17. Freier Fall

Wie lange ich inmitten der Blumenranken stand und darum kämpfte, nicht in Tränen auszubrechen, wusste ich nicht. Ich fühlte mich nackt, wund und verlassen. Meine Empfindungen waren derartig überbordend, dass ich von der Außenwelt wie abgetrennt war. Ich erkannte mich kaum wieder in diesem durch und durch erschütterten Mädchen, in dem ein Sturm tobte, der es in einen Abgrund zu reißen drohte. Kein Schutzmechanismus, kein Verdrängen nützte, alles, was mich in diesem Moment ausmachte, war mein Kummer. Ich begriff ihn nicht, konnte nicht erklären, warum er mit solcher Brutalität über mich gekommen war, aber ich wusste, dass das einzige Heilmittel in dem Jungen bestand, der dieses ganze schreckliche Durcheinander verursacht hatte.

Der Kuss … Für Sander war er ein Fehler gewesen.

Vorsichtig betastete ich meine Lippen, die sich ungewöhnlich empfindsam anfühlten. Fast glaubte ich, Sander zu schmecken. Wenn ich die Augen schloss, dann war er wieder da. Dabei hatte er mir nur allzu klar gesagt, dass er mir nie wieder so nahe kommen würde.

Ich sackte vornüber, unterdrückte einen Schrei und presste meine Augen so fest zu, bis vor Schmerz weiße Funken aufflogen.

Sander hatte versprochen, dass er mich niemals wieder küssen würde.

Nie wieder.

Ich hielt den Gedanken kaum aus, dabei hatte ich mir bislang selbst in meinen kühnsten Träumen nicht vorgestellt, dass er mich überhaupt anziehend fand.

Wer bin ich in der ganzen Zeit für ihn gewesen, während ich dachte, er fände mich bestenfalls überflüssig?

Bislang hatte ich jeden Gedanken, der auch nur ansatzweise in Richtung einer gemeinsamen Liebesgeschichte ging, sofort im Keim erstickt. Viel mehr noch hatte ich mir unablässig eingeredet, dass zwischen uns höchstens gegenseitige Akzeptanz vorherrschte, wie Hund und Katze, die notgedrungen zusammen in einem Haus leben müssen. Sander war zwar nicht mein Bruder, aber genauso unerreichbar. Allein die Distanz, die er im Lauf der letzten Jahre stetig zwischen uns aufgebaut hatte, hatte mir unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass er auf meine Zuneigung keinerlei Wert legte. Nur war das, was gerade zwischen uns passiert war, deutlich mehr als Zuneigung gewesen. Ich hatte seinen Hunger gespürt, hatte wahrgenommen wie seine Zärtlichkeit leidenschaftlicher geworden war, wie er seine Zurückhaltung verloren und fast dem Verlangen nachgegeben hatte, sämtliche Gräben zwischen uns bis zum Letzten zu überwinden. Trotzdem hatte er sich von mir abgewandt und mich meiner Verwirrung überlassen.

Zu meiner Verzweiflung gesellte sich Wut.

Wie konnte er mir das antun?

Wenn er wirklich etwas für mich empfand, dann durfte er mich nicht allein lassen, ich hielt es nicht aus, nicht jetzt.

Ohne weiter darüber nachzudenken, stürmte ich die Treppen hinab bis in den Keller, dessen unheilvolle Ausstrahlung mir zum ersten Mal gleichgültig war. Vor Sanders Tür verharrte ich kurz, dank des jahrelangen Drills, mich von ihr fernzuhalten. Lonely Boy von den Black Keys dröhnte mir ohrenbetäubend laut entgegen. Empörung stieg in mir auf. Mich auf Abstand halten – das war stets seine Taktik gewesen, aber davon wollte ich mich jetzt nicht einschüchtern lassen. Er hatte die Regeln lang genug vorgegeben!

Ich verzichtete aufs Anklopfen, riss stattdessen die Tür auf, trat ein … Und erstarrte. Vor lauter Verwunderung vergaß ich glatt den Wutausbruch, mit dem ich jeglichen Protest von seiner Seite aus gleich im Keim hatte ersticken wollen.

Während ich in den Raum stolperte, wurde mir klar, wie lange ich schon nicht mehr in diesem Zimmer gewesen war. Wirklich lange. Damals war es das Reich eines Jungen gewesen, der Dreck und Chaos für die ideale Umgebung hielt. In diesem halben Erdloch hatte es aus Prinzip muffig gerochen, vor allem wegen der mit Schimmelpilz überzogenen Essensteller. Die Wände waren mit Heavy-Metal-Postern und Comichelden tapeziert gewesen, und überall, wirklich überall, hatten sich in dem kleinen Raum Klamotten und Bücher getürmt, denn einen Schrank hatte es genauso wenig gegeben wie ein Regal, lediglich eine Matratze, die auf dem blanken Steinboden lag. Alles, was Sander sein Eigen nannte, war kreuz und quer verstreut herumgeflogen. Es war mir ein Rätsel gewesen, wie man so hausen konnte – und das nicht nur, weil ich einen Hang zur Ordentlichkeit hatte. Vermutlich hatte hinter der Verwahrlosung eine ordentliche Portion Rache an Jakob gesteckt, der Sander zwar sein selbst erwähltes Zimmer zugestand, aber nicht müde wurde zu betonen, wie sehr er dessen Unordnung verabscheute. Als verweise ein versumpftes Teenagerzimmer grundsätzlich auf einen Charaktermangel. Jakob war wirklich schon immer hart mit ihm umgesprungen.

Von der damaligen Unordnung war jetzt allerdings keine Spur mehr zu entdecken. Der Kellerraum war blitzblank aufgeräumt und die Wände waren in einem lichten Grau gestrichen. In einer Ecke stand ein Schreibtisch, neben dem Fachliteratur fein säuberlich aufgestapelt lag, und es gab eine Seemannskiste, in der ich seine Kleidung vermutete, denn sie flog nirgends sichtbar herum. Am meisten jedoch überraschte mich das schlichte Bettgestell aus Metall, auf dem Sander gerade kniete, um ein Bild von der Wand zu nehmen.

»Seit wann besitzt du ein Bett, und dazu auch noch ein anständiges?«

Sander zuckte zusammen. Offenbar hatte er bei der lauten Musik nicht mitbekommen, dass ich eingetreten war. Langsam stand er auf, wobei er das großformatige Stück Papier zusammenfaltete und unter einem dicken Buch auf dem Schreibtisch verstaute, ehe ich einen Blick darauf werfen konnte. Dann stellte er die Musik leiser, bevor er sich mir zuwendete.

»Nachdem ich die Bandit gekauft hatte, war noch etwas Kohle übrig, und ich war die steinharte Matratze leid.«

»Du oder doch eher eine von deinen Eroberungen? Bestimmt haben deine One-Night-Stands wenig Lust, sich auf einer Matratze am Boden zu rekeln.« Es war mir durchaus bewusst, dass meine aus der Luft gegriffene Anschuldigung daneben war. Außerdem ließ sie mich schwach aussehen. Darum presste ich meine Lippen so fest aufeinander, wie ich konnte, ohne dass es etwas half. In mir kochte es schlimmer als in einem pfeifenden Wasserkessel.

Anstatt mich mit einer arroganten Entgegnung auf Abstand zu bringen, erwiderte Sander lediglich meinen Blick.

»Nun guck nicht so! Ich weiß, dass es dein Hobby ist, Mädels abzuschleppen. Schließlich zerreißt sich die gesamte Schule regelmäßig das Maul darüber, was für ein heißer-Schrägstrich-verrückter Typ du doch bist. Ich weiß Bescheid. Oder hast du tatsächlich geglaubt, ich sei ein ahnungsloses Schäfchen, das du nicht bloß mit deiner ausgefeilten Kusstechnik verdorben hast, sondern das zu allem Überfluss nicht ahnt, dass es an einen Wolf geraten ist?«

In Sanders Augen spiegelte sich Erschütterung, allerdings nur flüchtig, dann hatte er sein Pokerface unter Kontrolle. »Ich halte dich tatsächlich für ahnungslos, allerdings nicht, was meine Frauengeschichten anbelangt. Wenn ich gewollt hätte, dass du von dieser Freizeitbeschäftigung nichts erfährst, dann hätte ich schon dafür gesorgt. Und was mein Bett anbelangt … Ich nehme niemanden hierher mit, den ich anschließend nicht dabehalten will. Und das war bislang noch nie der Fall. Solange es nur um ein bisschen Spaß geht, gibt es genug Orte in Marienfall, wo man sich ungestört amüsieren kann.«

»Verstehe. Den Spaß ziehst du außerhalb deines Reviers ab, sehr clever. Ein kleiner Tipp: Unser Dachboden ist dafür allerdings immer noch zu dicht dran an deinem Heiligtum, du hättest mich besser in den Wald verschleppt, bevor du mich Bekanntschaft mit deiner Zunge machen lässt. Dann hättest du anschließend wenigstens darauf hoffen können, dass ich den Weg nicht zurückfinde, um dir deswegen auf die Nerven zu gehen.«

»Du setzt dich also mit den Mädchen gleich, die mich komplett überdreht auf Partys anquatschen, weil sie von der Freundin einer Bekannten gehört haben, ich sei eine unkomplizierte Nummer?« Sander kräuselte verächtlich die Nase. »Ich hätte ein bisschen mehr Selbstvertrauen von dir erwartet.«

In meiner Brust wummerte es so heftig, dass ich kaum mehr Luft bekam. »Mit meinem Selbstvertrauen ist es leider nicht weit her, nachdem du mich geküsst und im direkten Anschluss eiskalt abserviert hast.«

»Ich habe dich weder abserviert noch war ich eiskalt. Ganz im Gegenteil – und genau das macht es ja so verflucht schwierig.«

Von einer Sekunde zur anderen geriet Sander in Bewegung, als wisse er nicht, wohin mit sich. Dabei sah es für einen Moment aus, als wolle er mich in seine Arme schließen, aber dann wandte er sich ab und verpasste der Wand einen solchen Fausthieb, dass ich vor Schreck aufschrie. Die Arme gegen die Wand gestemmt, blieb er stehen. Sein Rücken bebte, als würde ihm eine große Anstrengung abverlangt. Unvermittelt überkam mich das Bedürfnis, ihm beruhigend eine Hand aufzulegen, doch ich traute mir selbst nicht über den Weg. Sobald der Sicherheitsabstand zwischen uns aufgehoben war, legte sich womöglich ein Hebel in mir um – und dann würde es mir nur noch darum gehen, ihm näherzukommen. Als er mich geküsst hatte, hatte ich mich von Anfang an darauf eingelassen, so als hätte ich nur darauf gewartet. Und auch jetzt glühte Hoffnung in mir, Sander möge alles vergessen, das vielleicht zwischen uns stand, und mich erneut in seine Arme ziehen. Doch er blieb eisern.

»Hilf mir mal auf die Sprünge, Anouk. Was muss ich tun, damit du dich von mir fernhältst, ohne mich zugleich zur Hölle zu wünschen, weil ich in deinen Augen nicht mehr als ein triebgesteuertes Arschloch bin? Damit komme ich nämlich schlecht zurecht, egal, wie sehr ich mich anstrenge. Ich wollte dich nicht ausnutzen oder bloß ein wenig Spaß haben, wirklich, daran liegt es nicht.«

»Dann erzähl mir den wahren Grund, warum du mich abblockst – dann hätte ich wenigstens die Chance mitzuentscheiden, ob es für uns beide besser ist, einander aus dem Weg zu gehen. Das schuldest du mir, denn schließlich bin ich nicht diejenige gewesen, die den ersten Schritt gemacht hat. Du hast mich geküsst, du trägst die Verantwortung. Mist, Sander, ich bin völlig durcheinander. Mach, dass es aufhört, sag mir, was du mir sagen musst, damit ich den Kuss und was er ausgelöst hat, vergessen kann. Anders wird das nämlich nicht funktionieren.«

Meine Stimme versagte. Die Wut, die mich eben noch beflügelt hatte, wich mehr und mehr dem Gefühl von Angst. Angst, noch schlimmer verletzt zu werden. Angst, nie wieder einen Fuß in dieses Zimmer zu setzen, das Sander als sein ureigenes Reich empfand. Angst, dass er mich mit dieser plötzlich ausgebrochenen Sehnsucht allein ließ. Angst davor, ihn zu verlieren, nachdem ich ihn nur für wenige Augenblicke wirklich bei mir gehabt hatte. Obwohl ich noch nie zuvor in einer solchen Lage gewesen war, war ich mir absolut sicher, es nicht zu überstehen, wenn er die Mauer ohne eine Erklärung erneut und endgültig hochzog.

Während ich noch um meine Fassung rang, drehte Sander sich um. Sein Gesicht war sehr blass, und er sah vollkommen erschöpft aus, so als hätte er gerade einen Kampf gegen sich selbst verloren. Er hatte die Entscheidung getroffen, er würde es mir erzählen. Und ich? Ich wollte es erfahren, oder? Nun, so sicher war ich mir plötzlich nicht mehr.

»Dein Vater …«, begann Sander. »Was hat er dir darüber erzählt, warum er Tiamat bewacht, obwohl es doch nur zu offensichtlich ist, dass er für ein anderes Leben bestimmt und der Wächterzirkel nur allzu scharf darauf ist, die Kontrolle über Himmelshoch zu übernehmen, seit das Tor erwacht ist?«

Was für eine seltsame Frage. »Sander, das Letzte, worüber ich jetzt reden will, ist Jakob. Wenn du mich schon unbedingt ablenken willst, dann lass dir etwas Besseres einfallen.«

»Glaub mir, ich bin jenseits von einem halb garen Ablenkungsmanöver. Also tu mir den Gefallen und zieh bitte mit, das hier ist nämlich verdammt schwer für mich.«

Ich nickte ergeben. »Papa hat seine Pflicht als Wächter von seinem Vater übernommen, nachdem der verstorben ist. Ich habe meinen Großvater leider nicht kennengelernt, meine Mutter hatte wohl etwas dagegen, dass die beiden Männer den Kontakt hielten, denn sie wollte mit Himmelshoch, dem Zirkel und erst recht mit Tiamat so wenig wie möglich zu tun haben. Und Papa hat das wohl auch so gesehen, schließlich hat er die Aufgabe als Wächter damals nur übergangsmäßig machen wollen, weil Opa außer ihm keinen Nachfolger ausgebildet hatte. Und Tiamat musste bewacht werden, obwohl sie damals noch schlief. Diese Pflicht hat Jakob trotz allem für wichtiger als jede andere gehalten, ungeachtet der Tatsache, dass die Ehe meiner Eltern dadurch gefährdet wurde. Noch am Todestag meines Großvaters hat er die Wacht übernommen, damit Himmelshoch sein Geheimnis nicht verrät. Seitdem war Tiamat durchgehend bewacht.«

Sander grinste. »Bis zu jenem Abend, an dem ein gewisser Trottel sich nicht an die Regel hielt, weil er für ein Mädchen unbedingt den Ritter spielen musste. Und dann auch noch ungebeten. Ich habe dich ja quasi zwingen müssen, zu mir aufs Motorrad zu steigen.«

Wie zwei Feuerblumen glühten meine Wangen auf. Aus dieser Perspektive hatte ich unsere Motorradfahrt noch gar nicht betrachtet. Ich hatte das so verstanden gehabt, dass es Sander lediglich um meine Sicherheit gegangen war, die nicht mehr als eine lästige Angelegenheit für ihn darstellte.

»Eigentlich ist es keine besonders große Überraschung, dass ausgerechnet ich versagt habe. Schließlich bin ich kein Wächter, auch wenn Jakob alles Erdenkliche angestellt hat, um mich zu einem zu machen, damit der Kelch an dir vorübergeht.«

»Worüber nicht nur Papa froh ist, sondern auch ich! In dieser Hinsicht bin ich unfähig, niemand weiß das besser als du. Ich drehe schon durch, bloß weil eine Miniveränderung in mein Badewasser plumpst.« Sanders gequälter Ausdruck setzte mir zu. Er hielt sich für einen schlechten Wächter, dabei war er besser, als Papa es jemals gewesen war. »Die Wacht liegt dir im Blut, die Salzzeichen wären ohne dich schon längst zerbrochen, und niemand wird mit den Besuchern so spielend fertig wie du. Wenn du nicht wärst, hätten wir Himmelshoch schon längst dem Zirkel übergeben müssen.«

»Und wir wissen beide, woran das liegt: Ich bin gezeichnet.«

Als Sander sein Shirt auszog, fühlte es sich für einen Moment so an, als würde mir der Boden unter den Füßen weggezogen. Ich setzte alles daran, ihn nicht anzustarren, aber es gelang mir nicht. Allerdings weniger wegen des bläulich schimmernden Geflechts unter seiner Haut rund um die linke Schulter bis hinab zur Brust. Nein, es brachte mich fast um den Verstand, seinen freien Oberkörper zu sehen. Die Situation mochte noch so ernst sein, aber ein kleiner, offenbar vollkommen verwilderter Teil in mir ließ mich Dinge denken wie Wow! … so schön … unbedingt anfassen wollen … anschmiegen … küssen … meins machen. Es dauerte lange, bis ich mich auf Sanders Hand konzentrieren konnte, die auf das Geflecht zeigte. Die Linien, aus denen es bestand, sahen aus wie Blutbahnen, die dicht unter der empfindsamen Haut aufleuchteten. So ähnlich, als würde man die Adern an der Innenseite des Handgelenks betrachten. Nur wusste ich es besser. An dem Tag, als mein Vater Sander mit zu uns nach Haus gebracht hatte, hatte ich sie gesehen, da waren sie noch ganz frisch gewesen. Damals hatten sie sich bewegt, zumindest war mir das als Kind so vorgekommen. Und sie waren dunkelblau gewesen, wie das Meer an einem stürmischen Tag.

»Du hast dich bei uns im Keller herumgetrieben, ein kleiner Junge, der wahrscheinlich auf der Suche nach einem Versteck war. Nur, dass du dir dafür den denkbar schlechtesten Zeitpunkt ausgesucht hast, denn während du durch das Kellergewölbe gestromert bist, ist Tiamat nach Jahrhunderten des Schlafs zum Leben erwacht.« Ich stockte, als ich mich abmühte, die Geschichte wiederzugeben, die ich erst Jahre, nachdem Sander ein fester Teil unserer Pseudofamilie geworden war, erfahren hatte. »Du musst die Barriere aus Salzzeichen, als sie sich gerade aufgebaut hat, mit deiner Schulter gestreift haben. Nur einen Moment später, und sie hätte dich bei lebendigem Leib zerschnitten, sie sind absolut tödlich – Papa hat nicht umsonst einen Teil seiner Hand verloren, bei seinem Versuch, sie zu durchdringen. Jedenfalls hattest du Glück im Unglück. Jakob hat dich bewusstlos vor dem Tor liegend gefunden und dir ein neues Zuhause gegeben, als klar wurde, dass du deine Vergangenheit verloren hast. Das hat er trotz des blauen Geflechts getan, für das er dich eigentlich den Wächtern hätte übergeben müssen. Sie sind ein Abdruck der Salzzeichen und gehören damit der anderen Seite des Tors an. Du trägst etwas an dir, das zu Tiamat gehört. Allein dafür würden dich die Wächter sofort töten.«

Ich biss auf meine Unterlippe. Und genau aus diesem Grund misstraue ich diesen Leuten zutiefst, während ich Sander blind mein Leben anvertrauen würde, egal, von welchen Zeichen er bedeckt ist. Nichts kann daran etwas ändern, erkannte ich. Er würde immer ein Teil von mir sein, wie die Zeichen auf seiner Haut. Die Linien leuchteten in einem so lebendigen Blau, dass ich mir trotz der schwierigen Situation vorstellte, ihre Windungen mit der Fingerspitze nachzuzeichnen und dabei Sanders Oberkörper zu erforschen … Hastig fixierte ich einen Punkt dicht neben seinem Gesicht und konzentrierte mich darauf, die Ereignisse zu Ende zu erzählen. »Jedenfalls fühlte Papa sich so schuldig an dem, was dir zugestoßen ist, dass er die Wacht nicht wie geplant an den Zirkel abgegeben hat.«

»So hat Jakob es dir erzählt.« Sander wrang das Shirt in seinen Händen. »Ich selbst erinnere mich nicht daran. Meine Vergangenheit beginnt in dem Hausflur, als er uns einander vorgestellt hat. Dafür erinnere ich mich an etwas anderes.«

Ohne zu wissen, warum, breitete sich Unruhe in meiner Magengegend aus. »Sander, ich möchte über das Jetzt reden, über uns beide, und nicht über irgendwelche alten Geschichten.«

Ein trauriges Lächeln erschien auf seinem Gesicht. »Geschichten. Genau das sind sie: Geschichten.«

Was du für die Wahrheit hältst, ist gar nicht die Wahrheit. Du hast an eine Lüge geglaubt, aber willst du wirklich wissen, was die Wahrheit ist? Ich machte einen Schritt zurück und dann noch einen. Plötzlich war das verführerische Kribbeln in meinen Fingerspitzen genauso weggewischt wie mein Gesprächsbedarf. Der Raum erschien mir viel zu eng. Offenbar war mir meine Beklommenheit anzusehen.

»Noch hast du die Gelegenheit, dich umzudrehen und zu gehen, Anouk.«

Ich blieb widerstrebend stehen. »Als ob das so einfach wäre. Denn wenn ich jetzt gehe, wirst du später so tun, als wäre nie etwas zwischen uns passiert. Schlimmer, du wirst so tun, als wäre ich nur das Mädchen, das im gleichen Haus lebt wie du. Ein paar Gags und ein wenig Flachserei, das wären die einzigen Berührungspunkte zwischen uns, die du zulassen würdest.«

»Das habe ich doch bislang so gehalten und es hat dich nie gestört.«

Mein Schnaufen verriet mehr über meine verletzten Gefühle als mir lieb war.

»Du musst dich jedenfalls entscheiden«, fuhr Sander fort, »ob unser bisheriges Verhältnis wirklich so unerträglich gewesen ist, dass du es gegen einen kompletten Bruch eintauschen würdest. Wenn ich dir nämlich erst den Grund nenne, warum ich mich von dir ferngehalten habe, gibt es kein Zurück mehr. Danach wird unsere Beziehung nicht mehr dieselbe sein, das ist ganz ausgeschlossen.«

Ich stand da, nicht mehr als ein Häufchen Elend, aber ich war nicht gewillt, einen Rückzieher zu machen. Schlicht, weil es kein Zurück gab. Mir zumindest war es vollkommen unmöglich, die Gefühle, die ich mir gerade erst eingestanden hatte, sogleich wieder abzutöten, nicht einmal dann, wenn Sander sich für den Rest seines Lebens tot stellte. »Ich will es wissen«, wisperte ich.

In Gedanken versunken rieb Sander über das blaue Geflecht auf seiner Haut, das sich daraufhin bewegte. Zumindest bildete ich mir das ein. Ich war mit den Nerven wirklich am Ende. »Madelin«, setzte er an. Allein dieser Name reichte aus, dass ich zu seinem Bett wankte und mich setzte. Sander warf mir einen besorgten Blick zu, aber ich bedeutete ihm, weiterzusprechen. »Du musst wissen, dass ich deine Mutter niemals kennengelernt habe.«

»Unsinn! Natürlich kanntest du sie, sie ist erst einige Zeit später gegangen, nachdem du zu uns gestoßen bist. Warum behauptest du so etwas? Wenn es dir nur darum geht, mich vor den Kopf zu stoßen und zu verletzen, dann sag einfach, dass du dir mit der Küsserei auf dem Dachboden bloß die Langeweile vertrieben hast und dass ich einen ziemlich drögen Zeitvertreib abgebe. Dann schaue ich dich für den Rest deines Lebens nicht einmal mehr mit dem Hintern an, versprochen. Aber lass meine Mutter aus dem Spiel!«

Sander hob beschwichtigend die Hände, eine ganz und gar ungewohnte Geste bei ihm. »Geh in dich und sag mir, ob du auch nur eine einzige Erinnerung besitzt, in der du Madelin und mich zusammen siehst. Na los, versuch es, es ist wichtig.«

Ich schluckte, dann schluckte ich noch einmal, aber der Knoten in meiner Kehle wollte nicht verschwinden. Ich wischte über meine Augen, aber die Tränen verschwanden ebenfalls nicht. »Sie war plötzlich weg, von einem Tag auf den nächsten.« Es tat ungeahnt weh, diese Tatsache auszusprechen. Allerdings setzte dieses Eingeständnis nicht nur mir zu, denn Sander grub seine Finger so fest in seinen Oberarm, dass die Haut weiß anlief.

»Ja, Madelin war weg, wie vom Erdboden verschluckt«, flüsterte er. »Ich habe sie wirklich niemals getroffen, aber ich erinnere mich an Dinge hier im Haus, die ihr persönlich gehört haben müssen und die Jakob an einem Abend, kurz nachdem ich zu euch gekommen war, eingesammelt hat und die nie wieder aufgetaucht sind. Später hat er mir gesagt, dass es leichter für dich sei, zu glauben, dass deine Mutter die Familie verlassen habe, weil sie mit der Wächteraufgabe deines Vaters nicht zurechtgekommen sei und Himmelshoch hasse. Gut möglich, dass es tatsächlich so war, aber es ist nicht der wahre Grund für Madelins Verschwinden.«

Was sollte ich tun? Ich hörte Sanders Worte, sie gruben sich so tief in mir ein, dass ich sie nie wieder würde vergessen können, auch wenn ich mich noch so sehr anstrengte. Nur was bedeuteten sie?

»Ich kann mich, wie gesagt, nicht daran erinnern, was sich abgespielt hat, als Tiamat erwacht ist, und auch nicht daran, wie Jakob mich gefunden hat. Die Geschichte allerdings, die er mir über die Geschehnisse an diesem Tag erzählt hat, ist eine andere – und alles weist darauf hin, dass diese Version der Wahrheit entspricht. Eigentlich hätte ich es mir auch selbst zusammenreimen können, denn warum nimmt ein Mann einen fremden Jungen bei sich auf, geht all die Unannehmlichkeiten ein, um ihn aufzuziehen, wenn er diesen Jungen zutiefst verachtet und ablehnt?«

»Papa lehnt dich nicht ab, ihr seid nur grundverschieden«, unterbrach ich Sander, weil ich die Kälte, mit der er Jakobs Haltung ihm gegenüber beschrieb, kaum aushielt. Mittlerweile konnte ich Sander schließlich gut genug einschätzen, um zu wissen, dass er sich immer dann distanziert gab, wenn ihn etwas besonders stark berührte.

»Jakob lehnt mich ab, daran gibt es nichts zu rütteln. Und er hat auch einen guten Grund dafür – ihr beide habt Madelin meinetwegen verloren. In Wirklichkeit war es deine Mutter, die mich vor dem Tor im Kellergewölbe entdeckt hat. Vermutlich bin ich von Neugierde getrieben durch den Kohlenschacht eingestiegen, um mir das alte Spukhaus einmal genauer anzusehen, oder es war eine andere hirnrissige Idee, wie sie nur neunjährige Jungen haben können. Jedenfalls habe ich es unbemerkt bis vors Tor geschafft und dort möglicherweise etwas Dummes angestellt, denn schließlich ist Tiamat ausgerechnet in dem Moment aus ihrem Schlaf erwacht, als ich vor ihr stand. Als sich die Salzzeichen aufgebaut haben, muss ich sie berührt haben, und sie haben sich mir eingebrannt. Vermutlich hätten sie mich zerschnitten, wenn Madelin mich nicht rechtzeitig entdeckt und fortgerissen hätte. Allerdings um einen hohen Preis: Sie geriet hinter die Salzzeichen und wurde sogleich vom Maelstrom fortgerissen. Das war der Moment, in dem Jakob dazugestoßen ist. Er hat mit eigenen Augen gesehen, wie Madelin in den dunklen Fluten des Strudels verschwand, er hat es gesehen und konnte nichts dagegen tun, weil die Salzzeichen das Tor verschlossen hatten. Bei seinem Versuch, nach ihr zu greifen, hat er zwei Finger seiner linken Hand verloren. Ein glatter Schnitt, wie von einem Laser ausgeführt. Vermutlich wäre er noch mehr verletzt worden, wenn ich nicht schreiend aufgewacht wäre. Also hat er sich von seiner Frau abgewendet und sich um ein fremdes Kind gekümmert, das in den Augen eines Wächters verdorben worden war, als sich ein Teil vom Tor auf ihm eingeprägt hatte.«

Sander hielt inne, und es war ihm anzusehen, wie er sich abmühte, tiefer in seine Erinnerung hinabzusteigen, in der Hoffnung auf etwas zu stoßen, das Jakobs Aussage bestätigte. Dann wischte er sich über die Augenlider und sah mich an, während es mir kaum gelang, seinem Blick nicht auszuweichen.

»Jakob duldet mich nur deshalb in seiner Nähe, weil Madelin mich gerettet hat und er sich in ihrer Schuld fühlt. Was denkst du, warum er Himmelshoch unbedingt halten will und jede verfügbare Sekunde bei Tiamat verbringt und die Salzzeichen zu entschlüsseln versucht? Ihretwegen. Auch wenn Jakob es niemals gesagt hat, so glaube ich, dass er nur darauf wartet, die Barriere zu durchdringen, um herauszufinden, was aus Madelin geworden ist. Und seit die Besucher auftauchen, braucht er dringend Unterstützung, um die Wacht ohne die Hilfe des Zirkels aufrechtzuerhalten. Dabei bin ich ihm nützlich. Und ich bin es ja auch gern, ich sehe mich ebenfalls in der Verantwortung und bin dankbar, in Himmelshoch eine Heimat gefunden und dich getroffen zu haben. So gesehen könnte alles so einfach sein, aber meine Gegenwart führt Jakob unablässig vor Augen, weshalb Madelin nicht mehr bei euch, ihrer Familie, ist. Es mag nicht meine alleinige Schuld sein, aber ich bin der Auslöser für diese Katastrophe gewesen. Und von dem, der für all das Unglück verantwortlich ist, wegen dem deine Mutter verschollen oder gar tot ist, möchtest du dich doch gewiss nicht küssen lassen, oder?«

Ich brachte keine Antwort zustande. Ich brachte überhaupt keine Reaktion zustande, mein gesamtes Innenleben stand still, als habe jemand das Pendel einer Uhr angehalten. Eigentlich hätte ich Sander sofort sagen müssen, dass seine Schuldgefühle unbegründet waren – er war nur ein Kind gewesen, das zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen war, nur konnte ich es nicht. In meinem Kopf war nur Platz für das Bild, wie meine Mutter im schwarzen Herz des Maelstroms verschwand, hilflos den gewaltigen Fluten ausgeliefert. Auf diese grausame Weise hatte ich sie also verloren … Ich versuchte, das Bild von mir zu schieben, doch es gelang mir nicht.

Lebt Madelin noch? Kann überhaupt ein Mensch auf der anderen Seite des Tors überleben?

Der Maelstrom, dessen Anblick immer eine solche Beklemmung in mir ausgelöst hatte, begann seine Kreise in meinem Inneren zu ziehen und jeden Gedanken und jede Empfindung zu verschlingen. Ich musste raus aus diesem Keller, hinaus ins Tageslicht. Erst dann würde es mir gelingen, mich aus dieser schrecklichen Umklammerung zu befreien und zu begreifen, was Sander mir erzählt hatte. Wenn ich hier unten bei ihm blieb, würde ich auf trocknem Grund ertrinken.

Irgendwie gelang es mir, aufzustehen und Schritt für Schritt auf die Tür zuzugehen. Im Nachhinein konnte mich nicht daran erinnern, wie ich sie erreichte, nur daran, dass ich ein Weinen hörte. Es war mein eigenes.

TIAMAT – Liebe zwischen den Welten
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