38. Verrat

All meine Sinne waren so sehr auf Sander ausgerichtet, dass sein unvermitteltes Zusammenzucken gleich einem Stromstoß durch mich hindurchging.

Jemand hatte seine Aufmerksamkeit erregt.

Sanders grüne Augen suchten meinen Blick und mehr als zuvor glaubte ich ihm, dass die drei magischen Worte überflüssig waren. Ich erkannte auch ohne sie, was er für mich empfand. Dann setzte er sich auf der Pritsche auf und verdeckte mit seinem breiten Rücken meine Sicht auf das Kraftfeld.

Augenblicklich wappnete ich mich innerlich, denn ich ahnte, dass es nicht Lutz war, der von seinem Morgenspaziergang zurückkehrte. Vorsichtig spähte ich über Sanders Schulter.

Es war Jakob, der das Kraftfeld durchschritten hatte, nur um sogleich wie vom Schlag getroffen stehen zu bleiben. »Wo kommst du denn her?«, fragte er Sander, doch bevor der antworten konnte, wanderte Jakobs Blick zu Tiamat, vor der die Salzzeichen klarer denn je hervorstachen, genau wie die blauen Linien auf Sanders Schulter, die im Dämmerlicht leuchteten. »Du bist auf der anderen Seite von Tiamat gewesen, sie hat dich passieren lassen, ohne dich in Stücke zu zerschneiden.«

Fast hörte ich schon das Wort ›Besucher‹, das Jakob auf den Lippen lag, doch seine Aufmerksamkeit wurde im letzten Augenblick abgelenkt. Vielleicht war es Sanders zerwuscheltes Haar, die dunkle Stelle an seinem Hals oder seine geschwollenen Lippen, jedenfalls legte sich auf das Gesicht meines Vaters eine kalte Wut. »Wie kannst du es wagen, meine Tochter anzufassen?«, fragte er. »Wie kannst du es wagen, sie anzufassen, nach allem was geschehen ist? Mit dir ist nicht nur das Unglück in dieses Haus eingezogen, sondern der Feind selbst. Und als wäre das nicht genug, musst du dich auch noch an Anouk vergreifen? Ich habe dir gesagt, du kannst deine Spiele treiben, mit wem du willst, aber nicht mit meinem Kind. Sie bedeutet dir nichts, genau, wie dir alles andere nichts bedeutet. Dir geht es bloß darum, dich zu amüsieren.«

Sander stand langsam auf. »Das stimmt nicht, Jakob. Und das weißt du. Genau aus diesem Grund hast du mir auch gedroht, mir die Wächter auf den Hals zu hetzen, falls ich mich Anouk nähern sollte. Weil du wusstest, wie ernst es mir ist, und dass es einer wahrhaftigen Drohung bedurfte, um mich von ihr fernzuhalten.«

»Jakob hat was getan?« Doch meine Stimme war zu brüchig, niemand hörte meine Frage.

Sander straffte den Rücken, als wolle er Jakob zeigen, dass er niemals vor ihm einknicken würde. »Es tut mir leid, es dir sagen zu müssen, aber deine Drohung hatte keinerlei Wirkung. Weder du noch die ganze Wächterschaft hätte bewirken können, dass ich Anouk fernbleibe – eben weil es kein Spiel ist. Schon möglich, dass es nicht sonderlich viel auf dieser Welt gibt, das mir etwas bedeutet, aber Anouk macht all das wieder wett.«

»Es ist vollkommen egal, was meine Tochter dir bedeutet«, schrie mein Vater, und zum ersten Mal erlebte ich, wie er die Fassung verlor. »Du hast kein Recht dazu, ihr nahzukommen. Du bist kein Mensch!«

Das ging eindeutig zu weit. Ich glitt an Sander vorbei und ignorierte seinen Versuch, mich wieder hinter seinen Rücken zu ziehen. Schließlich war ich kein kleines Mädchen mehr, das vor dem Zorn seines Vaters geschützt werden musste. »Du bist unfair«, schrie ich Jakob an. »In all den Jahren hast du Sander für deine Zwecke benutzt und ihn dabei unablässig spüren lassen, dass er dir nicht willkommen ist. Tiamat bewachen? Gern. Die Besucher jagen? Aber sicher doch. Den Wächterzirkel ruhig stellen? Nur zu. Aber Teil unserer Familie sein oder ihn gar wie einen Sohn behandeln? Niemals. Und jetzt gehst du sogar so weit, ihm abzusprechen, ein Teil unserer Welt zu sein.«

In den Augen meines Vaters glomm Abscheu auf, während er Sander von Kopf bis Fuß musterte. »Das ist er auch nicht, er hat sich eingeschlichen. Tiamat lässt niemanden aus unserer Welt passieren, er ist also ein dreckiger Besucher, der uns all die Jahre über getäuscht hat. Ich war nicht dabei, als deine Mutter in den Maelstrom geraten ist, aber ich würde darauf schwören, dass es nicht ihre, sondern seine Schuld war. Diese Kreatur, die du in Schutz nimmst, muss das Tor geweckt haben, als Madelin sich gerade im Kellergewölbe aufhielt. Meine Schuld ist es, meine Wacht vernachlässigt zu haben, aber er ist der Auslöser für dieses Unglück. Damals habe ich das nicht begriffen, ich habe ihn für ein Kind gehalten, dessen Leben durch einen schrecklichen Zufall fast ausgelöscht worden wäre. Wie konnte ich nur so blind sein und nicht erkennen, dass er zu Tiamats Brut gehört?« Die Abscheu umgab Jakob wie einen undurchdringlichen Schild, als habe Sander sich in seinen Augen tatsächlich in ein widerwärtiges Monster verwandelt. »Ich hätte dich sofort den Wächtern übergeben sollen, stattdessen habe ich dich in meinem Haus behalten und vor dem Zirkel Tiamats Bedrohung runtergespielt, damit sie nicht herausfinden, dass du etwas Unmenschliches an dir hast. Von den ganzen Geschöpfen, die seitdem durch das Tor gekrochen sind, warst du das einzige raffinierte – das muss ich dir lassen. Du hast einfach die Gestalt eines unschuldigen Kindes angenommen und ich bin darauf hereingefallen. Vermutlich hast du nur auf eine Gelegenheit gelauert, um Tiamat endgültig zu öffnen. Die ganzen Probleme in der letzten Zeit gehen gewiss auf dein Konto. Meinst du nicht, dass es an der Zeit ist, die Lügenfassade aufzugeben und uns dein wahres Gesicht zu zeigen?«

»Was du siehst, ist mein Gesicht. Ich täusche dir nichts vor, und ich habe nie etwas getan, um dir, Anouk oder sonst einem Menschen zu schaden«, versicherte Sander ihm. In seiner Stimme schwang eine Trostlosigkeit mit, die mich verletzte. Er glaubte nicht daran, Jakob überzeugen zu können.

»Du stammst von der anderen Seite.« Jakob deutete mit dem Zeigefinger auf den Maelstrom. »Alles, was jemals von dort drüben zu uns gekommen ist, ist Salz und widerwärtige Ungeheuer. Genau das bist du – ein Ungeheuer. Somit ist es unwichtig, wie du aussiehst. Ich hätte mir schon viel früher eingestehen müssen, dass mit dir etwas nicht stimmt, etwa als du imstande warst, Erschütterungen im Kraftfeld wahrzunehmen, oder dass du die Besucher ohne weitere Schwierigkeiten aufspüren und vernichten konntest. Aber am ehesten hätte ich es an der Art erkennen müssen, mit der du Anouk seit einiger Zeit angesehen hast, mit diesem Hunger, den du nicht verschleiern konntest, egal, wie sehr du dich darum bemüht hast. Anstatt dich sofort in die Schranken zu weisen, habe ich mir eingeredet, du wärst ihr wie ein großer Bruder, aber in Wahrheit bist du nur ein Bestie auf der Jagd nach Beute.«

Das konnte ich mir unmöglich anhören. »Alles, was du gerade gesagt hast, ist falsch, Jakob. Ich verstehe, dass du aufgebracht bist, weil nicht nur Sander etwas für mich empfindet, sondern ich seine Gefühle erwidere. Das ist gewiss ein Schock für dich, und es wäre schön gewesen, wenn du es auf eine andere Weise erfahren hättest. Ich begreife auch, warum du aus der Tatsache, dass Sander das Tor unbeschadet durchschritten hat, falsche Schlüsse ziehst. Das liegt daran, weil du trotz deiner unermüdlichen Forschung nicht besonders viel über das Ewige Meer und über die Erweckung des Tors weißt. Aber wenn du Sander absprichst, er selbst zu sein, nachdem er nie etwas getan hat, das gegen dich oder einen anderen Menschen ging, dann reicht es.« Ich trat so dicht vor Jakob, dass ihm gar nichts anderes übrig blieb, als meinen Blick zu erwidern, was er offenbar nur ungern tat. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte ich höchstens beschwichtigend dazwischengehen dürfen, so, wie ich es ansonsten stets tat – aber diese Zeiten waren vorbei. »Ich bin kein Kind mehr, das man zu seinem Schutz anlügen muss, und ich lasse mich auch nicht länger beiseitedrängen und akzeptiere nicht mehr folgsam, dass du die Entscheidungen in diesem Haus allein triffst. Und was Sander und mich anbelangt … Das ist zuallererst unsere ganz private Angelegenheit.«

»So, glaubst du das?«

Ich erahnte die Gefahr, die hinter dieser Frage lauerte, doch ich schob es auf meine Angst, da ich meinen Vater so herausforderte. Darum setzte ich nach. »Ich bin mehr als verliebt in Sander, und daran wird sich nichts ändern, egal, was du sagst oder tust.«

Einige Herzschläge lang stand Jakob in sich versunken da, dann packte er mich hart am Unterarm und riss mich so plötzlich mit zum Kraftfeld, dass ich lediglich einen Schrei ausstieß. Aus den Augenwinkeln sah ich Sander lospreschen, doch es war zu spät. An der Seite meines Vaters durchkreuzte ich bereits den Nebel, dessen Berührung sich anfühlte, als habe Sander mich doch noch erreicht, als tanzten seine Fingerspitzen über meine Haut.

»Wachen!«, schrie Jakob, während er mich durch die Schleuse schubste. Meine Versuche, mich loszureißen, verpufften wirkungslos, mein Vater war mir nicht nur körperlich, sondern auch von seinen Reaktionen her überlegen. Und er schreckte in dieser Situation nicht davor zurück, mir wehzutun. »Wachen, es gibt einen Überfall, das Tor ist nicht länger geschlossen, Tiamat ist befreit!«

Die beiden in Schwarz gekleideten Männer, die sich hinter der Metalltür positioniert hatten, reagierten sofort und stürmten uns entgegen.

Panisch warf ich einen Blick über die Schulter und sah, wie Sander die Hand nach mir ausstreckte. »Anouk …«

Ich wich zurück. »Geh sofort zum Tor, Jakob will dich in eine Falle locken.« Als Sander trotzdem auf mich zuhielt, versetzte ich ihm einen Stoß gegen die Brust. »Geh!«

Im nächsten Moment schon drängte sich Jakob zwischen uns und deutete auf Sander. »Ergreift ihn, er ist durch das Tor gekommen und hat die Gestalt eines Menschen angenommen. Oder habt ihr ihn vielleicht durch die Schleuse gelassen? Natürlich nicht, denn er ist ein Geschöpf Tiamats, das uns alle ins Verderben reißen will.«

»Jakob, wie kannst du das tun?« Sander sah vollkommen geschockt aus, als könne er unmöglich glauben, dass er gerade ans Messer geliefert wurde. Obwohl es keine Schwierigkeit für ihn gewesen wäre, Jakob auszuschalten, stand er reglos da.

»Seht her!« Jakob zerrte den Ausschnitt von Sanders Shirt über dessen Schulter, ohne dass der sich auch nur wehrte. Die blauen Linien leuchteten im Dunkeln der Schleuse überirdisch auf. »Glaubt ihr mir jetzt?«

Mehr brauchte es für die Wächter nicht, um anzugreifen. Wie Schatten schossen sie durch die Schleuse, doch Sander wehrte den ersten problemlos ab und schickte ihn auf den Boden. Der andere Wächter wich nach einem kurzen Handgemenge zurück, zog eine Waffe und schoss ohne Vorwarnung. Sander fasste ungläubig an seine Seite, dann sackte er vornüber. Ich kämpfte darum, den Griff meines Vaters abzuschütteln, panisch, wie ein wildes Tier, aber es gelang mir nicht. Jakob hielt mich fester, als er es im Strudel getan hatte.

»Keine Sorge, es ist nur ein Betäubungsmittel«, erklärte der Wächter, der seine Schusswaffe wegsteckte und den zusammengesackten Sander auf den Bauch drehte. Vor Erleichterung gab ich meine Gegenwehr auf. »Der kommt schon wieder auf die Beine. Dieses Dreckspack ist erfahrungsgemäß nicht so leicht kleinzukriegen.«

»Schade«, sagte Jakob.

Ich sah zu meinem Vater, der mir in diesem Moment vollkommen fremd war, dann zu dem Wächter am Boden, der sich gerade fluchend aufrichtete und eine Plastikschlinge um Sanders Fußgelenke band, während sein Kollege die Waffe ansetzte und eine weitere Betäubungsladung auf Sander abgab, der nicht einmal mit einem Zucken reagierte. Ich fragte mich, ob ich die Kraft besaß, um an meinem Vater vorbeizukommen und dem Wächter die Betäubungswaffe zu entreißen, um sie alle miteinander außer Gefecht zu setzen. Aber ich kannte mich gut genug, um zu wissen, dass ich vermutlich nicht einmal an Jakob vorbeikommen würde. Also beugte ich mich vor und biss meinen Vater ins Handgelenk, bis er mich mit einem Schmerzensschrei freigab. Dann rannte ich los, so schnell mich meine Füße trugen. Durch das Kellergewölbe, wo sich mir ein beunruhigter Lutz anschloss, die Flure von Himmelshoch entlang, vorbei an überrumpelten Wächtern, hinaus zur Eingangstür und immer weiter.

Sie haben Sander in ihrer Gewalt!, schrie es unentwegt hinter meiner Stirn. Die Wächter haben ihn!

»Aber nicht mehr lange«, schwor ich mir.

TIAMAT – Liebe zwischen den Welten
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