21. Auftauchen
Tammo trat neben mir entspannt Wasser. »In etwa einer Stunde kommt Becks nach Hause. Ich will keinen Stress machen, ich sag’s nur, damit du Bescheid weißt. Und weil … Nun ja, sie hat mir deinetwegen gestern ein Loch in den Bauch gefragt und mir ernsthaft Ärger angedroht, falls ich es darauf anlegen sollte, dich – Zitat – zu benutzen. Richtig dramatisch.«
Ich hatte meine Unterarme auf den Backenrand gestützt und durchschnitt mit den Beinen das Wasser. »Das ist wirklich süß von ihr, Becks ist eine tolle Freundin – aber Sorgen sind in unserem Fall nun echt nicht nötig. Das zwischen uns … Also was immer das sein mag, mit Ausnutzen hat das, glaube ich, nichts zu tun.«
»Jedenfalls wäre ich dankbar, wenn meine ehrenwerte Schwester heute keine Gelegenheit finden würde, mir deswegen auf den Zahn zu fühlen. Und dann noch womöglich in deiner Gegenwart. No, thanks.«
»Soll ich mich besser aus dem Staub machen?«
»Was hältst du davon, wenn wir es gemeinsam tun?«
»Gern, nur habe ich deinen Kommentar von vorhin noch im Ohr, dass wir heute besser nicht noch einmal auf unser Glück setzen sollten, in dem wir uns in der Stadt blicken lassen. Und zu mir nach Hause können wir leider nicht.« Mit einem Bauchgrummeln dachte ich daran, dass, selbst wenn ich Besuch mit nach Himmelshoch bringen dürfte, uns entweder ein vor Eifersucht angriffslustiger Sander oder – noch schlimmer – mein Vater in Empfang nehmen könnte. Ob Jakob wirklich früher nach Hause kam, um nach mir zu sehen? Ich traute Sander durchaus zu, ihm etwas Entsprechendes unter die Nase zu reiben, denn je früher Jakob die Wacht übernahm, desto schneller konnte er los, um sich auszutoben. Oh ja, ich sollte möglichst bald aufbrechen.
Tammo tauchte für einen kurzen Moment unter, als könnte er dem Gefühl schwerlich widerstehen, vollkommen von Wasser umfangen zu sein. Als er wieder aufstieg, benetzte ein glänzender Film seine Haut, als wolle das Wasser sich nicht von ihm trennen, und das Haar lag so glatt an seinem Kopf, dass man die Form exakt erkennen konnte. In diesem Moment haftete ihm etwas Überirdisches an. Ein Wassermann aus einem Märchen.
»Warum können wir nicht zu dir nach Hause?«
Seine Stimme riss mich aus meiner Verzauberung. Da unternahm ich einen Ausflug in die Normalität und hatte nichts Besseres zu tun, als mir sofort etwas Verrücktes einzubilden.
»Wir können nicht zu mir, weil … Weil dort auch Sander wohnt. Du kennst Sander doch, oder?«
»Wer kennt ihn nicht? Dein Bruder ist bekannt wie ein bunter Hund und sieht auch so aus.«
»He, keine Sprüche über Sander, darauf reagiere ich allergisch.«
»Stimmt, ich erinnere mich. Es ist nur … Er ist ziemlich außergewöhnlich. Befürchtest du, er könnte sich wie dein Hund aufführen, wenn ich dich in euren vier Wänden besuchen würde? Mich anknurren und mir die Zähne zeigen oder so?«
Allein die Vorstellung, wie Sander auf Tammo reagieren würde, versetzte mich in Panik. »Die beiden sind sich ähnlicher, als du denkst. Das Einzige, das sie trennt, ist Lutz’ unerschütterliche Liebe zu Pansen. Obwohl ich mir nicht sicher bin, ob Sander die nicht auch verspürt, wenn er nur genug intus hat. Schließlich war er – gerüchteweise – nach einer halben Flasche Wodka auch imstande, in den Gartenteich der Schmidts zu klettern, auf der Suche nach Goldfischen fürs Sushi. Angeblich hat er live vorgeführt, dass Goldfische durchaus essbar sind. Darüber darf man gar nicht nachdenken.«
»Auf der Party war ich auch. Aber soweit ich mich erinnere, hat er keinen Fisch, sondern was von diesem Algenkram gegessen.«
»Klasse, das ist ja nur halb igitt.«
Mit einem Lächeln auf den Lippen schwamm Tammo auf mich zu und umfasste mein Bein am Unterschenkel. »Vorher hast du doch davon gesprochen, schwerelos auf dem Rücken zu treiben. Dass dir das gefallen würde. Wir haben zwar kein Salzwasser zu bieten, aber ich könnte dich halten, wenn du möchtest.«
Ich hörte in mich hinein. Wollte ich das? Schwerelos dahingleiten? Ja, jederzeit. Von Tammo gehalten werden? Ich zögerte. Da war sie wieder, diese mit absolut nichts zu begründende Zurückhaltung, obwohl alles wunderbar mit ihm war.
»Keine Sorge, ich lasse dich auf keinen Fall untergehen, wenn es das ist, wovor du dich fürchtest.« Seine andere Hand fuhr unter mein Schulterblatt.
Ich mochte seine Berührung. Den festen und doch sanften Griff, zu wissen, dass das Wasser in Bewegung geriet, weil er sich mir näherte, vermutlich schon so nah war, dass sein Oberkörper mich gleich streifen würde. Das war schön, ohne Frage.
»Ich halte dich«, versprach er.
»Weiß ich doch.«
»Und warum nimmst du dann nicht die Unterarme vom Beckenrand?«
Tja, warum eigentlich?
Bevor ich eine Antwort darauf fand, lenkte mich ein Räuspern ab.
Unisono blickten Tammo und ich zu der höher gelegenen Fensterfront.
Vor dem geöffneten Fenster hockte Sander auf seinen Fersen. Neben ihm stand Lutz, von der Schnauze bis zur Schwanzspitze stramm gespannt wie ein Flitzebogen.
»Es gibt so was wie eine Zehn-Sekunden-Frist.« Sanders kräftige Stimme hallte durch den Raum. »Wenn du ein Mädchen anfasst und sie deine Berührung nicht innerhalb von zehn Sekunden erwidert oder dich sonst wie ermutigt weiterzumachen, dann ist es höchste Zeit für einen Rückzieher. Nur so als Empfehlung, Tammo.« Sander schubbelte sein zerzaustes Haar. »’Tschuldigung übrigens, dass ich einfach in eure Privatparty reinplatze. Ich schwöre, ich habe geklingelt. Mehrmals. Aber offenbar hört man das hier unten nicht. Ist mir echt unangenehm.« Was wohl kaum stimmte, denn anstatt sich vom Acker zu machen, glitt er geschmeidig durch das Fenster und bedeutete Lutz, zu bleiben, wo er war. Lutz stieß ein empörtes Heulen aus, gehorchte aber.
»Hallo, Sander.« Tammo fand als Erster von uns beiden die Sprache wieder.
»Deine Hände sind ja immer noch an der falschen Stelle, Freibaum.«
Tammo warf mir einen entschuldigenden Blick zu, dann ließ er mich los.
Und ich wurde schlagartig stinksauer. »Sander«, knurrte ich, wobei ich meinen Kiefer kaum auseinanderbekam.
»Ja, genau, ich bin’s. Ich soll dich abholen, Befehl von Jakob. Der war nicht gerade begeistert, dass seine todkranke Tochter die Gegend unsicher macht, anstatt das Bett zu hüten. Deshalb würde ich vorschlagen, dass du dich augenblicklich in Bewegung setzt.« Dann blickte er nach oben, als habe er etwas Wichtiges vergessen, und fügte ein »bitte« hinzu.
»Sag mal, tickst du noch richtig?«
»Was für eine Frage. Ich habe noch nie richtig getickt. Soll ich dich aus dem Wasser ziehen? Nicht, dass du dir beim Rausklettern was brichst. Sport ist ja nicht so deins.«
Mit einer ungeahnten Kraft stemmte ich mich aus dem Becken und baute mich so bedrohlich vor Sander auf, wie man in einem Bikini eben bedrohlich sein kann. Zu allem Überfluss konnte ich unschwer an seiner Reaktion erkennen, dass das weiße Doppel entschieden zu spärlich ausfiel. In der einen Sekunde musterte er mich noch mit einer Eindringlichkeit, als sei ich eine himmlische Erscheinung, und in der nächsten waren seine Augen überall, nur nicht beim Mädel im Bikini.
»Wehe, du lässt auch nur einen einzigen Kommentar ab«, warnte ich ihn.
»Bin ja nicht lebensmüde.« Vorsorglich schob er die Brille ins Haar. »Hier muss es doch irgendwo Handtücher geben. Oder fallen die genauso winzig aus wie das Teil an dir?«
»Hör sofort mit dem Theater auf! Ich kann echt nicht fassen, was du angestellt hast.«
»Glaub mir, ich finde das Ganze auch nicht gerade lustig. Es ging aber nicht anders und genau darüber müssen wir reden.«
Reden? Der Kerl konnte froh sein, dass so rein gar nichts vom Kampftraining bei mir hängen geblieben war, ansonsten hätte er sich längst von seinem Kehlkopf und noch ein paar anderen Körperteilen verabschieden dürfen.
»Dann schieß mal los mit deinem Gerede und im Anschluss verschwindest du umgehend.«
»Exakt so sieht mein Plan aus: reden, abhauen. Aber jetzt ziehst du dir erst mal was über, sonst funktioniert das mit uns beiden nicht.«
Sander machte Anstalten, mich in Richtung Umkleide zu schieben, als er plötzlich innehielt und auf seine Hände blickte, mit denen er mich soeben berührt hatte.
Ich sah es auch. Das Wasser schimmerte auf den Innenflächen, als würde es vom Sonnenlicht bestrahlt.
»Unmöglich«, brachte ich hervor.
Sander verschwendete keine Zeit mit Reden.
Mit einem Sprung war er bei Tammo im Wasser.