9. Abflug

Heute war wieder einer von diesen Tagen, an dem ich mit den Stöpseln meines MP3-Players in den Ohren auf dem Bett saß und mein Lieblingsalbum von Vienna Teng anwählte, um die Außenwelt auszublenden und in meinen Grübeleien zu versinken. Genau das brauchte ich, wenn ich die vergilbten Fotos von meiner Mutter in die Hand nahm, deren Anblick mir tief in die Brust schnitt.

Es tat weh, Madelin zuzusehen, wie sie mit mir als Kleinkind spielte und dabei den Eindruck machte, als sei sie glücklich, als würde es ihr unendlich viel bedeuten, sich von mir als Mini-Anouk mit Fingerfarbe vollschmieren zu lassen oder mich mit Heidelbeerkuchen zu füttern. Ich hatte die Fotos schon so oft betrachtet, dass sie an den Rändern ausgefranst waren, und wie immer fragte ich mich, ob meine Mutter eine hervorragende Schauspielerin oder eher eine Lügnerin war. Denn ihre zärtliche Art, dieses ganze Zugetansein, das war nicht echt gewesen. Wäre es echt gewesen, dann hätte sie mich niemals verlassen. Sie hätte mich mitgenommen, wohin auch immer sie gegangen war. So musste es sein. Wenn ich jedoch ihre strahlend blauen Augen und das liebevolle Lächeln sah, mit dem sie mich betrachtete, dann konnte ich es nicht glauben, sosehr ich mich auch darum bemühte. Madelin war und blieb ein Rätsel.

Während ich selbstvergessen dasaß, zupfte jemand einen Stöpsel aus meinem Ohr, sodass Vienna Teng plötzlich mono über eine verlorene Liebe sang.

Sander stand neben meinem Bett, mein Handy in der Hand. »Du solltest das Ding nicht rumliegen lassen. Lutz war kurz davor, es zu fressen, weil ihm das ewige Gepiepe auf den Nerv ging.«

Ich brauchte einen Moment, um mich zu fassen, denn seit unserem Selbstverteidigungstraining vor über einer Woche hatte Sander mich nicht eines Blickes gewürdigt. Die meiste Zeit war er ohnehin mit Tiamat beschäftigt gewesen, sodass ich weder ihn noch meinen Vater viel zu sehen bekommen hatte. Sollte mir recht sein, Ruhe war schließlich ein seltener Zustand in unserem Haus. Und so ertappte mich wenigstens auch niemand dabei, wie ich mehrmals am Tag auf den Dachboden schlich und auf die einsetzende Veränderung nach dem Besuch des Krakenmanns wartete, die sich jedoch nicht richtig einstellen wollte. An den Wänden hatte sich lediglich eine glasartige Schicht ausgebreitet, mehr nicht. Es war, als läge ein Dornröschenzauber über dem Herrenhaus.

»Hallo, findest du jetzt bitte mal zurück ins Hier und Jetzt? Komm schon, nimm das Teil endlich, da ist Hundesabber dran«, forderte Sander mich gereizt auf. Er machte einen abgekämpften Eindruck, als würden die Stunden beim Tor nunmehr ihren Preis fordern. »Es ist übrigens Laboe, niemand sonst bringt das Durchhaltevermögen auf, hier tausendmal hintereinander anzubimmeln.«

Trotz der Speichelfäden schnappte ich mir das Handy und kam lediglich dazu, »Hallo« zu sagen, dann sprudelte Laboe auch schon los.

»Gott, das hat ja Ewigkeiten gedauert! Ich habe deine Nummer angewählt und angewählt und … Na, und plötzlich habe ich Sander an der Strippe. Du willst gar nicht wissen, mit was für einem asozialen Spruch der Kerl mich begrüßt hat. Unfassbar. Aber egal, erzähl ich dir später. Jetzt musst du erst einmal deinen Hintern in Bewegung setzten und zu uns nach Hause kommen. Grandmama ist zu Besuch! Und sie hat zur Feier des Tages Champagner mitgebracht. Echten Champagner, stell dir das vor! Wir sind bereits beim Anstoßen, du musst dich beeilen, wenn du auch noch ein Glas abbekommen willst.«

»Wow!« Ich sah mich hektisch nach meinen Vans um. Laboe hatte recht, ich musste sofort los. Denn genauso unangekündigt, wie die alte Dame aufzutauchen pflegte, verschwand sie auch wieder. »Bin gleich da, ich fliege, also lass mir wenigstens einen Schluck übrig. Himmel, ich freue mich!« Ich drückte das Gespräch weg und stürzte zum Schreibtisch, um den Busfahrplan hervorzukramen. Laboes Familie lebte außerhalb von Marienfall auf einem Bauernhof mitten im Nirgendwo, weshalb die älteste Tochter pünktlich zum Führerschein ein eigenes Auto geschenkt bekommen hatte.

»Mist, der letzte Bus ist bereits weg«, stellte ich frustriert fest.

»Dann wird es wohl nichts mit dem Besuch.«

In der Aufregung hatte ich den unfreiwilligen Handy-Überbringer ganz vergessen.

Sander hatte sich auf mein Bett gesetzt und hielt eins der alten Fotos in der Hand. »Madelin sieht sehr jung aus, so habe ich sie mir nie vorgestellt«, sagte er mit einem schmerzlichen Lächeln. Bevor ich nachhaken konnte, legte er die Aufnahme zu den anderen und stand auf. Unter seinem Wangenknochen schimmerte ein Rest des Blutergusses, der sich nach meiner Attacke dort ausgebreitet hatte. »Laboes Grandmama ist also wieder einmal im Lande. Eine coole Lady. Was willst du jetzt machen?«

»Ich werde mit dem Fahrrad hinfahren, mir bleibt ja nichts anderes übrig.«

»Eine Fahrradtour, bei dem Wetter?«

Wie aufs Stichwort sahen wir gleichzeitig zum Fenster. Draußen regnete es dicke Tropfen, so dicht an dicht, dass es wie ein grauer Vorhang aussah. Dieses Frühjahr war definitiv nicht mein Freund.

»Das solltest du dir besser noch einmal überlegen«, schlug Sander vor. »Ruf Laboe an und sag ihr, dass sie dich mit ihrem Altmetallhaufen abholen soll.«

Nachdenklich kaute ich auf meiner Unterlippe herum. »Das möchte ich nicht, das Wiedersehen ist doch immer das Schönste, da will ich Laboe nicht von ihrer Familie wegholen.« Ich schnappte mir meine Sporttasche und stopfte Ersatzklamotten hinein, die ich nach den knapp vierzig Minuten mit dem Fahrrad auf jeden Fall brauchen würde.

»Es wird bereits dunkel draußen«, gab Sander zu bedenken.

Der Schauder bei dem Gedanken an die einsame Landstraße ließ sich nicht unterdrücken. »Ich leihe mir einfach das Blinklicht von Lutz’ Halsband aus, das hasst er ohnehin wie die Pest. Wenn ich das an meiner Kapuze festmache, übersieht mich schon keiner.«

»Wäre ja auch zu schade, wenn du der Horde Triebtäter, die am Straßenrand auf Beute lauert, entgehen würdest. Es ist wirklich verdammt einsam dort draußen.«

Sander verschränkte die Arme vor der Brust, sodass ich mir das Motiv auf seinem Shirt – ein obszön aufgepumpter Wrestler, der einen Totenkopf auf sein Gesicht gemalt hatte – nicht länger anschauen musste. Mal ehrlich, wer verkaufte bloß solche Scheußlichkeiten? »Ich fahr dich hin«, sagte er unvermittelt.

»Wie bitte?«

Nun zog Sander mir auch den zweiten Stöpsel aus dem Ohr. »Ich sagte, ich fahre dich hin, du taubes Huhn. Nachdem Jakob und ich ein paar Extraschichten zum Sichern des Tors geschoben haben, herrscht zurzeit Ruhe. Mit meiner Maschine brauchen wir höchstens zehn Minuten bis zum Hof der Laboes.«

»Einmal davon abgesehen, dass Papa dich durch den Fleischwolf dreht, wenn du Tiamat unbeaufsichtigt lässt, fahre ich lieber nackt auf dem Rad, als auf deine Höllenkiste aufzusteigen.«

»Okay, dann also nackt oder auf meiner Maschine, du hast die Wahl.«

»Das ist doch Quark, du besitzt ja nicht einmal einen zweiten Helm, weil du niemand anderen auf deinem heiß geliebten Bike duldest!«

»Besitze ich nicht? Wie gut du doch über mich Bescheid weißt.«

Ein paar Minuten später standen wir in der Garage vor Sanders pechschwarzer Suzuki Bandit. Im letzten Sommer hatte es einen riesigen Streit gegeben, weil er unbedingt für ein paar Wochen einen Nebenjob annehmen wollte, um dieses gebrauchte Motorrad zu kaufen. Zuerst hatte Jakob strikt seine Zustimmung verweigert, abends rechtzeitig zu Hause zu sein, damit Sander Pakete in der Nachtschicht beim DPD sortieren konnte. Schließlich hatte er jedoch eingelenkt, vermutlich weil Sander ansonsten anspruchslos war und dazu ohne Klagen sein halbes Leben im Keller verbrachte. So weit jedenfalls meine Theorie, warum Jakob nachgegeben hatte, obwohl er ansonsten absolut unnachgiebig war. Seitdem war Sander stolzer Besitzer dieses Chrommonsters, das er heiß und innig liebte und um das ich bislang einen Bogen gemacht hatte. Nicht, dass er mich auch nur einmal eingeladen hätte, eine Runde mit ihm zu fahren. Gott bewahre.

Mit vor Aufregung klammen Händen umfasste ich den Helm, den er aus einem Karton gefischt hatte. Das Teil wog schwer in meinen Händen und war genauso schwarz wie die Maschine. Ein wenig pikiert stellte ich fest, dass es ein kleiner Helm war, extra für Frauen. »Sind da vielleicht die DNA-Proben sämtlicher Tussis drin, die du nachts in irgendwelchen Clubs aufgetan und zu einer Spritztour eingeladen hast?«

»Klar, schließlich nehme ich alles, was ich kriegen kann.«

Gegen meinen Willen schnupperte ich am Innenfutter. »Der sieht nicht nur nagelneu aus, sondern der riecht sogar neu.«

»Ach ja?«

»Wirklich. Für wen hast du den gekauft? Raus mit der Sprache.«

Sander zog lediglich die Brauen hoch und hielt mir seine alte Lederjacke hin. Sein einziges Kleidungsstück, das nach etwas aussah. Okay, von den Vans an meinen Füßen und dem hellgrauen T-Shirt, das ich vor Kurzem beschlagnahmt hatte, einmal abgesehen. Und dem orange-schwarz geringelten Paar Socken, das er seit Ewigkeiten suchte … Glücklicherweise nicht in meinem Nachttisch, sie waren nämlich die besten Schlafsocken, die ich je gehabt hatte. Na, gut, sein Totenkopfhalstuch war ebenfalls heimlich in meinen Besitz übergegangen, aber er sah damit auch nicht halb so schick aus wie ich.

Nachdenklich wog ich die Lederjacke in meiner Hand.

Ganz schön schwer.

Aus irgendeinem mir unerklärlichen Grund hatte Sander bislang auch keine für ihn typischen Verschlimmerungen wie Anstecknadeln, Buttons oder Geschmiere mit Leuchtstiften vorgenommen. Es war einfach eine abgetragene Lederjacke, die mir drei Nummern zu groß war. Das änderte jedoch nichts daran, dass es sich unheimlich gut anfühlte, sie zu tragen. Vielleicht bekam ich ihn dazu, sie mir gelegentlich einmal auszuleihen. Notfalls ohne sein Wissen.

»Und du, was willst du bei dem Sauwetter anziehen, damit du dir nicht den Tod holst?«

Sander zupfte an der zerschlissenen Kapuzenjacke, die er sich übergezogen hatte. Als ich ungläubig den Kopf schüttelte, grinste er lediglich. »Ich friere nicht so schnell. Und jetzt Beeilung, sonst liegen die Laboes bereits in den Betten, wenn wir ankommen.«

Stumm zeigte ich auf den Sitz des Motorrads.

»Ja, mein Kind, genau da wirst du dich draufsetzen, und zwar hinter mich. Und dann schön festhalten.«

»Das weiß ich, du Clown. Ich meine deine Brille, die liegt da. Nicht, dass du sie mit deinem Allerwertesten platt machst. Außerdem möchte ich, dass du sie für die Fahrt trägst, auf der Nase und nirgendwo sonst.«

Mit einem verlegenen Räuspern setzte Sander die Brille auf, dann öffnete er das Garagentor. Ein eisiger Wind wehte herein, sodass ich eiligst in die Lederjacke schlüpfte, die mir bis zu den Oberschenkeln reichte. Wahrscheinlich sah ich ganz schön albern aus, aber wenigstens konnte ich meine Hände in den Ärmeln verstecken.

»Ist es wirklich eine gute Idee, bei diesem Wetter Motorrad zu fahren?«

»Der reinste Selbstmord«, sagte Sander, dann setzte er seinen Helm, den Comic-Alien-Aufkleber zierten, auf und zog mich hinter sich auf den Sitz.

Mir verschlug der Lärm, den das Motorrad beim Start machte, den Atem. Es wurde auch nicht besser, als ich meine Arme um Sanders Taille schlang und mich so fest wie möglich an ihn presste. Falls ihn die Nähe störte, beschwerte er sich zumindest nicht. Es war auch möglich, dass er meine Beunruhigung wahrnahm und ausnahmsweise davon absah, mich auf Abstand zu halten. Aber es war nicht nur Angst, die mich angesichts der rasant vorbeiziehenden Straßenlichter überkam, als Sander viel zu schnell fuhr. Auch nicht der Fahrtwind, der an mir riss und zerrte, sodass ich bei jeder Kurve befürchtete, gleich den Halt zu verlieren. Es war ein mir bislang unbekannter Aufruhr in meinem Inneren, der mich die Furcht vor der Geschwindigkeit fast vergessen ließ. Widerwillig gestand ich mir ein, dass ich mich auch dann an Sander gedrängt hätte, wenn er nur halb so schnell gefahren wäre.

TIAMAT – Liebe zwischen den Welten
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