28. Pausentaste
Irgendwie gelang es mir, die beiden Mädels, allem Widerstand zum Trotz, in Richtung Haustür zu treiben.
Ich schaffte es auch, Becks zu umarmen und sie zeitgleich über die Schwelle zu schieben, über die sie eigentlich gar nicht gehen wollte, die treue Seele.
Außerdem brachte ich es fertig, Laboes unverständliches Gerede über »einen fliegenden Monsterpopel« zu unterdrücken, indem ich sie äußerst hart am Arm packte und anzischte, dass ich ihr den besagten Popel bei nächster Gelegenheit ins Essen schummeln würde, wenn sie jetzt nicht sofort die Klappe hielt. Zu meiner Erleichterung hatte Becks kein Wort verstanden, weil Laboe mehr gelacht als geredet hatte.
Und steckte meinen Frust weg, obwohl kein einziger Entspannungskeks mehr übrig war und ich locker eine ganze Ladung davon vertragen hätte. Besonders als ich Lutz das in Sabberfäden getauchte Veränderdich entwand und es in ein Marmeladenglas sperrte, in dem dieses Flummiding eifrig Zickzacksprünge übte.
Nur der Gang in die Garage, der fiel mir schwer.
Durchatmen, ohne schlappzumachen – darauf kam es jetzt an, zumindest noch für einige Minuten, dann würde ich mich in einer Ecke verkriechen. Diese Aussicht hielt mich aufrecht, als ich den Anbau betrat, wo die Jungs sich auf Sanders Laptop einen Kung-Fu-Film im Original ansahen, den sie höchstpersönlich synchronisierten. Moritz sah so glücklich aus wie schon lange nicht mehr. Er grinste allem Anschein nach sogar, was wegen der Bartzotteln allerdings nicht so genau zu erkennen war. Sanders Gegenwart hatte auf ihn die gleiche grundentspannende Wirkung wie Grandmamas Kekse auf Becks.
»Hey, Anouk«, flötete Moritz. »Wagst du es, einen Fuß in die Höhle der Wilden Kerle zu setzen? Du Teufelsweib!«
Ich bemühte mich um ein anerkennendes Grinsen ob dieser flotten Ansprache, aber Moritz war schon wieder mit dem Film beschäftigt, in dem gerade eine lautstarke Auseinandersetzung auf Asiatisch stattfand. Ich tippte mal auf Chinesisch, schließlich kam Kung-Fu doch aus China, oder? Mit asiatischen Kampffilmen kannte ich mich genauso gut aus wie mit den Kampfkünsten selbst, da half auch ein halbes Leben unter einem Dach mit Sander nichts.
»Hör zu«, flüsterte ich Sander ins Ohr. »Ich brauche jetzt eine Auszeit. Eine echte Auszeit, in der ich mir die Decke über den Kopf ziehe und mir über nichts, wirklich rein gar nichts Gedanken machen muss. Deshalb versprich mir gefälligst, dass du in der Zwischenzeit die Füße stillhältst. Du wirst nicht einmal an einen Alleingang denken, um Tammos Geschichte zu überprüfen, verstanden?«
Sander rieb sein Kinn an den aufgestellten Knien und sah gebannt zu, wie sich zwei Typen in altmodischen Trainingsanzügen mit den Handkanten bearbeiteten, während sie einander frohgemut beschimpften.
»Sander?«
»Nicht dazwischenreden, Engelchen. Ich versteh ohnehin schon nix.«
Sehr witzig. Ich stellte mich vor den Laptop, der auf einer umgedrehten Getränkekiste stand.
Moritz sah mich übertrieben finster an und sagte etwas, das wie »Haijotto-Miau« klang.
»Bitte?«
»Das heißt ›Wenn die Tussi mit den Locken nicht sofort zur Seite geht, werde ich sie die Macht des Weißen Kranichs spüren lassen‹, übersetzte Sander mit ernster Miene. Dann seufzte er. »Einverstanden, ich beuge mich deinem Willen. Aber glaub ja nicht, dass dieser Trick allgemeingültig ist. Das nächste Mal werde ich dich wie einen ausgedienten Einrichtungsgegenstand in Richtung Sperrmüllsammlung schieben, wenn du dich zwischen mich und meinen Bildschirm stellst.«
Eine solche Aktion war ihm durchaus zuzutrauen, vor allem vor so einem verzückten Publikum wie Moritz.
»Wie schön, dass ihr zwei Irren euch gefunden habt. Wenn der Film vorbei ist, könnt ihr euch ja gegenseitig Kosenamen geben und eure Bruderschaft mit Ketchup besiegeln.«
»Haouwh«, ließ Moritz vernehmen.
Sander zuckte mit den Achseln. »Indianisch kann ich leider nicht.«
Dann schütteten sich die beiden vor Lachen aus, und ich trat schleunigst den Rückzug an, bevor sie noch auf die Idee verfielen, sich gegenseitig mit Chips zu bewerfen oder vor meinen Augen die Klamotten zu tauschen.
Nachdem ich verboten lange unter der Dusche gestanden und anschließend den Fön als Wärmequelle benutzt hatte, bis sich mein Haar vor lauter Trockenheit in Stahlwolle verwandelte, verkroch ich mich im Bett. Das Veränderdich im Marmeladenglas stellte ich auf den Nachttisch, obwohl sein Gezwitscher sogar durch das dickbauchige Gefäß zu hören war. Ich gab es zwar ungern zu, aber seine Laute gefielen mir – es klang so gut gelaunt und unbekümmert. Obwohl die Dämmerung gerade erst einsetzte, fühlte ich mich, als läge mein letzter Schlaf schon mindestens hundert Jahre zurück. Ich war quasi ein Negativ-Dornröschen. Und das augenberingte blasse Gesicht, das mir im Spiegel entgegengesehen hatte, bestätigte diese Vermutung in jeglicher Hinsicht.
Ich hatte mich gerade so richtig schön in meine Decke eingemummelt, als an der Außenseite meiner Tür gekratzt wurde. Nicht etwa mit einem Fragezeichen versehen, sondern mehr befehlsmäßig. Unwillig drehte ich mich auf die andere Seite, doch als Lutz auch noch zu heulen anfing, gab ich auf und ließ ihn in mein Zimmer. Die Zufriedenheit in Person beschnüffelte er erst das Marmeladenglas, in dem das Veränderdich plötzlich still dasaß, dann rollte sie sich auf dem Bettvorleger zusammen und begann noch im selben Moment zu schnarchen. Da konnte man glatt neidisch werden.
Zuerst dachte ich, ich würde niemals einschlafen. Mir tat jeder Knochen weh und mein Herz hämmerte lauter als ein Schlaghammer. Mein armer Körper war komplett adrenalinverseucht und rechnete fest damit, dass gleich etwas passierte und er wieder Vollgas geben musste. Die Gedanken kreuzten dauerhaft auf der Überholspur durch meinen Kopf, ließen sich weder sortieren noch abstellen. Und dann, mit einem Schlag, war ich weg. Tief und fest eingeschlafen. Für ein paar Minuten. Das dachte ich jedenfalls, als ich aufwachte und es draußen immer noch dämmerte. Ein Blick auf den Wecker zeigte allerdings, dass es halb sechs in der Früh war.
Überrascht setzte ich mich auf, dann kam das schlechte Gewissen wie ein Keulenschlag. Wie kannst Du in aller Seelenruhe schlafen, während deine Mutter auf der anderen Seite von Tiamat gefangen, Tammo nicht mehr Tammo ist und Sander sich mit seinen Sorgen allein herumschlägt?
Es war eine irrationale Reaktion, das war mir schon klar. Bei niemandem konnte das Leben innerhalb kürzester Zeit derartig auf den Kopf gestellt werden, und er funktionierte ungestört weiter wie ein Aufziehwerk. Trotzdem war ich mit einem Satz aus dem Bett, wobei ich Lutz beinahe den Schädel eintrat, was dieser – Gott sei Dank – verschlief. Sogar das Veränderdich lag zu einer blau glänzenden Pfütze geschmolzen da und gab sanft blubbernde Geräusche von sich.
In neuer Rekordzeit putzte ich meine Zähne, zog mir eine Strickjacke über und flitzte in die Garage, wo jedoch weder von Sander noch von Moritz eine Spur zu entdecken war. Stopp! Auf der Kiste, wo am Abend zuvor noch der Laptop gestanden hatte, lag ein Zettel, auf dem in Moritz’ Krakelschrift ein paar Zeilen standen.
Hallo Sempai,
wollt noch mal sagen, was für ein lässiger Abend das war, auch wenn ich plötzlich eingepennt bin. Sorry. Bin nach Hause, sonst bekommt meine Mutter einen Koller, vermutlich sucht sie schon den Fluss nach meinen Überresten ab. Bin ja irgendwie nicht ganz unschuldig an ihren Panikattacken, mal schaun, was ich künftig daran ändern kann. Du hast ja gesagt, dass du die nächsten Tage viel um die Ohren hast, aber dann meldest du dich doch wie verabredet, oder? Wäre jedenfalls cool, dann schauen wir uns diesen Hippie-Comicfilm über eine Katze an, von dem ich dir erzählt habe.
Hau rein, Moritz
PS: Du solltest deine Brille echt nicht überall rumliegen lassen. Als ich mich draufgesetzt habe, hat der Bügel leider was abbekommen. Passt ja zu deinem Look
Ungläubig starrte ich den Smiley an, den Moritz höchstpersönlich gezeichnet hatte, ohne dass ihn jemand mit einer Waffe in der Hand dazu gezwungen hatte.
Einen Smiley!
Zweifelsohne war am gestrigen Tag mehr ins Rollen gekommen, als ich mir in meinen kühnsten Träumen auszumalen gewagt hätte. Unser Moritz, den bis vor Kurzem noch das Leben an sich in die Knie zu zwingen drohte, malte Grinsegesichter und freute sich wie Bolle auf einen Filmabend. Die Zeile Wunder gibt es immer wieder stammte zwar aus einem Schlager, aber ich beschloss spontan, sie trotzdem in meinen Lebensregelvorrat aufzunehmen.
Vielleicht traf diese neue Regel ja auch auf meinen Fall zu, gebrauchen konnte ich es jedenfalls. Denn ich ahnte, wo Sander war. Ich raffte die Strickjacke am Ausschnitt zusammen und machte mich an den Abstieg in das Kellergewölbe unter Himmelshoch.