3. Die Torwächter

Das Tor im Kellergewölbe unter unserem altehrwürdigen Herrenhaus war gewiss auf seine Weise einzigartig, keineswegs jedoch das Einzige seiner Art.

Es gab andere Tore.

Zu viele Tore.

Wobei die Bezeichnung ›Tor‹ irreführend ist, denn es handelte sich keineswegs um gemauertes Bogenwerk, sondern um Bruchstellen zwischen unserer Welt und einer anderen Seite, die sich in ganz verschiedenen Gewändern zeigte. Unter Himmelshoch lauerte ein gewaltiger Maelstrom darauf, Marienfall und alles andere, was sich ihm in den Weg stellte, zu verschlingen. Aber es gab auch winzige Tore, die nicht mehr waren als schwarze Löcher mitten im leeren Raum, in denen man nur den Wind rauschen hörte. Den Finger steckte man trotzdem besser nicht hinein, zumindest nicht, wenn man an ihm hing. Es gab flüsternde Tore, die jedem, der ihnen lauschte, den Verstand verdrehten und ihn von einer Dimension erzählen ließen, die unbedingt geöffnet werden müsse, damit der Meister Einzug hielt. Dazu müsse man nur ausreichend menschliches Blut opfern und die gut drei Dutzend Jungfrauen, von denen es zu stammen habe, am besten gleich mit. Das klingt witzig, war es allerdings nicht, wenn man bedachte, mit welcher Hingabe diese armen Leute an ihrer Mission festhielten und wie viele Opfer es deshalb bereits gegeben hatte. Es gab Spiegelsäle, die eine Schattenwelt offenbarten, die sich nur mit grellem Licht zurückdrängen ließ, brennende Feldspalten, die sich nur allzu gern ausgeweitet hätten, und ein Tor am Grund des Atlantiks, aus dem Blasen aufstiegen, die einen geheimnisvollen Inhalt in sich trugen. Niemand wusste, woraus er bestand, denn wenn man sie mit Gewalt öffnete, erklang nur ein Schmerzensschrei. Abzuwarten, dass sich die Blasen von selbst öffneten, hatte bislang offenbar keiner der Wächter in Betracht gezogen. Schließlich lautete ihre oberste Regel, sofort alles auszulöschen, was durch ein Tor kam.

Lass nichts und niemanden raus …

Immer wieder traten Besucher durch die Tore, Wesen, die auf unserer Seite Chaos und Zerstörung hervorriefen. Niemand wusste, ob sie es darauf anlegten, aber bislang war noch von keinem Besucher berichtet worden, der einfach nur mal ›Guten Tag‹ sagen wollte – einmal davon abgesehen, dass sie dazu kaum die Chance hatten, denn die Wächter nahmen ihren Job, wie gesagt, ziemlich ernst. Angeblich war das Risiko, das die Besucher darstellten, viel zu groß, um erst einmal abzuwarten, ob die Gestalt mit dem Blitze schleudernden Stab im Grunde genommen Gutes im Schilde führte, obwohl alles um sie herum lichterloh in Flammen aufging.

Dass die Tore eins der bestgehüteten Geheimnisse der Menschheit waren, war dem Dienst des Wächterzirkels geschuldet, der es seit Jahrhunderten als seine Aufgabe sah, noch unentdeckte Tore ausfindig zu machen und sie zu bewachen. In beiden Bereichen hatten sie Perfektion erlangt, sodass nicht mehr als einige Gerüchte über die Besucher im Umlauf waren, die sich meistens als Spinnereien abtun ließen. Wer nahm sie schon ernst, die Ufo-Gläubigen, Weltuntergangsfanatiker und Esoterikanhänger? Auch Menschen, die angeblich von Wahnvorstellungen heimgesucht wurden, lieh selten jemand sein Ohr, und sogar die Satanisten mit ihrer Überzeugung, das Böse lauere irgendwo dort draußen auf seine Chance, zu uns durchzudringen, entlockte den meisten nur ein müdes Lächeln.

Lass nichts und niemanden rein …

In dieser allgemeinen Ahnungslosigkeit zeigte sich der Erfolg der Wächter am stärksten, und zugleich spiegelte er die Entschlossenheit, mit der sie vorgingen. Denn wie würde eine Gesellschaft aussehen, die sich bewusst war, dass es mehr als eine Welt gab? Und damit meine ich nicht etwas Abstraktes wie das Paradies, sondern etwas sehr Reales, wie ein kolossales Monstrum, das geduldig darauf wartet, dass der Gletscher vor seinem Tor endlich abtaut, damit es zu uns rüberkann? Richtig, Verunsicherung wäre noch eine milde Beschreibung der dann vorherrschenden Stimmung. Ein Großteil der Menschen würde vermutlich sein Grundvertrauen verlieren und verzweifeln. Das Leben ist ohnehin schon unvorhersehbar genug, da möchte man keinen Gedanken daran verschwenden müssen, dass sich plötzlich ein magisches Tor vor der eigenen Haustür öffnet und eine Horde intelligenter Kakerlaken herausströmt, mit der Absicht, die Weltherrschaft an sich zu reißen.

Im Vergleich zu den meisten Toren war Tiamat rein optisch zwar beeindruckend, aber noch verhältnismäßig leicht unter Kontrolle zu halten. Da hatten es andere Wächter oftmals schwerer, denn ihre Tore befanden sich nicht immer an gut verborgenen Orten und waren von ihren Ausmaßen her oft unübersichtlich. Außerdem tauchten deren Besucher nicht bloß sporadisch auf, sondern forderten eine intensive und oftmals lebensgefährliche Überwachung. Nur wenige Wächter konnten sich den Luxus erlauben, neben ihrer Aufgabe einem normalen Leben nachzugehen oder gar ein Familienleben zu führen, das diesen Namen verdiente. Für die meisten Wächter stellten ihre Kinder vor allem Rekruten dar. Sie waren eine eingeschworene Gemeinschaft aus Frauen und Männern, die sich dem Wohl der Allgemeinheit verschrieben hatten, ohne dafür einen Lohn zu erhalten außer dem Wissen, die Welt, wie wir sie kennen, zu erhalten und zu schützen.

Die Wächter … Ein geheimnisvoller Orden.

Allerdings nicht in meinen Augen, denn schließlich lebte ich mit zwei von ihnen seit meiner Kindheit unter einem Dach – auch wenn mein Vater sich niemals als Wächter bezeichnete und dem Zirkel eher distanziert gegenüberstand. Während er seiner Aufgabe mit dem für ihn typischen Eifer nachging, legte er zugleich großen Wert darauf, eigenständig zu arbeiten und den Einfluss der Wächter so gering wie möglich zu halten. Das Kraftfeld war dabei eine große Hilfe. Ich stand in dieser Hinsicht vollkommen hinter ihm, schlicht, weil mir der Zirkel nicht geheuer war mit seiner stur geradeaus blickenden Art. Einmal ganz davon abgesehen, dass wir unser Zuhause in der Sekunde verloren hätten, in der bekannt wurde, dass auch durch unser Tor Besucher drangen.

Im Gegensatz zu meinem Papa und Sander hegte ich nicht bloß Misstrauen gegenüber den Wächtern, sondern brachte auch eine satte Portion Unfähigkeit für den Job mit. Anstatt den Besuchern zu zeigen, wo es bei uns langging, gelang mir höchstens die perfekte Flucht. Sander konnte ein Lied davon singen, denn sein Job war die Sicherheit rund um Tiamat, während Jakob für die Salzzeichen und den Austausch mit dem Zirkel zuständig war. Der Schutzraum, den ich bei Gefahr sofort und unter allen Umständen aufzusuchen hatte, war deshalb auch von Sander angelegt worden. Er war nämlich recht schnell zu der Überzeugung gelangt, dass ich mich in der Nähe des Tors am Nützlichsten machte, indem ich nicht im Weg stand und mich unfreiwillig als Zwischenimbiss für die Besucher anbot.

Mein schlechtes Gewissen, keine große Hilfe zu sein, hielt sich in Grenzen. Nur weil ich eine Parson war, war ich noch lange keine geborene Wächterin – gerade angesichts des Krakenmannes hatte ich das wieder einmal eindrucksvoll bewiesen. Dafür konnte ich voller Stolz behaupten, dass aus mir, den widrigen Umständen zum Trotz, ein ganz normales Mädchen geworden war, dem es sogar in einem Haus voller besucherbedingter Veränderungen gelang, ein Alltagsleben zu führen. An dieser Aufgabe war Sander hingegen sang- und klanglos gescheitert, und um das zu erkennen, musste man sich gar nicht erst seinen vollkommen verdrehten Klamottengeschmack ansehen. Wer sonst hauste freiwillig in einem Kellerloch, pseudo-studierte Physik per Fernstudium und gestand sich nur ein Privatleben in der Nacht zu, wenn es darum ging, sich um den Verstand zu feiern? Dabei gehörte ich der vierten Generation von Wächtern in der Familie der Parsons an. Nur mit dem Unterschied, dass ich die Erste in dieser langen Reihe war, die eindeutig ungeeignet war. Das hatte ich – dank Superwächterin Filippa Margolds Einsatz – bereits als Kind unter Beweis gestellt.

TIAMAT – Liebe zwischen den Welten
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