft. Aber tu Anouk nicht weh, ja? Sie ist von Natur aus ja eher der unsportliche Typ, ungelenkig, eben nicht so körperlich. Ihre Kleinwüchsigkeit könnte man dagegen als Vorteil sehen, sie kann einfach unter ihrem Angreifer durchrennen.«
Meine beste Freundin. Wie schön, dass es sie gab. »Es ist wirklich zu schade, dass du jetzt gehen musst, Laboe.«
»Muss ich doch noch gar nicht.«
»Doch, musst du. Und zwar sofort.«
Offenbar kannte sie mich gut genug, um zu wissen, wann der Spaß vorbei war. Mit einem dicken Grinsen schnappte sie sich ihre Tasche, tätschelte Lutz den breiten Schädel und verabschiedete sich. »Mach’s gut, Sander. Und du auch, meine Süße, wir sehen uns morgen in Chemie, dann kannst du mir deine blauen Flecken zeigen. Und falls Sander zu grob wird, beiß ihn. Ich habe gehört, das mag er.«
Ehe ich zu einer passenden Erwiderung ansetzen konnte, war Laboe auch schon zur Tür hinaus.
»Und du willst das jetzt wirklich durchziehen?« Ich konnte schlicht nicht glauben, was Sander sich in den Kopf gesetzt hatte.
»Gnadenlos«, sagte er und deutete in Richtung der Bibliothek, die er noch am Tag unseres Einzugs in ein Trainingszimmer verwandelt hatte.
Ergeben ließ ich den Kopf hängen und folgte ihm.