43. Abwärts

Am Fuß der Treppe erwartete uns ein vor Übereifer vibrierender Lutz, der auf die am Boden liegende Wächterschar aufgepasst hatte. Als er mich sah, gab er ein Grunzen von sich, das wohl »Habe alles unter Kontrolle, o Captain« bedeuten sollte. Stolz tätschelte ich ihm den breiten Rücken.

Nur einen Meter entfernt hustete die zusammengekauert am Boden liegende Filippa, als stecke ihr ein Schwall Salzwasser im Brustkorb. Sander beugte sich runter und schnappte sich den Elektroschocker, den sie am Gürtel trug.

»Vielen Dank, Frau Wächterin. Mit der Wirkung dieses Geräts kenne ich mich nach unserem kleinen Stelldichein ja bestens aus. Schade, dass ich nicht Schwein genug bin, um es auch mal an Ihnen auszuprobieren – obwohl es eigentlich nur fair wäre«, raunte er ihr ins Ohr, woraufhin ihre Augenlider zu flackern begannen. Vermutlich hoffte Filippa noch, einen schrecklichen Traum zu durchleben, indem es ihrem Gefangenen gelungen war, sich wider alle Sicherheitsmaßnahmen zu befreien. Dann gab Sander mir den Elektroschocker. Mit dieser Waffe hatte Filippa ihn also drangsaliert … Am liebsten hätte ich sie weit von mir geworfen.

»Falls sich dir einer von dieser Sippschaft in den Weg stellt, verpasst du ihm eins mit dem Teil, egal wohin«, erklärte Sander. »Einfach mit dem offenen Ende zielen und den Auslöser drücken. Und bloß keine falschen Hemmungen, Anouk. Die Stromladung tut zwar höllisch weh, richtet aber keinen größeren Schaden an, als dass man kurzzeitig umkippt.«

Mehr als ein Nicken bekam ich nicht zustande, dann steckte ich den Elektroschocker in meinen Hosenbund.

Wir rannten den Flur entlang zur breit geschwungenen Treppe, Lutz wie ein Rammbock vorneweg, jeden die Masse seines Körpers spüren lassend, der es wagte, auf alle viere zu kommen. Auf der letzten Treppenstufe richtete sich gerade ein Wächter auf und zog seine Waffe, doch Sander verpasste ihm einen Tritt gegen den Unterarm, woraufhin die Waffe im weiten Bogen davonflog.

»Klasse, treten klappt noch. Ich sagte doch, ich brauche die Schulter nicht mehr.«

Draußen quietschten Autoreifen, während bereits gegen die Eingangstür geschlagen wurde, als wolle man sie notfalls einbrechen. Wie praktisch, dass die Wächter unsere schöne Eichentür durch Sicherheitsbolzen verstärkt haben. Hier kommt so schnell keiner rein, dachte ich hämisch, während wir auf die Kellertreppe zuhielten.

»Anouk Parson!«, dröhnte Filippas heisere Stimme von der oberen Etage. »Du begehst einen nicht wiedergutzumachenden Fehler, für den du, dein Vater und deine Freunde bitter bezahlen werden, wenn wir das hier alle überleben sollten. Dafür werde ich persönlich sorgen!«

»Das werden wir ja sehen«, raunte Tammo in meinem Nacken. »Sollte diese Schreckschraube uns noch einmal krumm kommen, kann sie es sich dauerhaft in meinem Tropfen bequem machen.«

So unwahrscheinlich es war, dass Tammo seine Drohung wahr machen würde, so gab sie mir doch Auftrieb, um den entscheidenden Abstieg vorzunehmen.

In den Gängen und Kellerräumen lagerten, wo sie nicht bis unter die Decke mit Salzmassen verstopft waren, Gerätschaften und Materialien. Offenbar hatten die Wächter eifrig an der Umsetzung ihrer Dammpläne gearbeitet, bevor Tammo sie in den Strudel gerissen hatte. Vor der Schleuse standen Schweißgeräte, vermutlich hätten sie in wenigen Minuten damit angefangen, die Eisentür zu verschweißen. Demnach hatten sie meinen Vater doch noch dazu bewegen können, das Gewölbe zu verlassen. Obwohl ich mehr als wütend auf Jakob war, verspürte ich Erleichterung darüber, dass er aus der Gefahrenzone raus war.

Und wenn sich Tiamat doch unter Eisen und Beton begraben lässt?

Ich verlangsamte meinen Schritt und zwang Sander dadurch, ebenfalls langsamer zu werden. »Wäre es denn nicht doch möglich, dass es den Wächtern gelingt, einen Damm zu bauen, der dem Maelstrom Einhalt gebietet?«, fragte ich.

Als Sander meinen Blick erwiderte, las ich in seinen Augen, wie gern er aus meinem Hoffnungsfunken ein Feuer geschlagen hätte. Aber er würde auf unserer letzten gemeinsamen Strecke bei der Wahrheit bleiben. »Niemand kann den Maelstrom zurückhalten, wenn er erst einmal das Tor durchbrochen hat. Nicht einmal ich.«

Ich glaubte ihm. Sogar wenn die Wächter unsere Welt in einen einzigen Damm zu verwandeln imstande gewesen wären, hätte ich Sander geglaubt.

Mit einem dumpfen Schmerz in mir blickte ich auf die Schleusentür. Dieses Mal bekam ich keine Angst, obwohl meine Albträume, in denen ich vor der Schleusentür stand, sich in diesem Augenblick bewahrheiteten.

Die Nieten des Türrahmens vibrierten.

In den Fugen zwischen den Metallplatten schob sich Salz wie eine weiße Schlange voran.

Unter meinen Sohlen zitterte der Boden.

Die Drähte in den Leuchtbuchstaben verglühten.

Sander würde Tiamat verschließen. Ich glaubte an ihn. Nur bedeutete das, dass ich ihn verlieren würde.

»Verdammt!«

Sanders Schrei riss mich aus meiner Verlorenheit. Einer der am Boden liegenden Wächter war unbemerkt zu sich gekommen und hatte seine Waffe auf ihn abgeschossen. Im letzten Moment war Tammo dazwischen gesprungen und lehnte nun kreidebleich an der Wand. Als er in sich zusammenzusinken drohte, packte ich ihn fest an den Oberarmen, während Sander den Wächter wieder ins Reich der Bewusstlosigkeit schickte.

»Oh Gott! Bist du getroffen?«

Tammo sah mich an, als würde er durch einen dichten Nebel zu mir blicken. »Ich … Ich weiß nicht. An meiner Hüfte ist es ganz kalt. Richtig eiskalt.«

In dem dämmrigen Licht des Kellers war auf Tammos dunkler Jeans nichts zu erkennen außer einer leichten Verwerfung im Stoff unterhalb des Ledergürtels. Tammo atmete seltsam abgehackt, als Sander sich zu mir stellte, eine der Waffen in der Hand.

»Schau nach, wo er getroffen wurde. Notfalls musst du ihn hochbringen und einen Krankenwagen rufen.«

»Das kann ich nicht, ich kann dich doch nicht allein gehen lassen.«

Sander lächelte traurig. »Ich gehe doch ohnehin allein. Vielleicht wäre es auf diese Weise sogar besser.«

Bevor er sich abwenden und in der Schleuse verschwinden konnte, zog ich Tammos Jeans vorsichtig über die Hüfte. Trotzdem krallte er vor Schmerz die Finger in die nackte Felswand. Direkt oberhalb seiner Leiste prangte eine blutende Furche. Als ich mit einem Stück seines Shirts darüberwischte, schimmerte etwas Weißes auf. Mir wurde schlecht.

Sander hingegen stieß erleichtert die Luft aus. »Sauberer Streifschuss, Freibaum. Dein Hüftknochen hat wie ein Schutzschild gewirkt und die Kugel abprallen lassen. Also kein Grund, hier zusammenzuklappen. Wir packen dich in die Schleuse und machen die Tür hinter uns zu, dann kannst du dir in Ruhe deine Heldenwunde ansehen und darauf warten, dass Anouk zurückkommt oder die Salzflut dich aus Himmelshoch rausschwemmt. Durch das Kraftfeld können wir dich nämlich leider nicht mitnehmen, in diesem Körper kommst du gar nicht durch. Aber keine Sorge, der getreue Lutz passt auf dich auf. Nicht wahr, Lutz?«

Auch wenn es nur ein Streifschuss war, stand Tammo so weit unter Schock, dass er sich von Sander den Arm um die Taille legen ließ, um mit seiner Hilfe in den Schacht zu humpeln. Salzströme suchten sich langsam, aber beharrlich ihren Weg durch die Metallröhre und erschwerten den Weg.

»Ohne dich hätte die Kugel mich getroffen und in meinem Fall wäre sie nicht glücklich an einem Knochen abgeprallt. Dafür schulde ich dir was«, hörte ich Sander leise sagen.

»Ja, dein Leben.« Tammos Stimme war lediglich ein Krächzen. »Sieht so aus, als wären wir gleich quitt.«

TIAMAT – Liebe zwischen den Welten
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