25. Eine besondere Gabe
Als wäre ich nicht mehr als eine Feder, streifte Sander meine Umarmung ab, bevor er sich auf Tammo stürzte.
In der Sekunde, als unsere Berührung und mit ihr der Schutzzauber unterbrochen wurde, brachen die Wände des Tropfens ein und die Fluten stürzten auf mich nieder. Ich wurde mit aller Macht gepackt, fortgeschleudert und umhergewirbelt. Trotzdem war es anders als zuvor. Ich atmete, obgleich in dem Wissen, dass stetig weniger Sauerstoff meine Lungen erreichte, nun da Sander nicht länger bei mir war. Vor meinen weit aufgerissenen Augen zogen die blauen Schlieren immer schneller vorbei, bis ich fast erneut das Bewusstsein verlor. Dann erstarrte das Treiben und auch mein Körper verharrte vollkommen unvermittelt.
Ich rührte keinen Finger in der festen Erwartung, dass es jeden Moment wieder von vorne losging, wie eine Endlosachterbahnfahrt. Doch nichts geschah.
Über mir ragte die weiß getünchte Decke über dem Pool der Freibaums auf und von draußen erschall Hundegeheul, während ich wie eine Tote auf dem Rücken auf der Wasseroberfläche des Pools trieb. Alles sah vollkommen normal aus, als wäre niemals ein überdimensionaler Wasserstrudel dabei gewesen, das Kellergeschoss zu verschlingen.
Das war ein böser Traum, dachte ich benommen. Ein ganz böser Traum. Nur leider wusste ich es besser.
Mein Versuch, das Wasser in Sekundenschnelle zu verlassen, bevor ich erneut in eine Strömung geriet, endete damit, dass ich fast absoff. Meine Beine und Arme verhedderten sich heillos. Mit mehr Glück als Verstand bekam ich schließlich den Beckenrand zu fassen und zog mich auf die Fliesen, die zu meiner unendlichen Erleichterung glatt waren und sich nicht einmal ansatzweise wie Sand anfühlten.
Während ich noch nach Atem rang und mir schwor, nie wieder auch nur den großen Zeh in einen Pool zu stecken, durchbrach Sander den Wasserspiegel, gefolgt von einem bekümmert dreinblickenden Tammo, dessen Unterlippe kräftig blutete.
»Ich kann es nicht fassen, dass ich dich losgelassen habe. Ich kann es einfach nicht fassen, dass ich so dermaßen dämlich bin und ein solches Risiko eingehe«, erklärte Sander in einem Tonfall, als würde er zugeben, mich höchstpersönlich dem Fegefeuer überlassen zu haben. Leichthändig stemmte er sich aus dem Becken, blieb aber auf Abstand zu mir. »Es tut mir leid, du glaubst gar nicht wie sehr. Das wird nie wieder passieren.«
»Nein, das wird es nicht, weil ich erstens nie wieder Wasser betreten werde, das mir über den Bauchnabel reicht, und weil ich mich zweitens, wenn ich trotzdem noch einmal in einen solchen Strudel geraten sollte, an Tammo halten werde. Der scheint mir der geringere Kindskopf von euch beiden zu sein.« Anstelle dieser Androhung hätte ich Sander genauso gut ohrfeigen können, das war mir klar. Mit herabhängenden Schultern wartete er den nächsten verbalen Schlag ab, aber meine Enttäuschung über sein Verhalten fiel nicht annähernd so groß aus, wie er es scheinbar vermutete. »Ich bin hochgeschossen wie ein Korken und – puff – trieb ich im Pool. Das war vielleicht ein seltsamer Trip, ich komme mir vor wie nach einem Schleudergang in der Waschmaschine. Obwohl ich mich eindeutig nicht bewege, dreht sich in mir drin alles. Wahnsinn, so was erlebt man ansonsten nur mithilfe verbotener Substanzen.«
Sanders verhärteten Gesichtszügen zufolge, verfehlte ich mit diesem Geplapper komplett mein Ziel, die Lage zu entspannen. »Ist alles okay mit dir oder fühlst du dich ein wenig seltsam? Ich meine, seltsamer als sonst? Du siehst ziemlich mitgenommen aus.«
Mühsam setzte ich mich auf. »Vielen Dank. Dass ich fertig aussehe, ist genau das, was ich jetzt hören will. Du weißt wirklich, wie man mit Mädchen umgeht – sie erst fast ertrinken zu lassen und dann ihre ruinierte Frisur kommentieren.« Die Art, wie Sander dastand und sich von mir angehen ließ, ärgerte mich mehr als alles andere. »Also gut, wenn du es unbedingt von mir hören willst: Es war absolut keine Glanzleistung, mich meinem Schicksal zu überlassen, nur weil du dich bei deiner Ehre gepackt fühltest. Du musst echt mal deinen Hitzkopf unter Kontrolle bekommen, sonst ist das ja nicht auszuhalten mit dir.« Und damit endete meine Standpauke auch schon, obwohl ich das später gewiss bereuen würde. Da bot sich mir die Chance, ihm endlich einmal seine Flausen auszutreiben, aber ich knickte ein, weil er sich nicht zur Wehr setzte. Hätte er versucht, sich herauszuwinden oder mich mit seiner unnachahmlichen Art mundtot zu machen, wäre es etwas anderes gewesen, aber es hatte ganz den Anschein, als nähme er sich die Sache übel für zwei.
»Ich weiß nicht, wie ich das wiedergutmachen soll, das war der totale Vertrauensbruch.«
»Entspann dich, Sander. Ich habe keinen Schaden davongetragen und vom Strudel ausgespuckt zu werden, war die leichteste Übung von allen, wenn du es genau wissen willst. Ich musste es einfach nur passieren lassen.« Bevor ich noch dazu überging, ihm tröstend über den Kopf zu streicheln, wendete ich mich Tammo zu, der mit einigem Sicherheitsabstand zu Sander dastand. »Alles so schön trocken hier. Dabei dachte ich, der Keller hätte sich in ein Aquarium der besonderen Art verwandelt.«
»Ich habe den Tropfen geschlossen, er ist jetzt wieder ein Wassertropfen«. Tammo deutete auf die Silberphiole an der Kette, die er um den Hals trug, während er mit dem Handrücken die Blutung an seiner Unterlippe zu stillen versuchte – ohne sichtbaren Erfolg. Sander musste ihm ordentlich eine mitgegeben haben, denn unter der Platzwunde breitete sich bereits eine gut sichtbare Schwellung aus. »Wenn ich diesen Ort das nächste Mal öffne, wird nichts Derartiges geschehen, ich werde sehr vorsichtig sein. Anouk, du bleibst der einzige Mensch, der mein Geheimnis kennt, das verspreche ich dir. So unangenehm es auch für dich gewesen sein mag, du warst zu keinem Zeitpunkt gefährdet.«
»Na, da sind wir doch alle beruhigt.« Sander musterte Tammo, als sei er lange noch nicht mit ihm fertig. »Außerdem wird es ohnehin nicht noch einmal dazu kommen, weil du jetzt nämlich schön brav Freibaums Körper verlassen wirst und dich dahin verpisst, wo du hergekommen bist. Und sag deinen Freunden und diesen Randwandlern, dass ich den Rest meines Lebens in Bereitschaft vor dem Tor fristen werde, um mit jedem kurzen Prozess zu machen, der auch nur einen Tentakel auf unsere Seite streckt. Also, wie sieht es aus: Kommst du freiwillig aus diesem Körper raus oder muss ich dich rausschütteln?«
»Oh Mann. Ich habe dir doch schon gesagt, dass ich diesen Körper nicht wieder verlassen kann, ohne dabei zu sterben. Ich bin mit ihm verschmolzen, anders ging es nicht.«
»Mir ist es, ehrlich gesagt, komplett egal, was mit dir passiert. Du wirst jedenfalls keine Minute länger Freibaums Mund dafür benutzen, Lügen zu erzählen.«
Es war mir ein Rätsel, warum das Wort ›Eskalation‹ nicht mit einem ›S‹ wie Sander anfing. »Geht es darum?«, fuhr ich Sander an, der beim Klang meiner gereizten Stimme sofort den Kopf einzog. »Dass Tammo gesagt hat, du stammst von der anderen Seite Tiamats und hast deine ursprüngliche Aufgabe vergessen? Willst du ihn deshalb zum Schweigen bringen?«
»Allein für dieses Lügenmärchen könnte ich ihn von innen nach außen drehen.«
»Gut möglich, dass er uns eine äußerst raffiniert verpackte Lüge aufgetischt hat, aber das können wir erst entscheiden, nachdem wir die ganze Geschichte gehört haben, oder?« Sander zuckte widerwillig mit den Schultern, vermutlich gab er nur nach, weil er mir gegenüber ein immer noch nicht besänftigtes schlechtes Gewissen hatte. Sollte mir recht sein, denn mir war es wichtig, dass Tammo zu Ende erzählte. »Wenn ich dich richtig verstanden habe, dann wollt ihr Besucher das Tor genauso wenig haben wie wir. Und du bist nicht gekommen, um wahllos zu töten, sondern um es zu schließen. Oder vielmehr um Sander dazu zu bewegen, der dazu in der Lage ist, was er allerdings vergessen hat.«
Tammo bestätigte dies mit einem schlichten »Richtig«.
»Wenn das stimmt, wäre doch alles wunderbar, dann würden wir am selben Strang ziehen. Schließlich ist es die Aufgabe der Wächter auf unserer Seite, die Tore zu bewachen.«
»Ein Tor zu bewachen, ist aber nicht das Gleiche, wie ein Tor zu schließen«, sagte Tammo. »Sander müsste sich eingestehen, wer er in Wirklichkeit ist, ansonsten wird er an dieser Aufgabe scheitern.«
Okay, die Angelegenheit schien doch nicht ganz so unkompliziert wie erhofft. »Wie meinst du das?«
»Um das zu erklären, müsste ich etwas ausholen.«
Gemeinsam blickten wir Sander an, der sich gerade sein klitschnasses T-Shirt überzog. Die blauen Linien auf seiner Haut hatten sich beruhigt und pulsierten nur noch schwach. »Nur zu«, murrte er. »Wenn Anouk sich deine Story unbedingt anhören will, bin ich der Letzte, der deshalb Stress macht. Ein wenig seichte Unterhaltung nach dem ganzen Drama ist bestimmt nicht verkehrt.«
Der Spott prallte an Tammo ab, stattdessen stand er still da, als sammle er seine ganze Aufmerksamkeit. »Die Welt, aus der ich stamme, ist vollkommen anders als eure, deshalb fällt es mir schwer, die richtigen Worte zu finden. Wenn ich sage, unsere Heimat ist ein Ozean und unser Element das Wasser, dann trifft es das nicht richtig. Das, was ich Wasser nenne, ist eigentlich ein euch fremdes Element, das die Energie meines Volkes leitet. Ihr beide habt es eben erlebt, als ihr in den Strudel eingetaucht seid.«
Während ich nickte, wurde Sander blass und berührte seine Schulter, als lebten die Linien allein bei dem Gedanken an dieses schillernde Element erneut auf.
»Im Gegensatz zu den Randwandlern, die vom Erstarren dieses Elements zehren, beschenkt uns der Ozean mit Gaben. Meine Gabe habt ihr bereits kennengelernt, aber es gibt noch unzählige andere. Um Tiamat zu schließen, bedarf es allerdings einer ganz besonderen Gabe, die es bei unserem Volk eigentlich nicht gibt, weil sie unserem Naturell widerspricht: eine feste Form. Für euch Menschen ist das die natürlichste Sache überhaupt, ihr werdet in einer Form geboren, während wir Fließenden uns eine Form suchen und sie auch wieder ablegen können. Soweit wir wissen, hat es bislang in unseren Reihen nur eine Abweichung von dieser Norm gegeben, und sie fiel mit Tiamats Entstehen zusammen. Dieser Fließende gehörte zu uns und war doch vollkommen anders.« Tammo verstummte.
Einen Moment lang befürchtete ich, er könnte aussprechen, was wir in diesem Moment alle dachten. Und dann würde Sander sich auf ihn stürzen und ihn endgültig zum Schweigen bringen. Doch Tammo leckte sich über die Unterlippe, um den Riss zu prüfen, der soeben erst zu bluten aufgehört hatte, und wechselte scheinbar das Thema.
»Um das Tor zu schließen, braucht es eine Verbindung aus beiden Welten, denn es kann nicht einseitig zugezogen werden. Zuerst müssen auf beiden Seiten Barrieren geschaffen werden, die dann so weit miteinander zu verschmelzen sind, bis das Tor zu existieren aufhört. Unsere beiden Welten, wiedervereint und doch wieder für sich allein – das ist die einzige Möglichkeit, die wir haben. Damals ist es nicht so weit gekommen, die Barrieren blieben unvollendet und stellten zugleich eine unüberwindbare Mauer dar. Uns blieb nichts anderes übrig, als abzuwarten, obwohl uns die Zeit davonlief. Ob wir jetzt noch einmal die Chance bekommen, das Tor zu schließen, liegt von nun an nicht mehr in meinen Händen.« Dieses Mal vermied Tammo es wohlweislich, den Namen desjenigen zu nennen, in dessen Hände diese Chance lag.
Sander war mit jedem Satz bleicher geworden. »Das ist eine verdammt gute Lügengeschichte, das muss ich schon zugeben. Passt wie die Faust aufs Auge.«
»Ja, das tut es«, stimmte ich leise zu, während eine unbestimmte Angst in mir aufstieg. Dass alles fügte sich perfekt in die zunehmende Bedrohung, die wir auch auf unserer Seite des Tors spürten. Es erklärte Tiamats Erwachen, die blutrünstigen Kreaturen, die immer häufiger zu uns durchdrangen, und es erklärte, warum Tammo hier war. All das hätte ich problemlos verkraftet, aber mir setzte zu, was er soeben ausgelassen hatte: den Fließenden mit der außergewöhnlichen Gabe, der seine eigentliche Aufgabe vergessen hatte. Mir schwante, dass Tammo nicht bloß schwieg, um Sander zu schonen, sondern auch mich. Was würde passieren, wenn diese Aufgabe vollendet war? Was würde mit Sander passieren?
Ich schlang die Arme um meine Körpermitte, mir plötzlich der Kälte bewusst werdend, die sich auf meine nasse Haut gelegt hatte. »Wir brauchen einen Beweis, um dir glauben zu können. Etwas, das über Behauptungen hinausgeht, denn behaupten kann man viel.«
In Tammos Gesicht gab es eine Regung, die für mich nach Trauer aussah, die plötzlich und unerwartet wie ein Dorn zusticht. »Es gibt einen Grund, warum ich mich bereit erklärt habe, durch das Tor zu gehen, obwohl ich danach niemals wieder in meine Heimat zurückkehren könnte. Es ist derselbe Grund, aus dem ich deine Nähe gesucht habe, Anouk. Ich habe dich in der Erinnerung des Jungen gesehen, mit dem ich verschmolzen bin, und habe dich wiedererkannt. Das Lockenhaar … die Gestalt … die elegante Bewegung deiner Hände.«
Mein Herz schlug so laut, als sei ich eine hohle Figur, in deren Inneren ein mächtiger Gong geläutet wurde. Für einen Augenblick glaubte ich mich aus der Zeit genommen, unerreichbar für die Außenwelt.
»An dem Tag, an dem Tiamat versiegelt werden sollte, passierte etwas Unerklärliches. Es erschien ein fremdartiges Wesen im Ewigen Ozean, als habe ein Austausch am Tor stattgefunden. Es war eine junge Frau.«
»Beschreib sie«, forderte ich tonlos.
»Es ist, wie ich bereits sagte: Sie sieht dir so ähnlich, dass ich im ersten Augenblick sogar gedacht habe, dass sie es sei, dass sie in beiden Welten zur gleichen Zeit sein kann. Dann sind mir jedoch die Unterschiede bewusst geworden. Du bist jünger, und deine Augenfarbe ist braun, während ihre die Farbe des Ewigen Meeres in seinen strahlendsten Tönen trägt.«
»Das reicht nicht.«
Tammo schlug die kurz die Hände vors Gesicht, als habe er bereits zu viel gesagt. Oder als würde er beim Erzählen einen Schmerz tief in seinem Inneren erleiden. »Sie hatte etwas bei sich. Ein Kuscheltier.«
»Das reicht nicht.«
»Einen Hasen.«
Ich schwankte. Sander umfasste meinen Ellbogen, doch ich stieß ihn weg.
»Lebt sie?«
Da war er erneut, dieser Ausdruck von Trauer auf Tammos Gesicht. »Es war zu spät, als wir sie gefunden haben. Niemand hatte ihr seinen Atem geschenkt. Sie schläft. Träumt. Ich habe bei ihr Wacht gehalten, damit sie im Strudel nicht fortgerissen wird, und dabei habe ich in ihre Träume gesehen. Sie waren süß und manchmal traurig.«
»Madelin träumt. Für immer«, wiederholte ich, als müsse ich die Worte mit meiner eigenen Stimme hören, um sie glauben zu können.
Dann wendete ich mich ab und ging meine Kleidung holen.
Ich schottete mich ab, rein instinktiv.
Ich machte mich taub, nichts erreichte mich.
Der kurze Schlagabtausch zwischen Sander und Tammo ging genauso an mir vorbei wie die Anwesenheit von Becks, die unvermittelt neben mir stand und sichtlich aufgeregt auf mich einredete. Es war ein seltsamer Anblick, wie ihr Mund auf- und zuging, ohne dass auch nur eins ihrer Worte zu mir durchdrang. Mehr als ein Kopfschütteln brachte ich nicht zustande. Ich musste raus hier. Sofort. Vor der Haustür hielt ich einen Moment inne, weil meine Beine nachzugeben drohten. Schließlich gelang es mir, raus auf den Gehweg zu stolpern und immer weiter, bis ein scharfes Reifenquietschen mich anhalten ließ. Blind vor Tränen blinzelte ich und begriff erst, dass es Sander auf seinem Motorrad war, als er mich bereits auf den Sitz hinter sich zog.
»Helm aufsetzen und festhalten«, wies er mich an.
»Nein.«
»Oh doch. Wir zwei machen einen kleinen Ausflug, deine Freundin passt solange auf Lutz auf. Becks war dank deines Verhaltens und Tammos aufgeplatzter Lippe so durch den Wind, dass sie gar nicht erst groß Fragen gestellt hat.«
Ich war immer noch dabei, mir eine Entgegnung zurechtzulegen, da fuhr Sander bereits los, sodass mir nichts anderes übrig blieb, als mich an ihm festzuhalten, als hinge mein Leben davon ab. Und das tat es ja auch, denn er fuhr schneller, als der Strudel mich herumgewirbelt hatte.