33. Gerufene Geister
Filippa gab mir keine Chance, ihr die Tür vor der Nase zuzuschlagen. Dafür waren ihre Reaktionen zu gut trainiert, während ich aus meiner Starre erst aufwachte, als es bereits zu spät war. Folglich brachte ich nur ein schlappes »Kann mich gar nicht erinnern, ›herein‹ gesagt zu haben« hervor. Filippa ignorierte mich ohnehin, sie war viel zu sehr damit beschäftigt, Tammo zu mustern, als wäre er ein schleunigst auszuradierender Fehler im Foyer von Himmelshoch. Dabei ahnte sie nicht einmal ansatzweise, wer er in Wirklichkeit war.
Tammo machte verblüfft einen Schritt zurück. »Hallo«, begrüßte er Filippa, die ihm sofort nachrückte. »Und auch gleich auf Wiedersehen, ich wollte nämlich gerade gehen.«
Als er das sagte, wurde mir bewusst, dass er ebenfalls nicht die geringste Ahnung hatte, wer vor ihm stand. Dass es einen Wächterzirkel gab, dessen Ziel es war, alles auszurotten, was durch die Tore in unsere Welt eindrang, hatte er weder in Madelins noch Tammos Erinnerung gesehen. Er hatte keine Ahnung, in welcher Gefahr er schwebte.
Im letzten Moment versperrte Filippa ihm den Weg. »Wer ist das?«
»Das ist Tammo Freibaum, ein Junge aus meiner Schule«, beeilte ich mich klarzustellen. »Es tut mir leid, ich weiß, die Regel lautet ›Keine Besucher auf Himmelshoch‹. Tammo steht mir allerdings sehr nah, wenn Sie verstehen, was ich meine. Ich war krank, und da ist er vorbeigekommen, um nach mir zu sehen. Alles ganz harmlos.«
»In welchen Räumen des Hauses hast du dich aufgehalten, Tammo Freibaum?« Die Art, wie Filippa seinen Namen aussprach, verriet, dass sie ihn in ihrem Hinterkopf auf eine schwarze Liste setzte.
»Entschuldigen Sie, aber wer sind Sie eigentlich?«
»Diejenige, der du jetzt Rede und Antwort stehst, wenn du keinen Wert auf Schwierigkeiten legst.« Mir lief ein Schauer über den Rücken.
An Tammo schien die Drohung jedoch abzuprallen. »Schwierigkeiten? Weil ich eine kranke Mitschülerin besuche?« In seinem Lachen schwang Unglauben mit. Dann warf er mir einen fragenden Blick zu. »Bist du etwa Mitglied in einer Sekte, die Kontakt zum anderen Geschlecht erst nach der Eheschließung erlaubt?«
Ich fand das alles andere als witzig, schließlich ahnte ich, dass Filippa ihn nicht ungeschoren davonkommen lassen würde. Sie hatte sämtliche Stufen der Ausbildung des Wächterzirkels durchlaufen, sie würde also alles daransetzen, andere Menschen in absoluter Unkenntnis über die Tore zu lassen. Das war aus Sicht des Zirkels eine der wichtigsten Aufgaben überhaupt und einer der Hauptgründe, warum mir dieser Verein nicht ganz geheuer war. »Ich habe Tammo mit auf mein Zimmer genommen, das ist alles, was er von Himmelshoch gesehen hat. Mir ist klar, dass das ein Fehler war, aber ich habe mich so gefreut, als er plötzlich vor der Tür stand. Mir ging es wirklich schlecht in den letzten Tagen.«
Endlich beachtete Filippa mich – und was sie zu sehen bekam, schien sie zu überzeugen, dass unsere Geschichte durchaus im Bereich des Möglichen lag: Ein verliebter Junge, der sich Sorgen um seine kranke Angebetete gemacht hatte und außer ihrem hübschen Antlitz nichts anderes wahrnahm. »Er war also nur auf deinem Zimmer?«, hakte sie nach, mit einem speziellen Unterton in der Stimme, der mir klarmachen sollte, dass dies meine einzige Chance sei, ohne Konsequenzen für Tammo aus der Sache rauszukommen. Ich selbst würde trotzdem ordentlich was abbekommen, so viel stand fest.
Ich nickte so eifrig, dass mir fast der Kopf abfiel. »Tammo ist geradewegs auf mein Zimmer gegangen, dort haben wir die ganze Zeit auf meinem Bett verbracht, wo wir uns …«
Wie erwartet flog Filippas Hand hoch, um mir das Wort abzuschneiden. »Erspar mir die Einzelheiten. Gut. Um eins klarzustellen, das war dein letzter Besuch in diesem Haus, Tammo Freibaum. Wenn du deine Freundin treffen möchtest, dann lad sie ins Kino ein, sobald sie wieder einigermaßen auf den Beinen ist und nicht länger den Eindruck macht, jede Sekunde zusammenzuklappen. Verstanden?«
Tammo zuckte mit der Schulter. »Klar, warum nicht – Kino ist klasse. Ich mach mich dann mal aus dem Staub, wenn das für dich okay ist, Anouk.«
»Sicher, vollkommen okay. Mach’s gut, mein Herz, ich hau mich jetzt wieder aufs Ohr. Geh nur. Bye.«
»Ja, bye.«
Einen Moment lang schien Tammo noch zu überlegen, ob er vielleicht doch lieber bleiben sollte, und spielte dabei mit der Silberphiole. Dann wandte er sich in Richtung Tür, wo Filippa immer noch wie ein Bollwerk stand. Anstatt endlich beiseitezutreten, zögerte sie. Vielleicht irritierte es sie, wie schnell er klein beigab. Oder es war ihr jahrelang trainierter Instinkt, der ihr zuflüsterte, dass hier etwas nicht stimmte.
»Hand auf’s Herz«, begann ich in der Hoffnung zu plappern, sie von ihrer Spur abzubringen. »Wenn wir das nächste Mal unbedingt auf Tuchfühlung gehen müssen, dann machen wir das im Park. Wobei Kino natürlich auch ein toller Tipp ist. Stammt der aus Ihrem persönlichen Erfahrungsfundus?«
Ja! Innerhalb von Sekunden gehörte Filippas Aufmerksamkeit mir allein. »Das reicht jetzt, würde ich sagen. Verabschiedet euch jetzt, und zwar umgehend.«
»Sieh zu, dass du wieder, so gut es geht, zu Kräften kommst, Anouk. Die nächsten Tage werden bestimmt hart für dich.« Tammo lächelte mich an, dann wendete er sich Filippa zu und deutete auf die Tür. »Würde es Ihnen was ausmachen, mich endlich vorbeizulassen?«
Nach einigen Sekunden der Ungewissheit trat Filippa beiseite.
Genau diesen Augenblick suchte Lutz sich aus, um gut gelaunt die Treppen runterzuhopsen. Vollkommen unempfindlich gegen die Anspannung im Foyer, spuckte er mir das Veränderdich vor die Füße, das zu seiner Freude erneut die Form eines Bällchens angenommen hatte. Vielleicht wären wir sogar damit durchgekommen, wenn das vermaledeite Ding still liegen geblieben wäre, wie man es von einem beschleimten Bällchen eigentlich erwarten durfte. Stattdessen machte es ein verdächtig nach »Brrrr« klingendes Geräusch und schüttelte die Sabberfäden ab, bevor es auffordernd hoch- und runterzuspringen begann.
»Anouk, was ist das?«
Leider war es nicht Filippa, die mir diese Frage stellte, sondern mein Vater, der gerade zu uns getreten war.
Ich riss die Schultern so heftig nach oben, dass sie fast meine Ohrläppchen berührten. »Ein Hundespielzeug?«
Leider war es jedoch nicht das Veränderdich, auf das mein Vater deutete, sondern Tammo. ›Was‹ und nicht ›wer‹, hatte er gesagt, als sei Tammo ein Ding und kein Junge. Dann begriff ich, warum mein Vater diese Formulierung gewählt hatte: Tammos Finger lagen immer noch an der Silberphiole, in der sich ein Tropfen aus dem Ewigen Meer befand. In seiner Nervosität musste er sie ein wenig aufgeschraubt haben, jedenfalls leuchtete sie in überirdischer Weise auf, als trüge Tammo einen Stern vor der Brust.
Filippa sagte nichts, sondern reagierte. Blitzschnell hatte sie Tammo im Sicherheitsgriff, überging seinen Protest und deutete stattdessen auf die Phiole. »Eine weitere von diesen verrückten Veränderungen, von denen es in Himmelshoch nur so wimmelt? Zeig her!«
Mit einem brutalen Ruck versuchte sie, ihm die Kette vom Hals zu reißen. Tammo nutzte den Moment und befreite sich aus ihrem Griff, wobei er ihr einen kräftigen Stoß gab. Doch kaum war Tammo wieder frei, holte Jakob aus und verpasste ihm einen Fausthieb gegen die Schläfe. Mein Pseudofreund taumelte, und kaum dass er sich gefangen hatte, sah er sich zwei Angreifern gegenüber.
Am liebsten hätte ich mir beide Hände vors Gesicht geschlagen und abgewartet, bis der Kampf vorbei war, aber dieses Mal konnte ich mich nicht zurückhalten. Alles vergessend, was Sander mir jemals über Nahkampf beigebracht hatte, stellte ich mich vor Tammo und sank sogleich in die Knie, als mich ein Fußtritt am Rippenbogen erwischte, den Filippa eigentlich dem Jungen hinter mir zugedacht hatte.
»Aus dem Weg!«, schrie Filippa aufgebracht und wollte mich zur Seite schubsen, doch Jakob hielt ihr Handgelenk gerade noch rechtzeitig fest. »Wollen Sie sich mit mir anlegen, Parson?«
»Sie werden meiner Tochter nicht wehtun.«
Ich nutzte die Gelegenheit, um trotz der Schmerzen in meinem Brustkorb zu Tammo aufzublicken, der mir ein »Entschuldige bitte« zuflüsterte. Dann öffnete er die Phiole und ein mächtiger Wasserschwall ergoss sich über mich.
Eine Springflut tat sich auf, spülte mich fort und riss auch meinen Vater von den Beinen. Filippa setzte mit einem wütenden Schrei zu einem Sprung durch die Wasserfluten an, verschwand und tauchte einige Momente später strampelnd und wild fluchend im schäumenden Wasser auf. Jakob war es gelungen, sich am Treppengeländer festzuhalten. Als ich an ihm vorbeigeschleudert wurde, griff er mit seiner versehrten Hand zu, ohne mich festhalten zu können.
»Lass mich«, rief ich unter Husten, denn obwohl die Kraft des Wassers erschreckend war, machte ich mir keine ernsthaften Sorgen. Tammo würde die Macht des Wassertropfens aus dem Ewigen Ozean nur so lange entfesselt wüten lassen, bis er geflohen war.
»Anouk!«
Jakob gab das Geländer auf, um mich mit der unversehrten Hand an sich zu ziehen. Doch die Strömung war zu mächtig und der Pegel stieg zu rasant. Ich sah die Panik in den Augen meines Vaters. Gleich würde er mich verlieren.
Es wird uns nichts passieren, wollte ich ihm zurufen, aber es war bereits zu spät, wir wurden gemeinsam von dem Strudel in die Tiefe gezogen.