13. Veränderdich
Es war bereits Abend, als ich mich von Becks verabschiedete und nach Hause ging. Lutz und ich waren ordentlich durchgefroren von dem Marsch durch die Felder, aber im Gegensatz zu ihm war ich der reinste Sonnenschein. Dieser Hund ließ hängen, was er hatte: Schlappohren, Lefzen und Stummelrute. Während des Spaziergangs hatte er mich weitgehend ignoriert, als würde er es mir übel nehmen, dass er Tammo nicht hatte bei lebendigem Leibe auffressen dürfen. Dabei hielt ich es schlecht aus, von meinem Hund mit Missachtung gestraft zu werden. Nachdem ich allerdings sein Fell mit einem Handtuch trocken gerieben und seinen Fressnapf gefüllt hatte, gab er sich versöhnlich und verpasste mir einen unter normalen Umständen verbotenen Hundekuss mitten auf den Mund. Ich unterdrückte ein ›Igitt‹, denn schließlich war ein Friedensangebot ein Friedensangebot.
Ich machte mir gerade eine heiße Milch mit Honig, als Sander sich zu uns in die Küche gesellte. Offenbar hatte er gerade trainiert, denn seine Wangen waren gerötet und er trug die dafür typische schwarze Baumwollhose. Die Brille hatte er in den Ausschnitt seines T-Shirts eingehängt, die ihn einen Tick zu tief runterzog. Einige blaue Schnörkel waren zu sehen, die tatsächlich wie stilisierte Wellen aussahen … der geschwungene Bogen seines Schlüsselbeins … die leichte Kuhle darunter, genau wie ein Teil seiner Brust. Im nächsten Moment wunderte ich mich über mich selbst. Himmel! Seit wann kümmert mich so etwas? Becks Sichtweise war höchst ansteckend, so musste es sein. Ich wendete mich ab, nicht nur wegen des Ausschnitts, sondern auch weil ich absolut keine Lust auf seine Gesellschaft hatte. Nicht dass Sander das kümmerte, vermutlich erkannte er ohne seine Gläser vor den Augen nicht einmal meinen abweisenden Gesichtsausdruck.
»Dein Handy …«, setzte er an. »Gehst du da eigentlich auch mal ran?«
»Ich hatte eine Verabredung, bei der ich ungestört sein wollte, also habe ich es abgestellt.« Das entsprach nicht ganz der Wahrheit, denn in Wirklichkeit hatte der Akku irgendwann im Laufe des Nachtmittags schlappgemacht. Das kam mir jetzt ganz gelegen. Sollte er ruhig glauben, dass unvermittelt die Rebellin in mir durchgebrochen war. Ich konnte mich auch entziehen und anschließend kein Wort darüber verlieren, was ich getrieben hatte.
Danach herrschte erst mal Schweigen – Sander wartete wohl darauf, dass ich in meiner ansonsten recht redseligen Art ausplaudern würde, wo ich gewesen war, und dann auch noch nachhakte, was es mit der Frage auf sich hatte. Tja, Pech gehabt. Die gute alte Anouk hatte keine Lust auf diese Art von Spielchen.
»Ich habe versucht, dich zu erreichen«, gestand Sander letztendlich ein, während ich Honig in eine Tasse träufelte. Unter anderen Umständen hätte ich gefragt, ob ich ihm auch eine machen sollte, aber heute war mir nicht danach zumute. Der hatte in der letzten Nacht mehr als genug Milch und Honig abbekommen. »Ich wollte mit dir reden, denn das mit uns beiden ist heute Morgen irgendwie schiefgelaufen. Für mich ging das alles eine Spur zu schnell, nachdem ich die Nacht kein Auge zugetan und eindeutig zu tief ins Glas geguckt hatte. In einem Moment schreist du mich an und im nächsten bist du auch schon auf und davon. Kann sein, dass ich genervt rübergekommen bin, aber ich wollte dich nicht vor den Kopf stoßen, ich war einfach nur so fertig und übel restalkoholisiert. Also, was ich dir sagen will: Es war verkehrt, dass ich den Mund gehalten habe, anstatt dir sofort klipp und klar zu sagen, dass …«
»Das solltest du jetzt besser auch tun. Den Mund halten, meine ich«, unterbrach ich ihn. Ob es nun eine sorgsam vorbereitete Ausrede oder gar die Wahrheit war, interessierte mich nicht. »Du kannst tun und lassen, was du willst, mir bist du keine Rechenschaft schuldig.«
»Es geht mir auch nicht darum, Rechenschaft abzulegen, sondern etwas klarzustellen. Das, was ich letzte Nacht zu dir gesagt habe, …«
»Ist mir schnuppe egal«, vollendete ich den Satz. »Hör mal, Sander. Wozu die Anstrengung? Dir ist es ansonsten doch auch nie wichtig, was ich von dir und deinen Nummern halte. Bleiben wir ruhig dabei. Und wenn du nichts dagegen hast, werde ich jetzt ins Badezimmer verschwinden, ich brauche nämlich ein heißes Bad. Es war ein schöner, aber auch ziemlich anstrengender Nachmittag.« Mitten in der Bewegung hielt ich inne. »Tammo hatte heute übrigens das gleiche Shirt an wie du, sogar in derselben Farbe. Witzig, wo ihr beiden doch nicht unterschiedlicher sein könntet.«
»Tammo Freibaum, ja? Den hast du also getroffen und wolltest dabei nicht gestört werden.« Sander verzog das Gesicht. »Hat dieser Möchtegernherzensbrecher etwa was damit zu tun, dass du mich auflaufen lässt? Shit, Anouk, das ist doch wohl nicht dein Ernst, der Typ liegt charakterlich auf einer Ebene mit Weißbrot. Und das ist kein Kompliment fürs Weißbrot.«
»Ach ja, habe ich doch glatt vergessen, wie dick du mit Tammo bist! Hast ihn früher ein paar Mal auf dem Schulhof gesehen oder bei einer deiner Nacht-/-Nebel-und-Weib-Aktionen. Dadurch kennst du seine Persönlichkeit natürlich wie deine Westentasche. Ich verrate dir mal was, Sander: Man kennt die wenigsten Menschen wirklich gut. Ich lebe mit dir in einem Haus und habe keine Ahnung, wer du eigentlich bist. Was weißt du also über Tammo?«
Ich ließ den plötzlich stumm gewordenen Sander stehen und verließ die Küche, allerdings ohne das erhoffte Triumphgefühl. Sein Gesichtsausdruck hatte mir im letzten Moment einen Strich durch die Rechnung gemacht. Sander hatte verletzt ausgesehen. Und Sander sah nie verletzt aus. Wütend, ablehnend, ja – aber nie verletzt, denn er ließ niemanden an sich heran. Eigentlich.
Wasserdampf hing in der Luft, hatte den Spiegel verhangen und den Kerzen einen Heiligenschein gezaubert. Meine Zehen tauchten wie Inseln aus dem Badeschaum auf. Noch nicht vollkommen verschrumpelt, urteilte ich. Ich lag zwar schon eine ganze Weile in der Wanne, aber ein paar Minütchen länger würden bestimmt nicht schaden. Es duftete angenehm nach Orangenschale mit Vanille und im Hintergrund liefen die Fleet Foxes – es war Entspannung de luxe. Genau das, was ich brauchte.
Ganz in diesem Sinn beschloss ich, noch einmal heißes Wasser nachlaufen zu lassen. Mit dem großen Zeh setzte ich den Warmwasserregler in Bewegung, nur kam leider nichts aus dem Hahn, egal, wie sehr ich mich abmühte. Widerwillig richtete ich mich auf, wobei die kühle Luft sich sofort auf meine Schultern legte. Aber gleichgültig, wie weit ich den Regler aufdrehte, der Hahn gab nur ein Schnaufen von sich, mehr nicht. Richtig überrascht war ich nicht, denn das Rohrsystem in diesem Haus war uralt, da konnte schon mal was klemmen oder verstopfen. So, wie es in den Rohren gurgelte, tippte ich darauf, dass etwas den Hahnausgang versperrte.
Mit einem Seufzen steckte ich den Zeigefinger in die Öffnung und ertastete etwas Weiches, das bei meiner Berührung zurückwich.
Ich zögerte.
Was mochte das sein, ein Knäuel Alge?
Egal, was es war, es musste raus, ansonsten würde ich bald vor Kälte zu schnattern anfangen – und ich war keineswegs bereit, mein Badeparadies voreilig aufzugeben. Entschlossen grub ich meinen Finger tiefer in die Öffnung und kitzelte an dem weichen Was-auch-immer in der Hoffnung, es möge dadurch ins Rutschen geraten. Stattdessen stieß es ein kicherndes Geräusch aus und rutschte unter meiner Fingerkuppe hin und her.
Wie vom Blitz getroffen riss ich meine Hand zurück und im gleichen Moment plumpste das Ding in den Badeschaum und aus dem Hahn sprotzte eine Ladung Heißwasser.
Ich stieß einen gellenden Schrei aus und wollte aus der Wanne flüchten, doch ich rutschte ab und tauchte der Länge nach unter.
Es ist zusammen mit dir im Wasser!, schoss es mir durch den Kopf.
Ich schrie erneut – oder vielmehr versuchte ich es, denn der Badeschaum vor meinem Mund machte das Schreien unmöglich. Prustend und keuchend rappelte ich mich auf und zog mich über den Wannenrand. Dabei streifte etwas meine Wade. Mehr als ein entsetztes Husten brachte ich nicht zustande, während ich auf die Bodenfliesen sank. Zuerst wollte ich aus dem Badezimmer krabbeln und mich in Sicherheit bringen, dann entschied ich mich jedoch anders. Das Ding war aus dem Wasserhahn gefallen, es war also klein, nicht wesentlich größer als ein Flummi. Außerdem hatte es gekichert.
Sollte ich wirklich vor einem weichen, kichernden Flummi fliehen, mit triefnassen Haaren und splitternackt, ein Abbild des Elends? Gut, ich war vielleicht nicht für den Kampf geboren, aber ich war trotzdem kein Feigling. Mit einem Miniaturschleimbeutel nahm es ich durchaus auf.
Entschlossen beugte ich mich über die Wanne. Leider wurde das Badewasser fast vollständig von dem nach Orangen duftenden Schaum bedeckt …
Halt! Da war eine Bewegung auszumachen.
Voller Eifer packte ich ein Windlicht samt brennender Kerze und stülpte es über den Unterwasserschwimmer.
Ein Stoß gegen die Innenseite des Windlichts verriet, dass ich es eingefangen hatte.
»Hab dich, du Kichererbse!«
Mein Triumph währte allerdings nur kurz, denn genau in diesem Augenblick stürmte Sander ins Badezimmer. Mein Schrei musste ihn auf den Plan gebracht haben.
Prompt ließ ich meine Beute los und blickte mich gehetzt nach einem Handtuch um.
Sander, der die Lage blitzschnell, nur leider komplett falsch erfasste, und mich in Gefahr glaubte, wollte mich von der Wanne, dem Hort des vermeintlichen Übels, wegziehen. Als seine Hände unter meine Achseln fuhren, versuchte ich seiner Berührung zu entkommen, verlor das Gleichgewicht, krallte mich an ihm fest, woraufhin er auf den nassen Fliesen ausrutschte – und im nächsten Moment lagen wir beide in inniger Umarmung am Boden.
»Runter von mir«, keuchte ich.
Zu Sanders Verteidigung muss gesagt werden, dass er sich mächtig ins Zeug legte, um Abstand zu gewinnen, aber die Lache aus Wasser und Unmengen von Badeschaum machten es ihm unmöglich. Vielleicht rackerte er sich auch einen Tick zu verbissen ab, sodass er ins Schleudern geriet und im Endeffekt genauso auf mir lag wie zuvor. Irgendwie gelang es mir schließlich, ihn ein Stück wegzuschieben, was die Angelegenheit allerdings nur bedingt besser machte, denn dadurch bekam er eine tolle Aussicht auf meinen Busen. Fehlende Brille hin oder her, so, wie er die Augen aufriss, entging ihm die unfreiwillige Präsentation keineswegs. Obwohl es bereits zu spät war, zog ich ihn wieder an mich. Lieber ertrug ich ihn der Länge nach auf mir, als dass er mich noch komplett in natura sah.
»Kannst du dich mal entscheiden?« Sanders Lippen bewegten sich an meiner Halsbeuge, während er sich abplagte, Halt zu finden. Nur bot mein nasser Körper noch weniger Halt als alles andere.
»Hör endlich auf, dich so viel zu bewegen«, fuhr ich ihn an. »Diese Ruckelei bringt doch nichts.«
»Das habe ich irgendwie schon einmal gehört.«
Ich stöhnte genervt.
Wenigstens hielt Sander endlich still, obwohl unsere Situation dadurch nicht merklich erträglicher wurde. Ich spürte seinen Atem auf meiner empfindlichen Kehle, das Heben und Senken seiner Brust, die Schwere seines Körpers, von dem mich lediglich eine Schicht Stoff trennte. Diese sinnliche Wahrnehmung ließ mich die lächerliche Situation, in der wir steckten, vergessen. Sander schien ähnlich zu empfinden, denn er hob den Kopf und sah mich an. Die eine Hand, mit der er mich hatte fassen wollen, lag oberhalb meines Rippenbogens, nur einen Hauch von meiner Brust entfernt. In der Sekunde, in der ich mir dessen bewusst wurde, flammte meine Haut unter seiner Berührung auf, und damit der Wunsch, die Flammenspur möge sich ausweiten. Diese unvermittelte Reaktion auf seine Nähe brachte mich mehr durcheinander als mein Erlebnis in der Badewanne und der Sturz zusammen.
»Ich brauche ein Handtuch«, flüsterte ich.
Sander brummte zustimmend, aber es dauerte, bis er tatsächlich reagierte. Als würde sein Körper zum ersten Mal in seinem Leben nicht seinem Willen gehorchen. Fast unerträglich langsam zog sich seine Hand von meinem Rippenbogen zurück, sodass es geradezu einem Streicheln glich.
Nicht aufhören, flüsterte eine Stimme, die ich nie zuvor gehört hatte. Unwillkürlich versteifte ich mich.
Sanders eben noch leicht geöffnete Lippen wurden zu einer harten Linie und die Hand verschwand endgültig. Nach einigem Kämpfen gelang es ihm, sich aufzurichten, und kaum dass ich meine Knie vor die Brust gezogen hatte, reichte er mir auch schon ein Badehandtuch, den Blick starr auf die Wand gerichtet, damit ich mich in Ruhe einwickeln konnte. Das war mehr Gentleman, als ich je von ihm erwartet hätte.
»Was war denn überhaupt los?«, fragte er mit heiserer Stimme. »Du hast so laut geschrien, dass die Wände gewackelt haben. Ist dir das Shampoo umgekippt oder etwas ähnlich Katastrophales?«
Diese Art von dummer Bemerkung brachte mich in die Realität zurück, sie wirkte wie eine Radikalkur, um das Verlangen nach behutsam ihren Weg suchenden Händen zu vergessen. »Ein kicherndes Ding ist aus dem Wasserhahn ins Badewasser geploppt – darum bin ich ausgeflippt. Ich hatte es übrigens gerade eingefangen, als du hier wie ein Irrer reingestürmt und über mich hergefallen bist.«
»Draufgefallen trifft es besser.«
»Lass das! Keine Kommentare über diesen hochnotpeinlichen Zwischenfall, ansonsten garantiere ich für nichts. Wir beide werden nie wieder auch nur ein Wort darüber verlieren, was gerade dank dieses glibberigen Badeschaums passiert ist. Das streichen wir vollständig aus unserem Erinnerungsspeicher, ohne die kleinste Ausnahme. Und wenn du dich nicht daran hältst, weil du es ach so lustig findest, mich damit aufzuziehen, dann kannst du dich auf was gefasst machen. Ich bin ja durchaus bereit, mir einiges von deinen Sprüchen anzuhören, aber nicht darüber, wie du der Länge nach auf mir gelegen hast. Darüber machst du keine Witze, verstanden?«
»Hatte ich nicht vor, obwohl es wunderbares Material abgeben würde, zumindest der Anfang mit dem Sturz. Das wäre der reinste You-Tube-Renner. Was allerdings danach kam … Das war zu nah und dann auch wieder nicht. In einem Moment wollte ich noch schleunigst auf die Füße kommen und im nächsten …« In Sanders Augen schlich sich Entsetzen über die eigenen Worte. »Wir sollten wirklich nicht darüber reden. Vor allem weil wir ja auch was zu tun haben. Wächter-Kram. Dringenden Wächter-Kram.« Sander lehnte sich über die Badewanne und inspizierte den Inhalt, plötzlich ganz der knallharte Profi. »Ein Besucher?«
Dankbar für den Themenwechsel trat ich neben ihn – allerdings erst nachdem ich kontrolliert hatte, dass das Handtuch alle entscheidenden weiblichen Merkmale meines Körpers abdeckte. »Dafür war es zu klein. Ich tippe mal eher auf eine Veränderung: Ein Besucher hat einen Badeschwamm gestreift, der nun lustig durchs Haus springt.«
Sanders Kopf flog herum. »Unmöglich. Über eine solche Veränderung wüsste ich Bescheid.«
»Nicht, wenn sie neu ist.«
In meinem Magen bildete sich ein Eisklumpen, während Sander fluchend das Badewasser mit den Händen durchpflügte und es schließlich unter Vorsichtsmaßnahmen abließ. Vollkommen umsonst. Was auch immer aus dem Wasserhahn gefallen war, es war längst auf und davon. Ratlos folgte ich Sander in mein Zimmer, wo er Runden drehte wie ein Tiger, um sich schließlich auf mein Bett fallen zu lassen.
»Ich stecke bis zum Hals im Sumpf«, erklärte er der Zimmerdecke. »Diese Veränderung bedeutet nichts anderes, als dass ein Besucher entkommen ist.«
Während ich das Badehandtuch krampfhaft zusammenhielt, setzte ich mich neben ihn. Konnten solche Dinge nicht passieren, wenn ich angezogen und topp frisiert war, anstatt dass ich wie etwas aussah, das man kurz vorm Ertrinken aus dem Wasser gefischt hatte? Ich schob meine Eitelkeit beiseite und konzentrierte mich auf das Problem. »Es wäre auch möglich, dass der Krakenmann auf seiner Flucht eine Winzigkeit berührt hat, etwas, von dem du bei deiner Überprüfung gar nichts wissen konntest, ein zerknülltes Stück Papier zum Beispiel, das nach der Veränderung schleunigst das Weite gesucht hat.«
Sander machte keinen sonderlich überzeugten Eindruck. »Bislang habe ich noch immer jede Veränderung entdeckt, sogar diesen Stecknadelkopf im Teppich, der das Wetter vorhersagt.« Dann richtete er sich auf, nur um sogleich den Kopf zwischen die Knie sinken zu lassen, als sei ihm plötzlich schlecht geworden. Vermutlich stimmte das sogar. »Gott, verdamm mich. Ein Besucher muss entwischt sein, als ich dich zu Laboe gebracht habe. Jakob hatte recht damit, mir für diesen Leichtsinn die Pest an den Hals zu wünschen. Ich habe einen riesigen Fehler gemacht und es noch nicht einmal eingesehen. Es war mir einfach wichtiger, mich um dich zu kümmern. Wenn dein Vater von dem Ausreißer erfährt, wird er mich mit seinen Starkstromblicken auf der Stelle einäschern und dich in den nächstbesten Zug setzen, der dich ans andere Ende der Welt bringt. Das war’s, ich habe alles ruiniert.«
Ich wollte mich dieser Meinung unter keinen Umständen anschließen. »Das kann nicht sein. Wenn ein Besucher entkommen wäre, dann hätten wir davon bereits erfahren. Oder glaubst du, es fällt niemandem auf, wenn eine dreißig Meter lange Seeschlange mit einem Riesenhunger oder sonst irgendein Ungetüm aus dem Reich Tiamats in den Straßen von Marienfall ihr Unwesen treibt?«
»Wer weiß, wo es hin ist. Um dieses Kaff herum gibt es meilenweit nur Felder und höchstens mal einen Spaziergänger als Zwischenmahlzeit.«
Wie konnte man nur so schnell aufgeben? »Papperlapapp. Die Besucher suchen die Nähe zu den Menschen, das wissen wir doch. Wenn es einer geschafft hätte, sich unbemerkt aus dem Staub zu machen, hätte er schnurstracks auf die Stadt zugehalten. Lauter feines Essen und die beste Chance zum Abtauchen. Wenn du dir unbedingt Vorwürfe machen willst, dann nur weil dir eine Veränderung entgangen ist.«
Da Sanders Kopf immer noch nicht wieder zwischen seinen Knien auftauchte, tätschelte ich ihm den Rücken. Das heißt, ich hatte vor, ihm den Rücken zu tätscheln, ganz kameradschaftlich. Nur glitt meine Hand stattdessen über seinen gebeugten Rücken, fuhr über angespannte Muskeln und die sich abzeichnenden Schulterblätter, strich die Wirbelsäule zum Nacken hinauf in sein zerzaustes Haar. Ich sah meinen Fingern dabei zu, wie sie die schwarzen Strähnen durchpflügten, die sich voll und überraschend weich anfühlten, beobachtete, wie meine Fingerspitzen oberhalb des Ausschnitts über seine warme Haut tanzten, bevor sie wieder seinen Rücken erkundeten. Es war, als stände ich neben mir. Dieses Mädchen, in dem ein bislang unbekanntes Begehren wuchs – das war nicht ich. Niemals hätte ich mich vorgebeugt, mit den Lippen seine Ohrmuschel unter dem Vorwand gesucht, ihm ein »alles ist gut« hineinzuflüstern und meine Lippen anschließend dort ruhen zu lassen. Oder doch? Ich atmete den Geruch nach Orangenschale, der holzigen Note seines Aftershaves und seiner erhitzten Haut tief ein und erschrak, als er eine wahre Kettenreaktion auslöste, in deren Folge ich mich fühlte, als sei ich ins Weltall katapultiert worden, wo ich nun schwerelos dahinschwebte … Bis zum nächsten Atemzug, wenn alles von vorne losging. Nur mit Not konnte ich mich so weit beherrschen, keinen Kuss auf die samtige Stelle hinter seinem Ohr zu hauchen.
Mein eigenes Verhalten ängstigte mich und trotzdem konnte ich nicht damit aufhören, Sander zu liebkosen, auf eine Weise, die mit Trost spenden schon lange nichts mehr zu tun hatte. ›Zu nah und doch wieder nicht‹, hatte er gesagt. Konnte ich ihm überhaupt zu nah sein? War ich es bereits?
Ich betete darum, dass er endlich den notwendigen Bruch herbeiführte und die Distanz, die ansonsten zwischen uns herrschte, wiederherstellte. Als er seinen Oberkörper jedoch aufrichtete, tat er es nur, um sanft meinen Nacken zu umfassen und mich heranzuziehen, bis mein Gesicht vor seinem war. Ich spürte seinen Atem, drängte mich an ihn und versuchte mir zugleich einzureden, dass es nur darum ging, ihn zu beruhigen. Dabei zeigte das Glühen in seinen Augen, dass er trotz meiner Bemühungen alles andere als ruhig und entspannt war. Seine Hand umhüllte meine Schulter, dann streichelte er die Außenseite meines Arms entlang. Sämtliche Härchen richteten sich auf, als würden sie der Spur seiner Finger nachspüren. Dann legte er seine Lippen an meine Stirn – für einen wunderbaren Moment, und im nächsten war er bereits fort. Aufgesprungen und aus dem Zimmer geflüchtet, als hätte er es keine Sekunde länger in meiner Gegenwart ausgehalten.
Der Raum um mich herum geriet in Bewegung, ein schlingernder Kurs, während ich meine Finger schmerzhaft fest ins Handtuch grub, das ich vor meiner Brust zusammenhielt.
Was war geschehen? Ich wusste es nicht.
Dann sah ich Sanders Lederjacke über meinem Schreibtischstuhl hängen, die mir zuvor nicht aufgefallen war. Ich hatte sie ihm nach unserem Streit vor die Füße geworfen und nun hing sie hier.
Mir wurde schwindelig.