Epilog

»Egal, wie sehr man auf die guten alten Zeiten schwört, ich bin mir sicher, dass man nicht aus der Historikergilde ausgeschlossen wird, nur weil man beim Schreiben einen Computer anstelle eines Federkiels benutzt.«

»Ich benutze einen Füller und keinen Federkiel. Den Unterschied solltest selbst du erkennen.«

»So ganz ohne Brille? Unmöglich.«

Sander lag neben mir Gras, die Arme hinterm Nacken verschränkt und blinzelte mich an. Die Frühlingssonne hatte sich endlich hinter den Wolken hervorgekämpft und innerhalb weniger Tage das Grün hervorbrechen lassen, das nun von Lutz bereits wieder kräftig umgepflügt wurde. Diese Bulldogge buddelte für ihr Leben gern. Obwohl unser Garten größtenteils aus einem Krater bestand, hatte ich mich nicht davon abbringen lassen, die Picknickdecke auszubreiten und den schönen Tag zu genießen. Eigentlich hatten wir mit Sander einige von unseren Sachen holen wollen, denn wir wohnten vorübergehend auf dem Hof der Laboes. Vorübergehend aus meiner Sicht. Ich war nämlich fest entschlossen, Himmelshoch trotz der vielen erlittenen Schäden nicht aufzugeben. Egal, was an diesem Ort geschehen war, es war mein Zuhause.

Die angebliche Naturkatastrophe, die Himmelshoch und meinem Vater widerfahren war, lockte immer noch Schaulustige an, die über die eingebrochene Grundstücksmauer auf das zum Garten hin fassadenlose Herrenhaus blickten. Ein Erdbeben in Marienfall – so etwas hatte es noch nie gegeben, darin waren sich alle einig. Was für ein Glück, dass es nur dieses alte, unheimliche Gemäuer erwischt hatte! Sander und ich hatten unser Lager seitlich der Büsche aufgeschlagen und waren damit weitgehend unsichtbar für neugierige Blicke. Davon einmal abgesehen war die allgemeine Aufmerksamkeit ein Segen, denn sie hielt den Wächterzirkel auf Abstand. Tiamat war besiegt und ihre Spuren vom Antlitz der Welt getilgt, das bedeutete allerdings noch lange nicht, dass Filippa und ihresgleichen nicht noch eine Rechnung mit uns offen hatten.

Ich legte meinen Schreibblock beiseite und beugte mich über Sander, der mich erwartungsvoll anlächelte. »Vielleicht sollte ich tatsächlich auf Federkiele umsteigen, dann hätte ich wenigstens etwas in der Hand, um dich zu kitzeln.«

»Das kannst du doch auch so.«

So leicht wie nur irgendwie möglich ließ ich meine Lippen von seinem Hals zum Schlüsselbein gleiten. Als ich eine der blauen Linien kreuzte, verspürte ich ein Kribbeln. »Du kannst das offenbar auch.« Ich deutete auf die Gänsehaut auf meinen nackten Unterarmen.

»Ich kann das sogar noch besser. Viel besser.«

Sander zog mich zu sich hinab und küsste mich, zärtlich und verspielt und mit einer gewissen Vorsicht – so, wie er es stets getan hatte, seit Jakob an seiner Stelle Tiamat die Stirn geboten hatte. Und damit gab er mir genau das, was ich im Augenblick am meisten brauchte: Nähe und Halt, Zutrauen und vor allem Zeit. Denn auch wenn ich die Entscheidung meines Vaters nachvollziehen konnte, so änderte das nichts an der Trauer, die mich immer wieder überkam. Obwohl ich wusste, dass meine Eltern weiterlebten – wenn auch auf eine andere Art –, so waren sie für mich doch verloren. Der einzige Weg zu ihnen war unumstößlich verschlossen.

Ich kuschelte mich an Sanders Seite und blickte in den Himmel. »So weit …«

»Ganz ohne Grenzen«, setzte er leichthin nach. »Als wäre mit Tiamats Verschwinden eine Kuppel über Marienfall aufgebrochen. Als wären wir endlich frei.« Sander stockte. »Ein ziemlich verrückter Gedanke. Solche Dinge gehen mir in der letzten Zeit häufiger durch den Kopf, frage mich nicht, warum.«

»Nun, ja. Es stimmt doch. Du bist frei, nichts hält dich mehr fest. Alles, was du tun musst, ist die Bandit aus der Garage holen und losfahren. Genau danach hast du dich doch immer gesehnt.«

»Mag sein, aber ich glaube nicht, dass das noch die richtige Antwort für mich ist. Weggehen, meine ich. Ich habe zum ersten Mal das Gefühl, wirklich angekommen zu sein. Warum sollte ich da woandershin wollen?«

Ich schmiegte mein Gesicht an Sanders Brust und lächelte. Jahrelang hatte er unter Fernweh gelitten und nun war es mit einem Schlag verflogen. Fast glaubte ich, die Veränderung in seinen Bewegungen zu sehen, in seiner Stimme zu hören … Wie hatte er gesagt? Er war angekommen. Nun würden wir dafür sorgen müssen, auch bleiben zu können. Selbst wenn wir unsere Angelegenheiten in Marienfall gelöst hatten, wäre da immer noch der Wächterzirkel, den wir nicht nur gegen uns aufgebracht hatten, sondern über den wir mehr wussten als ihnen lieb sein konnte. Bislang hatten Sander und ich dieses Thema gemieden, weil wir zu bedrückt und mitgenommen von den Geschehnissen waren. Das änderte jedoch nichts daran, dass ich nachts wach neben ihm lag, wenn er sich unruhig von einer Seite auf die andere wälzte, von Albträumen heimgesucht. Dann fragte ich mich, wann sie wohl kommen würden. Um ihn zu holen. Das einzige Wesen, von dem sie wussten, dass es ein Tor durchquert hatte und ihnen entkommen war.

Eine dunkle Ahnung beschlich mich und ließ mich unwillkürlich auf meinen Schreibblock schauen, in dem ich in meiner Rastlosigkeit niederschrieb, was mir und den Menschen, die mir nahestanden, durch Tiamats Erscheinen widerfahren war.

»Wenn du willst, kann ich dir meinen Laptop leihen«, sagte Sander, als habe er meine Gedanken gelesen. »Es wäre schade, wenn deine Schreibereien Lutz oder jemand anderes zum Opfer fielen. So eine Datei kannst du überall ablegen, sogar an verschiedenen Orten. Zur Sicherheit, verstehst du?«

»Ja.« Behutsam strich ich ein Eselsohr glatt. »Ich glaube, das sollte ich tun. Das, was ich schreibe, ist zwar ein Geheimnis, aber …«

»… aber das ist es nur so lange, wie du es für richtig hältst«, half Sander mir aus. »Sobald sich das ändert, kann man alles Geschriebene öffentlich machen. Darum geht es dir doch, oder? Ich gebe es nur ungern zu, aber wenn es um die Wahl der Waffen ging, hast du schon immer die richtige Entscheidung getroffen. Eine gewisse Person sollte sich besser warm anziehen, falls sie sich erneut mit dir anlegen sollte.«

»Gilt das für dich etwa nicht?«

Sanders Miene war zuerst verschlossen, dann grinste er mich an. »Sicher. Und nur um das rasch zum hundertsten Mal klarzustellen: Ich kann allein auf mich aufpassen, dazu brauche ich keine todesmutige Beschützerin.«

Ich zwickte ihn in die Rippen. »Red dir das ruhig ein.«

»Nein, ernsthaft, Anouk. Wenn sie kommen sollten, um mich zu holen, werde ich mich schon zu wehren wissen. Aber bis dahin sehen wir zu, dass wir unser Leben auf die Reihe bekommen und Himmelshoch wieder ein Zuhause wird. Lass uns das gemeinsam tun, damit werden wir schon beschäftigt genug sein. Über etwas anderes musst du dir vorläufig keine Sorgen machen.«

Beinahe hätte ich Sander zugestimmt. Dann bemerkte ich jedoch ein Flackern in seinen Augen, eine nur schwerlich zu unterdrückende Wut. Die Dinge, die ihm die Wächter angetan hatten, hatten Narben hinterlassen – solche die ich ertastete, wenn ich mich an ihn schmiegte, und solche die ich lediglich erahnen konnte, weil sie unsichtbar, aber nichtsdestotrotz tief waren. Diese Narben an seiner Seele würden ihm keine Ruhe lassen. »Und was ist dann? Wirst du danach allein losziehen und den Wächtern zeigen, mit wem sie sich angelegt haben?«

Sanders Schweigen verriet ihn.

»Wenn du gegen den Zirkel antrittst, dann gehe ich mit«, erklärte ich so entschlossen, dass es mich selbst überraschte. »Denn es geht um weit mehr als Rache oder unsere persönliche Sicherheit. Das Tor unter Himmelshoch war nicht das einzige. Wer weiß, was die Wächter an anderen Orten für Unheil anrichten, weil sie um jeden Preis an ihren Regeln festhalten. Stell dir vor, sie vernichten Geschöpfe, die uns überhaupt nicht böse gesinnt sind. Oder versagen an gefährlichen Toren, wie sie bei Tiamat versagt haben. Hätten die Wächter sich durchgesetzt, dann wäre hier jetzt nichts als Salz.«

»Hört, hört, Ritterin Anouk will in die Schlacht ziehen.«

»Das will ich nicht. Ich will mit dir im Gras liegen und in den blauen Himmel schauen. Nur hat es ganz den Anschein, als bliebe mir nichts anderes übrig. Im Augenblick haben die Wächter sich zurückgezogen und lecken ihre Wunden, geschockt von der Tatsache, ein Tor vollkommen falsch eingeschätzt zu haben. Dabei werden sie es jedoch nicht belassen. Und selbst wenn der Zirkel es dabei belassen sollte, so ist da immer noch Filippa Margold. Sie will dich – und sogar wenn es dir gelingen sollte, dich ihr zu entziehen, dann bleibt immer noch die Frage, was aus Tammo wird, nachdem er ein Dutzend Wächter in einen Tropfen gesperrt hat.«

Sander kratze sich mit einem Grashalm am Kinn. »Das treibt dich also um. Ich hatte es mir schon fast gedacht, dass dein Schweigen noch lange nicht bedeutet, dass du Ruhe gibst.« Er klang erstaunlich erleichtert über meine Reaktion. Allem Anschein nach hatte er sich mehr Sorgen um mich gemacht, als er mir gegenüber jemals eingestanden hätte. »Gut möglich, dass Filippa einen Verdacht gegen Tammo hegt, er ist sich nicht sicher, ob sie ihn nach der Show nicht als Besucher aus dem Ewigen Meer durchschaut hat.«

»Du hast mit Tammo darüber geredet?« Dass diese beiden Streithähne sich hinter meinem Rücken miteinander austauschten, überraschte mich so sehr, dass ich nicht einmal auf die Idee kam, mich darüber aufzuregen, dass sie mich bei ihren Diskussionen außen vor ließen.

Sander nickte, nicht die Spur verlegen. »Klar, schließlich muss unser kleiner Trupp zusehen, dass wir auf alles vorbereitet sind. Becks meinte allerdings, dass du im Moment noch nicht emotional belastbar bist, deshalb haben wir schon einmal ohne dich mit der Planung von ›Bewachte Wächter‹ gestartet.«

»Becks ist bei eurer Verschwörung also ebenfalls mit von der Partie?«

»Selbstverständlich.« Der Blick, mit dem Sander mich bedachte, verriet, dass ich in seinen Augen gerade bewies, dass ich emotional nicht bloß auf wackligen Füßen stand, sondern auch verstandesmäßig nicht rund lief. »Der Name für unser Projekt stammt übrigens von Laboe – und bevor du fragst: Wir haben Moritz in die Sache eingeweiht. Eine super Idee übrigens, endlich hat sein Leben einen Sinn. Was so ein Hauch von Abenteuer alles bewirken kann.«

»Die Wächter sind doch kein Abenteuer! Die sind gefährlich und skrupellos. Was die allein dir innerhalb kürzester Zeit angetan haben … Die halten Moritz bestimmt für einen Besucher, wenn der in deren Fänge gerät. Ihr seid Wahnsinnige, alle miteinander.«

Das befreite Lachen, das Sander ausstieß, ließ mich die Lippen fest aufeinanderpressen, um weitere Wutausbrüche in Schach zu halten. Belustigen wollte ich ihn nämlich keineswegs. Nachdem er sich einigermaßen beruhigt hatte, kitzelte er mich mit dem Grashalm unterm Ohrläppchen, bis ich zumindest ansatzweise grinste.

»Das sind wir wirklich – Wahnsinnige«, gestand er ein. »Weil wir der Meinung sind, dass man den Wächterzirkel nicht länger frei und im Geheimen walten lassen darf. Aber genau zu der Überzeugung bist du doch ebenfalls gelangt. Oder schreibst du etwa bloß deine Sammlung an Lebensweisheiten in diesem Notizblock, den du unentwegt mit dir herumträgst, nieder?«

Erwischt. »Ehrlich gesagt, habe ich ja schon länger mit der Idee gespielt, über die Wächter zu schreiben. Nur wirkt so eine Chronik ein wenig langweilig und ich weiß ja bestenfalls ein Bruchstück. Warum sich die Tore geöffnet haben oder wer die Wächter in Wirklichkeit sind, darüber weiß ich nichts. Noch nicht.«

»Willkommen bei den Wahnsinnigen«, sagte Sander und besiegelte meinen Beitritt mit einem Kuss.

Blogeintrag von torwächter

Mein Name ist Anouk Parson. Mein Vater war, wie Generationen der Parsons zuvor, ein Wächter. Ein echter Wächter. Ihm ist es gelungen, ein Tor zwischen unserer und einer anderen Welt zu verschließen, bevor es zu einer Katastrophe gekommen ist. Damit ist die Aufgabe meiner Familie jedoch noch nicht beendet, denn es gibt noch andere Tore, und vor allem gibt es dort draußen einen mächtigen Zirkel, der seine Geheimnisse viel zu lang bewahrt hat. Das wird sich nun ändern. Und zwar genau … Jetzt.

TIAMAT – Liebe zwischen den Welten
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