32. Trost
Eigentlich war ich niemand, der nah am Wasser gebaut hat. Auch wenn mir etwas noch so ans Herz ging, war ich stets darum bemüht, nicht in Tränen auszubrechen. Ich glaubte fest daran, dass Tränen es nur schlimmer machten, denn sie erhielten den Schmerz am Leben, räumten ihm oft sogar einen noch größeren Raum im Herzen ein, als er ohnehin schon für sich in Anspruch nahm. Tränen bestätigten die Empfindungen in ihrer Intensität, anstatt sie zu lindern. Nachdem meine Mutter verschwunden war, hatte ich mich oft in den Schlaf geweint – und es hatte nichts besser gemacht. Ich hatte mich dadurch weder getröstet noch erleichtert gefühlt, sondern meine verquollenen Augen hatten mir am nächsten Morgen nur bewiesen, dass ich allein war und nichts dagegen tun konnte.
Nachdem das Veränderdich wieder zu einer vergnügt umherspringenden Kugel geworden war, gelang es mir erstaunlich lange, nicht zu weinen. Mein Blick verschwamm, während meine Kehle sich zuzog, aber ich neigte einfach den Kopf in den Nacken und verweigerte das Bedürfnis zu blinzeln.
»Es ist so knapp gewesen«, flüsterte Tammo. »Wenn Madelin nur einige Sekunden länger gezögert hätte, dann wäre es Sander gelungen, dass Tor zu schließen. Offenbar war der Moment vor der Vollendung ein Moment der Schwäche, sodass Madelin durch die Barriere hindurchgelangen konnte. Als sie Sander berührt hat, muss ein Austausch stattgefunden haben, bei dem Sander auf eure Seite gelangt ist, während Madelin von dem Maelstrom ergriffen wurde. Seitdem zerfallen die Salzzeichen, die er geschaffen hat. Und die Randwandler verstärken diesen Prozess zusätzlich. Wir Fließenden waren so sehr mit dem Schaden beschäftigt, den der Maelstrom anrichtet, dass wir Tiamat viel zu oft vernachlässigt haben. Es ist wie eine Wunde, die wir nicht stillen können, und uns deshalb mehr mit ihren Folgen beschäftigen. Das Tor ist für uns sowieso ein nur schwer zu ertragender Anblick: Wir sehen ausschließlich Kaskaden von rieselndem Salz, Unmengen von vernichtetem Wasser. In das, so dachten wir, verwandelt sich unsere Welt also, wenn sie durch das Tor abfließen würde, in eine Salzwüste ohne jedes Leben. Du kannst dir bestimmt vorstellen, wie grauenhaft die schiere Vorstellung für ein Volk ist, das sich die Fließenden nennt. Nur ich ahnte, dass hinter dem Strom aus Totem Wasser eine Welt wartet, die zwar anders ist als unsere, aber nichtsdestotrotz vor Leben pulsiert. Schließlich habe ich mich in all den Jahren um Madelin gekümmert.«
»Du hast gesagt, einer der Gründe, warum die Wahl auf dich gefallen ist, lag in deiner Gabe, ein Stück deiner Heimat mit dir auf die Reise zu nehmen. Aber du hattest noch einen anderen Grund hierherzukommen, nicht wahr?«
Tammo musterte mich lang und eindringlich. »Du siehst deiner Mutter so verblüffend ähnlich. Für alle anderen war es eine lästige Pflicht gewesen, sie atmen zu lassen, für mich nie.«
»Vielleicht gelingt es Sander, sie wieder zu uns zurückzubringen«, dachte ich laut nach. »Schließlich hat er die Salzzeichen geschaffen … Er könnte es schaffen.«
»Schon möglich, dass ihm ein solches Kunststück gelingen würde, nur würde das an Madelins Zustand nichts ändern, so leid es mir tut. Ich habe sehr viel Zeit mit ihr verbracht und jede ihrer verbliebenen Regungen kennengelernt.« Tammo zögerte, und ich ahnte, dass er davor scheute, mich zu verletzen. Aber vor der Wahrheit darf man sich nicht fürchten, erinnerte ich mich an Grandmamas Worte und blickte ihn fordernd an. »In meiner Welt ist Madelin eine Träumerin, die nicht mehr erwachen wird, aber sie wird auch niemals so tief einschlafen, dass es für sie kein Zurück gibt«, fuhr Tammo schließlich fort. »Hier wäre das anders, niemand kann ihren Geist halten, sie wäre eine Komapatientin, deren Körper eines Tages versagt.«
Madelin ist eine Komapatientin, schon seit vielen Jahren … Diese Vorstellung traf mich tiefer als das Bild einer sanft dahingleitenden Träumerin, die für immer außerhalb meiner Reichweite bleiben würde. Es änderte jedoch nichts an dem Schmerz, den diese Eröffnung mir bescherte. Unwillkürlich wehrte ich Tammos Hand ab. »Lass, es geht schon, ich bin dir dankbar dafür, dass du es mir gesagt hast. So kann ich wenigstens meinen Frieden schließen.«
»Genau das hoffe ich für mich ebenfalls.« Tammos Stimme war nicht mehr als ein Wispern. »Ich habe mich für deine Mutter verantwortlich gefühlt, manchmal sogar mehr als das. Deshalb bin ich gekommen, um zu vollenden, was sie begonnen hat.«
»Meine Mutter wollte den Jungen retten, von dem sie glaubte, er würde die Hand in seiner Pein hilfesuchend nach ihr ausstrecken. Sie hat alle Ängste und Bedenken beiseitegeschoben und ist ihm zu Hilfe geeilt.« Meine Worte waren kaum zu verstehen, aber ich musste sie unbedingt aussprechen.
»Das wollte Madelin, daran besteht kein Zweifel.«
Tammos Bestätigung brach alle Dämme in mir. Ich rollte mich auf meinem Bett zusammen und ließ es geschehen, gab mich dem Schmerz hin, aber auch der Genugtuung, dass der Grund für die Trennung, unter der ich so gelitten hatte, Mitleid und Erbarmen gewesen waren. Madelin hatte Sander retten wollen und war deshalb verloren gegangen. Damit würde ich leben können, auch wenn es schmerzte.
Während ich mich tränenüberströmt und am ganzen Körper bebend zusammenkugelte, rutschte Tammo an meinen Rücken und legte mir beruhigend eine Hand auf. Allem Anschein nach war mein Weinen dermaßen laut, dass sogar Lutz sich berufen fühlte, seinen Wurstkörper aufs Bett zu hieven und mir mit Hundesabberzunge und Fiepgeräuschen seine Anteilnahme zu bestätigen, ehe er sich eng an mich presste. Ich war froh über alles, was ich an Zuneigung bekam, und zum ersten Mal auch froh, meinen Tränen freien Lauf zu lassen.
»Geht es wieder?« Tammos Stimme schien von weit her zu kommen.
Ich schniefte wenig damenhaft und brachte ein dumpfes Ja zustande.
»Okay. Ich sehe in deinem Badezimmer mal nach Taschentüchern. Oder besser nach einem Waschlappen. Einem großen.«
Ich lächelte, aber nur innerlich, alles andere war mir gerade zu anstrengend. Mein Kopf fühlte sich an, als sei er mit Blei gefüllt, und ich war sogar zu erschöpft, um die Haarsträhne wegzuwischen, die zwischen meinen nassen Wimpern klebte. Als Tammo mit einem Waschlappen und einem Zahnputzbecher mit Wasser zurückkehrte, setzte ich mich schwerfällig auf. Der feuchte Lappen war eine Wohltat und auch das Leitungswasser schmeckte herrlich.
»Soll ich Nachschub holen?«
»Gern, schließlich sollte ich dringend meine Wasserreserven auffüllen, bevor ich mit der Heulerei in die zweite Runde gehe.«
Obwohl es Unsinn war, überkam mich Verlegenheit, weil ich mich vor Tammo so hatte gehen lassen. Anstatt jedoch peinlich berührt nach meiner Heulattacke die Zimmerdecke zu studieren, blickte er mich unverwandt an. Für ihn war ich offenbar kein Häufchen Elend mit Schniefnase, sondern ein Mensch, der das Recht hatte, in seiner Trauer zu weinen. Mir kam es beinahe so vor, als würde mich mein Gefühlsausbruch für ihn nur noch anziehender machen.
»Wenn es das Richtige für dich ist, das Kissen in einen nass triefenden Schwamm zu verwandeln – nur zu. Du hast in den letzten Tagen viele Schrecken und Verluste hinnehmen müssen, da kann man sich nicht unentwegt zusammenreißen. Meinetwegen musst du das jedenfalls nicht tun.«
Das war eine sehr fürsorgliche Antwort, und sie wärmte mich, aber zugleich wurde mir auch klar, dass mir eine schnippische Entgegnung noch lieber gewesen wäre. Ein Spruch, der mich zum Lachen brachte, während ich gleichzeitig vor Empörung auf hundertachtzig schaltete.
»Mir fehlt Sander, dabei ist er erst ein paar Stunden weg«, gestand ich Tammo. »Außerdem habe ich schreckliche Angst, unabhängig davon, ob die Fließenden ihn erwarten oder nicht. Ich kann es ertragen, dass Madelin auf der anderen Seite Tiamats träumt, aber sollte ich auch noch Sander verlieren, dann werde ich verrückt. Richtig ernsthaft verrückt. In mir baut sich jetzt schon das dringende Verlangen auf, mich häuslich vor dem Tor einzurichten und immer wieder zu sagen: ›Gleich ist er wieder da. Gleich. So, wie er es versprochen hat.‹ Und egal, wie sehr ich mich auch bemühe, zuversichtlich zu sein, flüstert mir eine innere Stimme unentwegt zu, dass am Ende aller Geschichten der Tod steht.« Ich hob die Hand, als Tammo mich unterbrechen wollte, um etwas Beschwichtigendes zu sagen. »Laboes Grandmama hat die Gabe, in die Zukunft zu sehen. Sie hat Sander die Karten gelegt, und sie haben gezeigt, dass der Tod auf ihn wartet.«
Tammos Augenbrauen fuhren nachdenklich zusammen, als erscheine es ihm abwegig, dass Sanders Geschichte so gut wie auserzählt sei. »Und mehr war da nicht, nur der Tod?«
»Doch, da war noch etwas.« Warum fiel es mir schwer, diese letzte gelegte Karte zu benennen? »Ich habe nur irgendwie den Verdacht, dass Grandmama in der Reihenfolge durcheinandergekommen ist. Den Schlussakkord bildeten ›Die Liebenden‹, aber die haben ihren Dienst bereits geleistet … Wir haben darüber gesprochen, was wir füreinander empfinden.« Was eine glatte Übertreibung war. Fest stand nur, dass wir kaum die Finger voneinander lassen konnten, seit wir diesen neuen Weg betreten hatten. Seine Liebe hatte Sander mir keineswegs gestanden. Jedenfalls nicht offiziell.
»Anouk, kann es sein, dass du dich selbst schützt, indem du von vornherein vom Schlimmsten ausgehst?«
Ich ließ resigniert die Schultern sinken. »Ich weiß es nicht. Aber ich sollte langsam in den Keller zurückkehren und meinen Vater davon überzeugen, mir die Wacht über Tiamat zu überlassen. Nicht um nicht verrückt zu werden, sondern um da zu sein, wenn Sander zurückkehrt. Sonst nutzt er vielleicht noch die Chance, sich direkt wieder aus dem Staub zu machen, um seine neu entdeckte Identität als Fließender im Ewigen Meer zu feiern.«
Tammos Mundwinkel hoben sich zu einem breiten Lächeln an. »Tja, ich persönlich hatte auf dem Grund meines Tropfens eher den Eindruck, dass Sander sich keine Sekunde länger als nötig von deinen Lippen lösen würde.«
»Herr Freibaum, also wirklich!« Mit gespielter Empörung warf ich den Waschlappen nach ihm.
»Schon gut, ich hör ja schon auf. Außerdem muss ich ebenfalls los, meine neuen Eltern brechen zu einem Wochenendtrip auf, und ich habe Becks versprochen, dass wir beide heute Abend was zusammen machen. Diese ganze Familiensache ist voll der Eiertanz. Ich weiß zwar, wie ich mich benehmen sollte, damit alle denken, ich sei ganz der Alte, allerdings klappt das bislang nicht sonderlich gut. Besonders Becks scheint misstrauisch zu werden. Wenn ich ihre Reaktionen richtig deute, befürchtet sie, ich hätte ein paar bewusstseinserweiternde Drogen eingeschmissen. Lange werde ich mich wohl nicht mehr hinter der Krankheitsgeschichte verstecken können.«
Schlagartig stieg mir vor schlechtem Gewissen Hitze ins Gesicht. Da ließ ich mich von Tammo trösten und umsorgen und verschwendete im Gegenzug nicht einen Gedanken an seine Lage. Er war in einer fremden Welt, gefangen in einem fremden Körper, gezwungen, ein Leben zu leben, das seiner Natur in keinerlei Hinsicht entsprach, und musste dabei auch noch Menschen Vertrautheit vortäuschen, die ihm im Grunde fremd waren. Bei Sander war es etwas anderes gewesen, denn er hatte schließlich keine Erinnerung an sein früheres Leben besessen, aber Tammo wusste, was er verloren hatte. »Die Freibaums sind wirklich eine tolle Familie, nicht nur hinsichtlich des coolen Pools. Die Mama ist eine total Liebe, und Becks ist schlichtweg klasse – und das sage ich nicht nur, weil sie meine Freundin ist. Du hast mit deiner Wahl Glück gehabt.«
»Ist nur die Frage, ob die Freibaums auch Glück mit mir haben. Ich habe ja einiges vom alten Tammo mitbekommen, der war komplett anders, als ich es bin. Seine Erinnerung und mein Wesenskern … Das ergibt eine seltsame Mischung.«
»Nur für den Fall, das es dich interessiert: Ich mag das Ergebnis. Und Becks mag es auch, das hat sie mir gesagt. Dass hinter dem ›neuen‹ Tammo kein Entwicklungsschub oder gar eine Erleuchtung steckt, muss sie ja nicht unbedingt wissen. Sie hat sogar ein bisschen Sorge, dass der ganze Zauber plötzlich wieder vorbei sein könnte. Also mach dir nicht zu viele Sorgen.«
Ein trauriges Lächeln erschien auf Tammos Gesicht. »Becks mag mich, weil sie nicht weiß, wer ich in Wirklichkeit bin. Andernfalls würde sie mich zweifelsohne hassen, schließlich habe ich einen Großteil dessen verdrängt, das ihren Bruder als Menschen ausgemacht hat. Ich kann mich an die gemeinsame Kindheit erinnern und kenne ihre Lieblingseissorte, während mein Wissen über das Ewige Meer mit jeder Stunde mehr zu verblassen droht. Doch selbst wenn mir das gemeinsame Leben vor Augen steht, bin ich noch lange nicht ihr Bruder.«
Dazu wusste ich nichts zu sagen. Der Weg, für den Tammo sich entschieden hatte, als er durch das Tor trat, um Sander seine wahre Bestimmung zu offenbaren, war nicht nur schwer, sondern er schloss auch jede Rückkehr aus. »Wie heißt du eigentlich wirklich?«
Mit einer flüchtigen Geste berührte Tammo die silberne Phiole um seinen Hals, in der er den Tropfen aus dem Ewigen Meer aufbewahrte. Dabei blieb eine schimmernde Spur, die aussah wie von Sonnenlicht beschienenes Wasser, an seinen Fingern zurück. »Ich hatte keinen Namen, genau, wie ich in Wirklichkeit keine wahre Form angenommen hatte. Alles, was ich war, war ein Funken Ich, nicht mehr. Das ist mir erst bewusst geworden, als ich mich um Madelin kümmerte und in ihre Träume und in die Reste ihrer Erinnerung blickte. So gesehen habe ich dazugewonnen, obwohl es nichts daran ändert, dass ich mich wie ein Gefangener in diesem langsam zerfallenden Körper fühle. Ich weiß erst jetzt, was es bedeutet, ein Mensch zu sein.«
»Es wird besser werden im Laufe der Zeit«, versprach ich Tammo und schwor mir zugleich, dafür zu sorgen, dass es sich bewahrheitete. Dann ergriff ich seine Hand und nahm ihn mit auf den Flur hinaus, ganz darauf konzentriert, jeden Laut und jedes Bodenknarren in Himmelshoch wahrzunehmen. Das Letzte, was ich wollte, war eine unfreiwillige Begegnung mit Jakob. Mein Vater würde vermutlich die Fassung verlieren, wenn er mitbekam, dass ich Gäste ins Haus ließ. Deshalb warf ich noch einen raschen Blick über die Schulter, als ich die Haustür aufzog. Als sich Tammos Finger fester um meine schlangen, blickte ich ihn verwundert an, dann hörte ich eine Frauenstimme. Eine gereizte Frauenstimme, voll offenkundiger Empörung.
»Du hast einen Besucher, Anouk?«
Filippa Margold trat ins Foyer ein, bevor ich etwas dagegen unternehmen konnte.